eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 80/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2011.art23d
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„...Moses, Mohammed, die waren alle da“ - Kunst- und Geschichtsbewusstsein: Die historischen Motive von Rohullah Kazimi. Ein Künstler mit Assistenzbedarf

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Frederik Poppe
Oliver Musenberg
Geschichtlichkeit und Kulturalität sind Begriffe einer pädagogischen Anthropologie, die lange Zeit nicht auf Menschen mit (kognitiver) Behinderung bezogen wurden. Menschen mit kognitiver Behinderung wurde Geschichtslosigkeit unterstellt, und auch das kreative Schaffen von Künstlern mit Assistenzbedarf wurde als jenseits der Kultur stehend, als pure Innerlichkeit verstanden. Anhand der Bildnerei des Künstlers Rohullah Kazimi setzt sich der Beitrag mit dem Verhältnis von Kunst und Geschichtsbewusstsein auseinander.
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Fachbeitrag VHN, 80. Jg., S. 310 - 318 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art23d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 310 themenstrang künstlerische Bildung „… Moses, Mohammed, die waren alle da“ - Kunst- und Geschichtsbewusstsein: Die historischen Motive von Rohullah Kazimi. Ein Künstler mit Assistenzbedarf Frederik Poppe Oliver Musenberg Universität Leipzig Humboldt-Universität zu Berlin n Zusammenfassung: Geschichtlichkeit und Kulturalität sind Begriffe einer pädagogischen Anthropologie, die lange Zeit nicht auf Menschen mit (kognitiver) Behinderung bezogen wurden. Menschen mit kognitiver Behinderung wurde Geschichtslosigkeit unterstellt, und auch das kreative Schaffen von Künstlern mit Assistenzbedarf wurde als jenseits der Kultur stehend, als pure Innerlichkeit verstanden. Anhand der Bildnerei des Künstlers Rohullah Kazimi setzt sich der Beitrag mit dem Verhältnis von Kunst und Geschichtsbewusstsein auseinander. Schlüsselbegriffe: Kunst, Geschichte, Geschichtsbewusstsein, geistige Behinderung, Bildung “… Mose, Mohammed, They All Were Here” - Art and Historical Awareness. The Historical Themes of Rohullah Kazimi. An Artist in Need of Assistance n Summary: For a long time historicity and culturality as two concepts of an educational anthropology were not associated with people with (cognitive) disabilities. Mentally disabled individuals have been considered to be humans with no history. The creative work of artists in need of assistance was understood as a process beyond culture, as pure inwardness. Based on the artistic representations of Rohulla Kazimi, the authors focus on the relationship between art and historical awareness. Keywords: Art, history, historical awareness, mental disability, education 1 Art Brut und Outsider Art Rohullah Kazimi arbeitet im Hamburger Künstleratelier „Die Schlumper“ (www. schlumper.de). Er malt, zeichnet und illustriert vornehmlich geschichtliche und gesellschaftspolitische Ereignisse. Während das kreative Schaffen von Künstlern mit Assistenzbedarf bereits in kulturwissenschaftlichen, kunstgeschichtlichen und heilpädagogischen Diskursen sichtbar geworden ist (vgl. Schuppener 2005; Großwendt/ Theunissen 2006), findet die theoretische wie empirische Thematisierung von Geschichtsbewusstsein bislang ohne Berücksichtigung von Menschen mit kognitiver Behinderung statt. Ausgehend von einer kurzen biografischen Skizze und einer exemplarischen Beschreibung der künstlerischen Tätigkeit Kazimis setzen wir uns im