eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 80/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2011.art25d
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Die Förderverlaufsdokumentation - Ein Instrument zur kontinuierlichen Erfassung der Wirksamkeit in der pädagogisch-therapeutischen Einzelarbeit

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Annett Uhlemann
Förderdiagnostik ist ein hypothesengeleiteter Prozess, bei dem eingangs getroffene Entscheide laufend unterstützt oder angepasst werden müssen. Damit diese prozessbegleitende Evaluation gelingt, müssen eine systematische Erfassung und Abbildung (Dokumentation) der Effekte der Fördermaßnahme erfolgen. Hierfür benötigt die heilpädagogisch tätige Person ein effizient zu führendes Instrument, das in überschaubarer Form Auskunft über den aktuellen Stand in Bezug auf das Förderziel gibt. Mit dem Einsatz der Förderverlaufsdokumentation ist die Absicht verbunden, durch eine stetige Erhebung der Fördereffekte die Effizienz zielgeleiteten pädagogisch-therapeutischen Handelns zu steigern und damit die Lern- und Entwicklungszeit, innerhalb derer das Kind individuell gefördert wird, optimal zu nutzen. Das Instrument bezieht sich in erster Linie auf die pädagogisch-therapeutische Einzelarbeit mit dem Kind.
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Fachbeitrag 331 VHN, 80. Jg., S. 331 - 340 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art25d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Förderverlaufsdokumentation - Ein Instrument zur kontinuierlichen Erfassung der Wirksamkeit in der pädagogisch-therapeutischen Einzelarbeit Annett Uhlemann Pädagogische Hochschule Zentralschweiz, Hochschule Schwyz, Goldau n Zusammenfassung: Förderdiagnostik ist ein hypothesengeleiteter Prozess, bei dem eingangs getroffene Entscheide laufend unterstützt oder angepasst werden müssen. Damit diese prozessbegleitende Evaluation gelingt, müssen eine systematische Erfassung und Abbildung (Dokumentation) der Effekte der Fördermaßnahme erfolgen. Hierfür benötigt die heilpädagogisch tätige Person ein effizient zu führendes Instrument, das in überschaubarer Form Auskunft über den aktuellen Stand in Bezug auf das Förderziel gibt. Mit dem Einsatz der Förderverlaufsdokumentation ist die Absicht verbunden, durch eine stetige Erhebung der Fördereffekte die Effizienz zielgeleiteten pädagogisch-therapeutischen Handelns zu steigern und damit die Lern- und Entwicklungszeit, innerhalb derer das Kind individuell gefördert wird, optimal zu nutzen. Das Instrument bezieht sich in erster Linie auf die pädagogischtherapeutische Einzelarbeit mit dem Kind. Schlüsselbegriffe: Förderverlaufsdokumentation, Förderdiagnostik, Wirksamkeit, Förderziel, Qualitätssicherung The Documentation of Developmental Assessment - An Instrument for the Continuous Evaluation of the Effectiveness of Educational and Therapeutic Individual Assistance n Summary: Continuous diagnostics are a hypothesis-led process, meaning that initially made decisions continuously have to be sustained or adapted. To ensure the success of this evaluation in progress, a systematic assessment and documentation of the effects of the assistance measures is necessary. For this purpose, special educators and remedial teachers need an efficiently manageable instrument that provides information on the current level of development compared to the intended objective of assistance. By a continuous evaluation of the effects of assistance, the Documentation of Developmental Assessment aims at increasing the efficiency of purposeful educational and therapeutic acting. It can also help to optimise the use of class time for individualized teaching. The instrument is primarily adapted for the individual educational and therapeutic work with the child. Keywords: Documentation of Developmental Assessment, continuous diagnostics, efficiency, objective of assistance, quality assurance 1 Die sonderpädagogische Einzelförderung im integrativen