Folgenden mit möglichen Schnittstellen von Kunst und Geschichtsbewusstsein auseinander und fragen nach Konsequenzen für die Bildung von Menschen mit kognitiver Behinderung. Lange Zeit wurde Menschen mit kognitiven Behinderungen künstlerisches Talent und kreatives Schaffen abgesprochen. Als Hans Prinzhorn 1922 „Die Bildnerei der Geisteskranken“ publizierte, war die Behauptung, Menschen mit psychischen Krankheiten könnten Kunstwerke hervorbringen, ein Angriff auf das Weltbild sei- VHN 4/ 2011 311 Kunst- und Geschichtsbewusstsein: Rohullah Kazimi, ein Künstler mit Assistenzbedarf ner Fachkollegen (vgl. Presler 1980; Tügel 2003). Bildnerisches Gestaltungspotenzial sei prinzipiell in jedem Menschen vorhanden (vgl. Prinzhorn 1922), auch die Arbeiten von Klinikinsassen ragten oft „weit in den Bereich ernster Kunst“ (Prinzhorn 1922, 349) hinein. Dieses Buch weckte das Interesse vieler Künstler, wie z. B. Paul Klee, Max Ernst und Paul Eluard (vgl. Thévoz 1997) sowie auch des Malers Jean Dubuffet, der 1948 die „Compagnie de l’Art Brut“ gründete. Die Anerkennung der Bildnerei von Menschen mit psychischen Krankheiten und etwas später auch von Menschen mit kognitiven Behinderungen nahm fortan stetig zu. Der von Dubuffet geprägte Begriff Art Brut wird mit „roher“, „wilder“, „unverbildeter“ und „außerkultureller“ Art der künstlerischen Auseinandersetzung übersetzt. Nach Dubuffet verbinden Künstler der Art Brut die Distanz vom kulturellen Milieu und eine antiakademische Arbeitsweise. Die Kunst würde frei von gesellschaftlichen Einflüssen - von innen heraus - geschaffen (vgl. Franzke 1990; Thévoz 1980). Roger Cardinal erweitert den Begriff 1972 zu „Outsider Art“ und fasst unter dieser Bezeichnung Künstler aus verschiedenen gesellschaftlichen Randgruppen zusammen. Im Gegensatz zu kunstgeschichtlichen Epochen oder Strömungen des 20. Jahrhunderts - wie Futurismus, Kubismus oder Surrealismus - orientiert sich Cardinal mit „Outsider Art“ am Sozialstatus des Menschen (vgl. Rexer 2005). Viele Künstler, die diesen Bereichen der Kunst - „Art Brut“ oder „Outsider Art“ - zugerechnet werden, haben aufgrund von Krankheiten oder Behinderungen Assistenzbedarf 1 . Assistenten schaffen den Rahmen für künstlerisches Arbeiten, sie unterstützen die Künstler technisch oder inhaltlich, sind Schnittstelle zum Kunstmarkt und assistieren mitunter auch im pflegerischen Bereich. Im vorliegenden Artikel wird daher der Begriff „Künstler mit Assistenzbedarf“ verwendet, der auf der Fachtagung „Show Up! “ 2007 in Hamburg geprägt wurde 2 (vgl. Poppe 2007). Einer dieser Künstler mit Assistenzbedarf ist Rohullah Kazimi. 2 Rohullah Kazimi - ein Künstler mit Assistenzbedarf Kazimi wurde 1987 in Kabul geboren, als noch sowjetische Truppen in Afghanistan stationiert waren. Im sowjetisch-afghanischen Krieg hatte das Land eineinhalb Millionen Todesopfer zu beklagen. Der Abzug der Truppen 1988/ 89 brachte aber nicht den erhofften Frieden, sondern führte zu erneuter politischer Instabilität und mündete schließlich in einen Bürgerkrieg (Länder-Lexikon 2010). Die Familie des stark traumatisierten Jungen flüchtete wie Millionen andere afghanische Familien 1989 ins Ausland. Kazimi emigrierte nach eigenen Angaben in den Iran, wo seine Schwester einen in Deutschland lebenden Afghanen heiratete. 