Kontext Seitdem der Vorrang der integrativen Beschulung von Kindern mit besonderem Bildungsbedarf auch in der Schweiz gesetzlich verankert ist (BehiG 2002), konnte die Entwicklung eines entsprechenden Trends (Integration als Grundhaltung) ausgemacht werden (EDK 2007). In der Zentralschweiz beispielsweise haben 2010 71 % der Gemeinden ihre Primarschule ausschließlich nach dem integrativen Modell organisiert, 2004 waren es noch 51 % (Sturny 2010). Mit dieser Entwicklung ging auch die Veränderung des Berufsbilds der Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen (SHP) einher. Das vorgestellte Instrument bezieht sich auf den Bereich der Einzelarbeit mit dem Kind, VHN 4/ 2011 332 Annett Uhlemann die im pädagogischen Alltag der Regelschule zunehmend in den Hintergrund tritt. Im Unterschied zur räumlich separiert stattfindenden sonderpädagogischen Einzelarbeit mit dem Kind steht heute das Agieren in der Klasse mit dem Schwerpunkt auf der gemeinsamen Planung und Durchführung des Unterrichts im Zentrum (Lietz u. a. 2008; Niedermann u. a. 2007; Benkmann 2005). Entsprechend findet die Einzelförderung in den Aufgabenbeschreibungen der Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen wenig Erwähnung und wird im Praxisfeld zunehmend negativ konnotiert. So gestatten sich gemäß Jost (2008, 102) „nicht alle Lehrpersonen SHP, Unterrichtssequenzen mit speziell geförderten Kindern punktuell in separierter Form durchzuführen, weil sie damit das Primat der Integration zu verletzen glauben“. Diese Entwicklung ist kritisch zu betrachten. Wenn auch in vielen Fällen die Lernprobleme der Kinder durch Anpassungen im Lernumfeld und durch individuelle pädagogische Zuwendung im gemeinsamen Unterricht behoben werden können, so gibt es dennoch Förderziele, die im integrativen Rahmen nicht effizient erreichbar sind. In diesen Fällen ist eine Ergänzung der klasseninternen Förderung durch individuelle Fördereinheiten in der Einzelsituation angezeigt. In den Weisungen über das sonderpädagogische Angebot des Kantons Schwyz (Kanton Schwyz 2006) sowie im Sonderschulkonzept (Kanton Schwyz 2007) wird dem Rechnung getragen, indem die Einzelförderung als eine mögliche Form der integrativen Förderung genannt wird. Der Kanton Uri sieht ebenfalls pädagogisch-therapeutische Maßnahmen als Einzelförderung vor (Kanton Uri 2008), namentlich Legasthenie- und Dyskalkulietherapie. Auch in der IF-Umsetzungshilfe des Kantons Luzern wird anerkannt, dass nicht alle Kinder zu jeder Zeit von der gemeinsamen Anwesenheit im Unterricht profitieren, sondern mitunter der Schwerpunkt in der Gruppen- und Einzelförderung liegen kann (Kanton Luzern 2010). Die Einzelförderung, wie diese Beispiele aus der Zentralschweiz zeigen, ist somit weiterhin möglich und kann auch in temporär separativer Form einen direkten Beitrag zur integrativen Schulung leisten (Jost 2008). In jedem Fall unterscheidet sie sich in ihrer individuumsbezogenen Ausrichtung unter Bezugnahme auf ein prominentes Förderziel markant von der Arbeitsweise der SHP als Mitgestaltende des Unterrichtsgeschehens. 2 Beschreibung des Entwicklungsprojekts Es ist absehbar, dass die im Klassenverband stattfindenden Interventionen der heilpädagogischen Fachpersonen weiterhin zunehmen werden. Die sich dadurch vermindernden Einzelförderungsmaßnahmen sind durch kontinuierliche Wirksamkeitsmessungen und die Ableitung entsprechender Konsequenzen qualitativ zu maximieren. Hierfür wird ein Instrument benötigt, das die Durchführung der Förderung kleinschrittig abbildet und der heilpädagogisch tätigen Fachperson somit kontinuierlich Auskunft über Effekt und Effizienz ihrer Interventionen gibt. Die Überlegungen zur Entwicklung eines solchen Instruments standen in direktem Bezug zu der von Luder u. a. (2006) vorgestellten Studie aus dem Arbeitsfeld der schulischen Heilpädagogik. Das Ergebnis, dass „eine explizite und geplante Evaluation der getroffenen Maßnahmen … in der Praxis praktisch nie stattzufinden [scheint]“ (a. a. O, 303), führte zur Vermutung, „dass ein hoher Bedarf an praxistauglichen förderdiagnostischen Hilfsmitteln, vor allem auch zur systematischen Evaluation der Effekte getroffener Fördermaßnahmen, besteht“ (a. a. O, 304). Die von der Autorin in ihrem früheren Praxisfeld (Sonderschule) gemachten Erfahrungen sowie diejenigen des Vereins Schulischer Heilpädagoginnen und Heilpädagogen des Kantons Schwyz (VSHS) bestätigten diese Vermutung, weshalb das im Folgenden vorgestellte Instrument Förderver- VHN 4/ 2011 333 Die Förderverlaufsdokumentation laufsdokumentation (FVD) von der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz, Hochschule Schwyz, und dem VSHS als Gemeinschaftsarbeit entwickelt wurde (Start der Arbeitsgruppe: 2008). Eine erste Praxiserprobung der FVD erfolgte durch die Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen der Arbeitsgruppe. Das daraufhin angepasste Instrument wurde in einer zweiten Phase von 17 Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen des Kantons Schwyz versuchsweise eingesetzt (2. Schulhalbjahr 2009/ 2010). Damit verbunden war eine anschließende Befragung zu Inhalt und Praxistauglichkeit des Instruments sowie zum dazugehörigen Handbuch. Erwähnenswert sind die Rückmeldungen zum Bereich Förderziel, worauf in diesem Beitrag an anderer Stelle noch eingegangen wird. Nachdem die zweite Anpassungsphase abgeschlossen worden ist, kann die FVD seit Beginn des Schuljahres 2010/ 2011 als CD beim VSHS bezogen werden. Während die Aktivität der Arbeitsgruppe in der Phase der Entwicklung nicht trendkonform war, weil sie die Einzelförderung fokussierte, fiel der Abschluss der zweiten Testphase zeitlich zusammen mit dem Verzicht auf das neue sonderpädagogische Konzept im Kanton Zürich. In dessen Folge soll u. a. die „Verpflichtung zum Team-Teaching … auf allen Stufen der Volksschule gelockert“ werden (Kanton Zürich 2010, 1), was nicht den Grundsatz der integrativen Förderung tangiert, sondern einzig flexiblere Gestaltungsvarianten des sonderpädagogischen Angebots vor Ort meint. Damit wird die Einzelförderung, vorübergehend auch im separativen Kontext, wieder in größerem Maße ermöglicht. 3 Die Förderverlaufsdokumentation Die Förderverlaufsdokumentation (FVD) unterstützt die heilpädagogisch tätige Person bei der Evaluation der von ihr durchgeführten Fördermaßnahme. Ihr Einsatz bezieht sich in erster Linie auf die förderdiagnostische Arbeit mit einem Kind. Dabei handelt es sich zum einen um den oben beschriebenen marginalisierten Bereich der räumlich separierten Einzelförderung, zum anderen um individuelle Arbeit mit dem Kind, die auch im integrativen Setting oder in der Kleinklasse (inkl. Sonderschule) stattfinden kann. Zielgeleitetes Arbeiten mit einer Kleingruppe oder eine Maßnahme für eine ganze Klasse können mit diesem Instrument jedoch ebenfalls dokumentiert werden. Formale Anregung boten die „Dokumentationsbögen Sprachtherapie“ von Giel (2005). Die an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit ICF (DIMDI 2005) ausgerichtete FVD dient zugleich als Grundlage für das schulische Standortgespräch. Gerade durch den prozessbezogenen Charakter der Dokumentation lassen sich den weiteren Fachpersonen und vor allem den Eltern die einzelnen Etappen des Förderverlaufs transparent aufzeigen. 3.1 Ziel der Förderverlaufsdokumentation Das Ziel des Einsatzes der FVD ist es, durch die kontinuierliche Erhebung der Fördereffekte die Effizienz des zielgeleiteten pädagogisch-therapeutischen Handelns zu steigern. Das heißt, durch eine stetige Beurteilung des Verhältnisses von erreichtem Ziel zu definiertem Ziel (Wirksamkeitsüberprüfung nach jeder Fördereinheit) wird die Relation von Aufwand und Ergebnis (Effizienz) sichtbar. Die auf diesem Evaluationsprozess basierenden Anpassungen in der Förderplanung und -durchführung bewirken, dass die für die individuelle Förderung zur Verfügung stehende Lern- und Entwicklungszeit optimal genutzt wird. Die maximale Effektivität und Effizienz des pädagogisch-therapeutischen