1992 verließ die Familie erneut das Land: Kazimis Onkel organisierte die Einreise in die usbekische Hauptstadt Taschkent, wo Rohullah das erste Mal eine Schule besuchte, nach kurzer Zeit aber Abb. 1: Rohullah Kazimi: Selbstporträt, 2009, Farbstift auf Papier. Foto: © Freunde der Schlumper e.V. VHN 4/ 2011 312 Frederik Poppe, Oliver Musenberg wieder rausflog, wie er es formuliert. Als Grund für den Abbruch werden unter anderem die mangelnden usbekischen Sprachkenntnisse genannt. 1995 ziehen Kazimi und seine Mutter zur inzwischen in Deutschland lebenden Schwester und deren Mann. Der Rest der Familie siedelt später ebenfalls nach Hamburg über. Bereits als Kind wohnte Kazimi nicht mehr bei seiner Familie, sondern in einer betreuten Jugendwohngruppe. Eine kognitive Behinderung wurde diagnostiziert; er besuchte zunächst eine allgemeine Schule und wechselte nach kurzer Zeit an eine Schule für Geistigbehinderte. 2008/ 09 durchlief er den Berufsbildungsbereich des Ateliers „die Schlumper“, wo er seit 2010 als festangestellter Künstler arbeitet. Kazimi zeichnet und illustriert vornehmlich geschichtliche und gesellschaftspolitische Ereignisse. Seine Vorhaben plant er über einen Zeitraum von vielen Monaten penibel genau, wofür er detaillierte Konzepte und Listen anfertigt. Angetrieben von einem starken Ehrgeiz zur Optimierung seiner Zeichentechniken, entwickelt er diese durch die Lektüre von Fachbüchern und die Belegung von Wochenendkursen an der Volkshochschule fortwährend weiter. Im Atelier benötigt der junge Künstler vor allem Assistenz dabei, den Überblick über seine Vorhaben zu bewahren. Ansonsten läuft er Gefahr, sich zu verzetteln und seine Pläne nicht realisieren zu können. Für Kazimi ist Ordnung wichtig - um sie aufrechtzuerhalten, benötigt er Unterstützung in Form von quantitativer Begrenzung. Bei seiner Arbeitsweise stellt dies eine große Herausforderung dar: Der Künstler hat bereits drei komplett illustrierte Bände erstellt, die nicht weniger als die gesamte Menschheitsgeschichte aus seiner Sicht beinhalten. Die insgesamt mehr als 200 Seiten umfassenden Illustrationen enden dabei nicht in der Gegenwart, sondern reichen bis in die Zukunft hinein. Science-Fiction- Elemente und Utopien sind im gesamten Werk zu finden. Als einer der wenigen Künstler mit Assistenzbedarf sucht Kazimi zudem den permanenten inhaltlichen Austausch mit seinem Umfeld. Für seine Themen sind umfangreiche Recherchen notwendig. Die Impulse dafür setzt der Künstler, für die Materialbeschaffung (Bücher, Internet usw.) benötigt er Unterstützung. Kazimis Arbeiten sind zumeist Text-Bild-Kompositionen, wofür das Paraphrasieren von recherchierten Texten notwendig ist. Da es ihm schwer fällt zu unterscheiden, welche Teile eines Artikels die Kernaussagen beinhalten, lesen Künstler und Assistent die Texte gemeinsam und grenzen ein, was für seine Arbeit wichtig ist. Innerhalb der nächsten zwei Jahre will der Künstler ein Traumtagebuch, eine illustrierte Autobiografie sowie eine künstlerische Zusammenstellung von deutschen Städten, die Teil des Weltkulturerbes sind, realisieren. Abb. 2: Rohullah Kazimi: Der Tempelberg von Jerusalem und Gral und Orakel, Freimaurer, König Salomon, Jesu, Moses, Mohammed, die waren alle da, 2009, Farbstift auf Papier, 90 x 180 cm, (Ausschnitt). Foto: © Freunde der Schlumper e.V. VHN 4/ 2011 313 Kunst- und Geschichtsbewusstsein: Rohullah Kazimi, ein Künstler mit Assistenzbedarf Die illustrierten Bücher zur Geschichte der Menschheit beginnen mit einer Zeitreise, bei der zwei Kinder ein UFO besteigen und in die Vergangenheit reisen. Fortan nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Kazimi dokumentiert Aufstieg und Fall von Zivilisationen, neue Erfindungen und Errungenschaften, aber auch kulturelle Entwicklungen sowie kunstgeschichtliche Ereignisse und Werke (z. B. Leonardo da Vincis Mona Lisa). Doch er bleibt nicht bei einer reinen Dokumentation: er integriert seiner Phantasie entsprungene Wesen und Ereignisse. So kämpfen am Tempelberg von Jerusalem beispielsweise zwei Kreuzritter mit einem siebenköpfigen feuerspeienden Wesen. Einer der Kämpfer rückt dem lila-grünen Ungeheuer zu Pferd mit einer Lanze bewaffnet zu Leibe, während der andere sein Schwert bereit hält. Phönix - geschmückt mit Pfauenfedern - umrahmt die Tempelanlage auf der rechten Bildseite. Sowohl die Kreuzsymbole als auch der Bildtitel lassen religiöse Einflüsse klar erkennen. Die Komposition ist flächig gehalten und erinnert in ihrer Bildsprache an Comics. Die Farbflächen sind klar umgrenzt, der Auftrag ist gleichmäßig und deckend. 3 Fakten und Fiktion Kazimi verbindet in seinen Bildern historische Ereignisse mit individuellen Ergänzungen und Science-Fiction-Elementen. Nimmt man die Begriffe Kunst und Geschichte und stellt diesen die Begriffe Faktizität und Fiktionalität gegenüber, so scheint sich zunächst folgende Zuordnung aufzudrängen: Kunst korrespondiert in erster Linie mit dem Fiktionalen, während Geschichte aus synchron und diachron geordneten historischen Fakten besteht. Ganz so eindeutig liegt die Sache jedoch nicht - Kunst kann sich selbstverständlich auf Fakten beziehen und diese ver- und bearbeiten. Aber auch die Geschichtswissenschaft ist von einer permanenten Reflexion darüber bestimmt, was denn als historische Wahrheit gelten könne. Die Debatte um die Wahrheit der Geschichte hat spätestens mit dem Erscheinen von Hayden Whites „Metahistory“ (1991, im Original erschienen 1973) neuen Schwung bzw. Verunsicherung erfahren: Der Geschichte wird hier - und darin besteht heute durchaus Konsens - ein nicht hintergehbares, narratives Moment zugeschrieben. Das bedeutet, dass Vergangenheit erst dann zu Geschichte wird, wenn einzelne Ereignisse der Vergangenheit zu einer kohärenten Ereignisfolge und somit zu einer Geschichte verdichtet, also erzählt werden. Dieses Erzählen von Vergangenheit ist zwar an historische Ereignisse und Quellen gebunden, bleibt aber bei allem Bemühen um die Rekonstruktion historischer Wahrheit immer auch eine standortgebundene Konstruktion der historisch Erzählenden (sei dies ein Kind, das von einer zurückliegenden Klassenfahrt berichtet, oder der Historiker, der anhand einer Fragestellung bestimmte Quellen auf bestimmte Weise befragt). Um trotz des narrativen Charakters von Geschichte deren Wahrheitsgehalt beurteilen zu können, hat sich in der Geschichtswissenschaft der von Rüsen eingeführte Begriff der Triftigkeit etabliert (vgl. Rüsen 1983). Es muss sich also anhand bestimmter Kriterien prüfen lassen, welche Geschichte triftiger ist als eine andere. Ansonsten stünden die Arbeiten des Historikers, der z. B. akribisch Quellen der Judenverfolgung auswertet, gleichberechtigt neben der Darstellung des Holocaust-Leugners. Während sich also Geschichte eine Prüfung ihrer Triftigkeit gefallen lassen muss, so sie den Anspruch einer intersubjektiv nachvollziehbaren und quellenbasierten Aussage aufrechterhalten will, unterliegt die Kunst keineswegs dieser Bringschuld. Kazimi „sammelt“ historische Ereignisse, ist um eine chronologische Reihung bemüht und schafft eigene, bildnerische Erzählungen. 