Agierens haben also die Minimierung der Dauer der Einzelarbeit mit dem Kind zur Folge. VHN 4/ 2011 334 Annett Uhlemann 3.2 Verortung im förderdiagnostischen Prozess Beim Einsatz der FVD handelt es sich somit um eine prozessbezogene Qualitätssicherung (formative Evaluation), in deren Zentrum die kontinuierliche kritische Betrachtung des eigenen pädagogisch-therapeutischen Handelns im Kontext der Zielannäherung steht. Innerhalb des förderdiagnostischen Prozesses ist diese formative Evaluation in der Phase der Durchführung verortet (s. Abb. 1). Diese prozessbezogene Qualitätssicherung ist damit der summativen Evaluation vorgelagert, bei der am Ende des Förderkreislaufs zwischen postuliertem und erreichtem Zustand verglichen wird (Richiger-Näf 2008 b); in Abb. 1 entspricht dies der Stufe Kontrolle/ Evaluation. 3.3 Abgrenzung der Förderverlaufsdokumentation vom Förderplan Für die detaillierte Informationsbeschaffung im Rahmen des förderdiagnostischen Vorgehens werden multivariate Ansätze berücksichtigt (Eberwein 2009). Die Ergebnisse dieser Unterrichts- und Verhaltensbeobachtungen sowie der formellen diagnostischen Methoden, Gespräche und Analysen von Arbeitsprodukten werden in der Regel im Förderplan gesammelt. Die Beschreibung des individuellen Lernverhaltens, der Lernsituation und der daraus abzuleitenden Kausalzusammenhänge erfolgt im Austausch mit den beteiligten Fachpersonen und dem Kind (z. B. im Rahmen des schulischen Standortgesprächs oder des Fachteams) und führt zur Einigung auf ein Grobziel. Die Akteure des förderdiagnostischen Prozesses haben im Anschluss daran dieses Grobziel jeweils in ein spezifisches, messbares, aktionsorientiertes, relevantes, realistisches und terminiertes Lern- und Entwicklungsziel zu überführen (vgl. SMART-Kriterien, Richiger-Näf 2008 a, 17ff ) sowie die konkrete Förderplanung zu entwerfen. Erst jetzt, wenn die individuelle Arbeit mit dem Kind auf dieses maßgebliche Förderziel hin beginnt, erfolgt der Einsatz der FVD und damit die schrittweise Dokumentation des Förderprozesses. Kontrolle / Evaluation Durchführung Förderplanung Problemverständnis Problemanalyse Fragestellung † Abb. 1: Förderdiagnostik in der schulischen Heilpädagogik (Steppacher 2004, 18) VHN 4/ 2011 335 Die Förderverlaufsdokumentation Die Beschreibung weiterer möglicher Förderbereiche sollte im Förderplan erfolgen, was bedeutet, dass eine detaillierte Förderverlaufsdokumentation nur für das jeweils zentrale Förderziel empfohlen wird (vgl. auch die Aussagen zur Schwerpunktsetzung im Rahmen von Förderplänen bei Melzer 2010). 3.4 Festlegung des relevanten Förderziels und Vorgehen beim Ausbleiben von Fortschritten im Förderverlauf Der Einsatz der FVD setzt, wie beschrieben, die eindeutige Definition des im Vordergrund stehenden Förderziels voraus. Es ist jedoch genau dieser Entscheid für ein Ziel, der sich als sensibler Bereich des förderdiagnostischen Prozesses herauskristallisierte. So werden entweder Förderziele nicht explizit geplant oder „ergeben sich … mehr oder weniger spontan aus den diagnostischen Informationen oder werden überhaupt nicht festgehalten“ (Luder u. a. 2006, 300). Auch die Rückmeldungen im Rahmen der zweiten Erprobungsphase der FVD bestätigen in einzelnen Fällen dieses Bild und weisen auf ein Ausweichen auf verschiedene, nebeneinander gleichrangig bearbeitete Ziele hin. Dass die Mitarbeitenden der Arbeitsgruppe für die Festlegung auf ein Förderziel im Sinne der obigen SMART-Kriterien plädieren, wird ausdrücklich betont. Gemäß dem hypothesengeleiteten förderdiagnostischen Agieren (s. untenstehende Aussagen zum theoretischen Hintergrund, Kap. 3.5) unterliegt die Wegstrecke zur Zielerreichung mittels der FVD einem fortwährenden Evaluationsprozess. Als Teil der Förderplanung werden Überlegungen angestellt, in welcher Zeitspanne realistischerweise Fortschritte zu erwarten sind. Bleiben diese Förder- und Entwicklungserfolge aus, ist es „sinnvoll und notwendig, dass ein vorangegangener Schritt wieder aufgenommen