4 Kunst und Geschichte: Anerkennung der Historizität Bis in die jüngste Vergangenheit wurden Menschen mit kognitiver Behinderung im Kontext der Kunst wie auch der Geschichte als quasi VHN 4/ 2011 314 Frederik Poppe, Oliver Musenberg akulturelle und ahistorische Wesen betrachtet. So wurde das gelebte Leben von Erwachsenen und alten Menschen mit kognitiver Behinderung auch von Fachleuten oft ignoriert und ein Personenkreis konstruiert, der lebenslang Kind bleibt. Aber nicht nur die biographische Geschichtlichkeit wurde ausgeblendet, sondern ebenso die Historizität der Lebenswelt. Anders ist die zumindest bis heute äußerst marginale Thematisierung historischer Bildungsangebote für Menschen mit kognitiver Behinderung nur schwer zu erklären: Die sonderpädagogische Betonung der Notwendigkeit lebenspraktischer Bildung in Verbindung mit der Vorstellung der „Gegenwartsgebundenheit“ (vgl. Lindmeier 2004, 18) ihrer Adressaten hat dazu geführt, so unsere These, dass historische Bildungsangebote nur sporadisch auftauchen und eine theoretische wie empirische Beschäftigung mit dem Geschichtsbewusstsein in der Disziplin vollständig fehlt (vgl. Musenberg/ Pech 2011). Allerdings ist innerhalb der Erwachsenenbildung seit Kurzem die Tendenz erkennbar, auch historische Themen, die über den biographischen Rahmen der Adressaten hinausgreifen, im Rahmen von Bildungsangeboten zu erschließen (vgl. z. B. George 2008 und das Themenheft 2 [2008] der Zeitschrift „Erwachsenenbildung und Behinderung“). Auch die Anerkennung der Kunst von Menschen mit psychischer Erkrankung oder kognitiver Behinderung ging oftmals einher mit der Aberkennung ihrer Historizität und Kulturalität: Das künstlerische Schaffen wurde als besonders intuitiv, unverbildet, wahr oder direkt und als „unberührt von der kulturellen Kunst“ (Dubuffet zit. n. Theunissen 2006, 39) beschrieben. Es wurde unterstellt, dass diese Kunst einzig der Innerlichkeit ihrer Schöpfer entspringt, quasi autonom und unabhängig von gesellschaftlichen Diskursen (vgl. Thévoz 1980, 71). Theunissen hat mehrere Argumente zusammengetragen, die einer solchen Ansicht widersprechen (vgl. Theunissen 2008, 30f.), und gerade die Arbeiten von Kazimi liefern ein Beispiel dafür, dass die Kunst durchaus auch weniger affektivspontanen Impulsen folgt. Sie kann durch langfristige Planung und intensive Recherche gekennzeichnet sein und explizit historisch-gesellschaftliche Bezugspunkte aufweisen. Im Rahmen der Thematisierung von Kunst und Geschichtsbewusstsein im Kontext kognitiver Behinderung geht es eben nicht nur darum, dass die Bildnerei „in der Regel ohne biographische, situative und sozio-kulturelle Kenntnisse schwer zu verstehen bzw. zugänglich“ (Theunissen 2008, 31) ist, sondern dass Künstler mit Assistenzbedarf selbst historisch-gesellschaftliche Themen aufgreifen und bearbeiten - auch solche, die vor ihrer eigenen Lebenszeit liegen. 5 Geschichtsbewusstsein und kognitive Beeinträchtigung Der Begriff „Geschichtsbewusstsein“ bildet heute die Schnittstelle dreier disziplinärer Perspektiven: Erstens wird der Begriff in der Historik als grundlegender kognitiver Prozess verstanden, der die Matrix historischen Denkens bildet (vgl. Rüsen 1996), sei es beim alltäglichen Blick in die Vergangenheit oder beim Verfolgen einer wissenschaftlichen Fragestellung in der Geschichtswissenschaft. Zweitens hat sich der Begriff in den vergangenen dreißig Jahren zum zentralen Fachterminus der Geschichtsdidaktik entwickelt. Seitdem geht es, zumindest in der geschichtsdidaktischen Theorie, nicht mehr um das Anhäufen historischen Wissens durch Unterricht, sondern um die Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins (vgl. Rüsen 1983; Pandel 1987; von Reeken 2004; von Borries 2008), zunehmend auch unter Einbeziehung frühen historischen Lernens in der Grundschule (vgl. Schreiber 2004) und unter Rückgriff auf ein kompetenzorientiertes Theoriemodell (Körber u. a. 2007), das auch dem bildungspolitischen „Willen zur Outputorientierung“ Rechnung zu tragen versucht. Und drittens ist Geschichtsbewusstsein (historical consciousness) ein auch international zentraler Begriff in der narrativen Psychologie, die sich mit historisch-narrativen, also er- VHN 4/ 2011 315 Kunst- und Geschichtsbewusstsein: Rohullah Kazimi, ein Künstler mit Assistenzbedarf zählenden Sinnbildungsprozessen beschäftigt (vgl. Straub 1998). In diesen Disziplinen wird das Geschichtsbewusstsein als komplexer und anspruchsvoller kognitiver Prozess verstanden. Dementsprechend konzentrieren sich die meisten empirischen Untersuchungen zum Geschichtsbewusstsein auf das Jugendalter (vgl. Kölbl 2004). Durch die kritische Revision der Geltungsansprüche entwicklungstheoretischer Annahmen (vgl. Roth 1962; Schaub 2004) ist jedoch in den vergangenen Jahren auch das historische Lernen von Kindern verstärkt thematisiert worden - Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen finden darin bislang aber nur ansatzweise Berücksichtigung (vgl. Barsch 2001; Seitz 2005; George 2008; Musenberg/ Pech 2011). Zudem wird durchaus auch Kritik an einer möglichen kognitiven Verengung historischen Denkens laut; so bezieht z. B. Kölbl (2004) alle möglichen Formen und „latente Dimensionen“ (24) historischer Sinnbildung in sein Verständnis von Geschichtsbewusstsein ein. Somit hat hier auch der ästhetisierende Umgang mit Geschichte seinen Platz. Rohullah Kazimi verarbeitet in seiner Kunst Geschichte und überführt diese in individuellästhetische Darstellungen. Da es sich bei der Arbeit von Kazimi aber eben um Kunst und nicht um Geschichtswissenschaft handelt, können auch keine fachspezifischen Kriterien der Geschichtswissenschaft zur Beurteilung seiner Arbeiten verwendet werden. Oder anders formuliert: Im geschichtswissenschaftlichen und geschichtsdidaktischen Kontext muss kritisch gefragt werden, wie viel Fiktion unser Geschichtsbewusstsein verträgt (vgl. Pandel 1996). So müssen z. B. im Geschichtsunterricht eingesetzte Materialien dahingehend überprüft werden, ob das Verhältnis von realen und fiktiven (Erzähl-)Momenten geklärt ist (vgl. Musenberg/ Pech 2011). Und die seit einigen Jahren zur „Prime Time“ gesendeten historischen „Dokutainments“ müssen ebenso z. B. hinsichtlich der Ästhetisierung der dargestellten Geschichte kritisch hinterfragt werden (vgl. Näpel 2003). Die Kunst hingegen ist frei. Dennoch lässt sich pauschal behaupten, dass die Arbeiten von Kazimi etwas mit seinem Geschichtsbewusstsein zu tun haben: Er arbeitet mit chronologisch geordneten Daten, und er verbindet im Sinne Jeismanns (vgl. Jeismann 1980) Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive miteinander und lässt somit seine Kunst unter Beteiligung eines recht elaborierten Geschichtsbewusstseins entstehen. Die von Kazimi (mit Assistenz) recherchierten historischen Ereignisse und Erzählungen werden in neuer Form zur Darstellung gebracht. Es geht hier also weder um das Erzählen und Rekonstruieren völlig neuer Geschichten (z. B. anhand neuen Quellenmaterials oder neuer Fragestellungen) noch um eine kritische Dekonstruktion vorhandener historischer Erzählungen, sondern um die künstlerische Rekonstruktion und Darstellung vorgefundener Geschichten. Kazimis Verfremdungen in Ästhetik und Inhalt haben einen stark expressiven Charakter. Diese Technik des Reduzierens und Kontrastierens setzt er nicht bewusst als Stilmittel ein, sie entspringt vielmehr der besonderen Wahrnehmung des Künstlers. Die Ästhetik seiner bildnerischen Erzählungen ist aufgrund dieser speziellen Umsetzung eine Bereicherung für die künstlerische Auseinandersetzung mit geschichtlichen Ereignissen. 6 Geschichte als Bildungsaufgabe In Bezug auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit kognitiver Behinderung hat sich lange die Vorstellung gehalten, dass sie ausschließlich im Hier und Jetzt leben und aufgrund ihrer vermeintlichen „Gegenwartsgebundenheit“ (vgl. Lindmeier 2004, 18) von historischen Bildungsangeboten nicht profitieren können und dass folglich die notwendige lebenspraktische Ausrichtung von Bildungsangeboten eine Beschäftigung mit historischen Themen nicht sinnvoll erscheinen lässt. Diese curriculare Diagnose wird auch durch einen Blick in die Bildungspläne für den Förderschwerpunkt geistige VHN 4/ 2011 316 Frederik Poppe, Oliver Musenberg Entwicklung der Bundesländer gestützt, die Geschichte nur sehr beiläufig thematisieren. Somit ist Klauß und Lamers (2010) zuzustimmen, wenn sie Bildung für Menschen mit kognitiver Behinderung als noch unvollständig eingelöstes Menschenrecht bezeichnen. Diese grundlegende Einschätzung bleibt auch dann zutreffend, wenn man berücksichtigt, dass mittlerweile in der Erwachsenenbildung durchaus historische Themen angeboten werden und auch in der Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ab und zu Geschichte zum Thema wird. Wenn hier für einen fachorientierten Blick (Kunst, Geschichte) argumentiert wird, so geht es nicht darum, den durchaus innovativen lebenspraktischen (handlungs- und projektorientierten) Zuschnitt des Unterrichts durch eine atomisierte Fachstruktur auszutauschen. Es geht aber sehr wohl darum, lebenspraktische Verkürzungen von Bildung kritisch zu reflektieren und wesentlich intensiver fachdidaktische Impulse im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung aufzunehmen (vgl. Ratz 2011), um auf diesem Wege nicht zuletzt auch Anschlussmöglichkeiten für inklusive Bildung eröffnen zu können (vgl. Riegert/ Musenberg 2010). Tatsächlich laufen Menschen mit kognitiver Behinderung aufgrund innerer wie äußerer Isolation (vgl. Rohrmann 2000) Gefahr, quasi außerhalb historischer und kultureller Diskurse zu leben. Eine umfangreiche Bestandsaufnahme des Verhältnisses von Kunst und Geschichtsbewusstsein bei Menschen mit kognitiven Behinderungen könnte eine Grundlage für die Schaffung von Bildungsangeboten in der Schule und im Kontext der Erwachsenenbildung darstellen. Anmerkungen 1 Darüber hinaus umfasst der Personenkreis Künstler, die außerhalb des Kulturbetriebs - oft abgeschieden und unter ungünstigen Bedingungen - Kunstwerke produzieren, z. B. Inhaftierte, Landarbeiter, Obdachlose. 2 Vortrag Poppe, Frederik: „Interaktion zwischen Künstlern mit Behinderung und ihren Anleitern“ - Fachtagung Show-Up! , Hamburg 26. 1. 2007 Literatur Barsch, Sebastian (2001): Geschichtsunterricht an der Schule für Geistigbehinderte. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 52, 515 - 518 von Borries, Bodo (2008): Historisch denken lernen. Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe. Opladen: Budrich Cardinal, Roger (1972): Outsider Art. 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