wird und ggf. aus einer anderen Perspektive oder durch einen anderen methodischen Zugang betrachtet wird“ (Mutzeck 2002, 219). Die formative Evaluation ist von ausschlaggebender Bedeutung für einen erfolgreichen förderdiagnostischen Prozess, da die Zusammenhänge von Person und Umwelt sehr komplex sind und trotz sorgfältiger Planung „,blinde Flecken‘ und Irrtümer … nie ganz auszuschliessen“ (a. a. O.) sind. Für die Erfüllung der Funktion der FVD, frühzeitig notwendige Korrekturen im Interventionsprozess zu evozieren, wird das Vorgehen in Abb. 2 empfohlen. Dabei können folgende Fragen wegleitend sein: n Wurde das passende Lehrmittel/ Förderinstrument ausgewählt? Passt es zum Kind und passt es zur Maßnahme? n Ist die gewählte Maßnahme/ Methode kompatibel mit dem Förderziel? n Ist das Förderziel dem tatsächlichen Lern- und Entwicklungsstand des Kindes angepasst oder wurden eingeschränkte Vorläuferfertigkeiten übersehen? Erfassung/ erste Hypothese umweltund/ oder individuumsbezogene Schwerpunktsetzung diagnostische Arbeitshypothese Förderziel Fördermaßnahme Lehrmittel/ Fördermaterial Ausbleiben von Fortschritten Abb. 2: Ursachensuche für das Ausbleiben der Zielannäherung VHN 4/ 2011 336 Annett Uhlemann n Ist das Förderziel mit der diagnostischen Arbeitshypothese kompatibel? n Wurde aus der Erfassung der Wechselwirkungen der ICF-Bereiche (ganzheitliche Problemanalyse) die richtige Arbeitshypothese abgeleitet? n Gibt es Versäumnisse im Bereich Erfassung? Dieser (nicht abschließende) Fragenkatalog zeigt, dass Anpassungen im Planungsprozess auf allen Stufen der schrittweisen Urteilsbildung erforderlich sein können. „Die diagnostische Urteilsbildung kommt damit vor, während und nach der diagnostischen Datensammlung zum Tragen.“ (Seitz u. a. 2006, 104) In Anlehnung an Abb. 1 kann die formative Evaluation der Maßnahme somit ebenfalls als zirkulärer Prozess verstanden werden, der jedoch gegen den Uhrzeigersinn verläuft: Beim Ausbleiben von Erfolgen sind die bisherigen Planungsschritte via Förderplanung, Problemverständnis, Problemanalyse bis hin zur Eingangshypothese zu hinterfragen. 3.5 Theoretischer Hintergrund Den förderdiagnostischen Prozess zeichnet ein hypothesengeleitetes Vorgehen aus. Breitenbach (2003, 67) bettet in die Phase zwischen Fragestellung und Förderplanung eine 1. und eine 2. Hypothesenbildung ein. Die heilpädagogische Fachperson entwickelt dabei die Hypothesen auf der Grundlage ihres pädagogischen, didaktischen und psychologischen Wissens. Diese begründeten Vermutungen führen zu einer diagnostischen Arbeitshypothese, die als Momentaufnahme „laufend … überprüft und nicht selten korrigiert“ wird (Kobi 2003, 87). Diagnose und Förderung stehen folglich in einem untrennbaren Zusammenhang. Mit dem Einsatz der Förderverlaufsdokumentation behält der Anwender diese Wechselbeziehung stets im Blick. Die FVD erlaubt somit die Umsetzung des Postulats, dass „Förderdiagnostik … der fortwährenden Entscheidungsunterstützung“ dient und demzufolge prozessgestaltend und problemlöseorientiert ist (Petermann/ Petermann 2006, 6). Im Weiteren wurde bei der Konstruktion der FVD davon ausgegangen, dass das Kernstück der ICF, die Analyse der Wechselwirkungen zwischen den Komponenten (Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation, Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren; vgl. DIMDI 2005), wegleitend ist für das Aufstellen der diagnostischen Arbeitshypothese (bio-psycho-soziales Modell). Die FVD orientiert sich an den zehn (bei Kindergartenkindern neun) aus der ICF extrahierten Lebens- und Erfahrungsbereichen, die die Beobachtungsleitplanken im Schulischen Standortgespräch des Kantons Zürich bilden (vgl. Hollenweger/ Lienhard 2007). 3.6 Formale Angaben zum Instrument Damit ein solches Dokumentationsinstrument Eingang in die heilpädagogische Praxis findet, muss es neben der Nützlichkeit eine hohe Praktikabilität in der Anwendung aufweisen. Aus diesem Grund wurde eine Excel-Version gewählt, die einfach handhabbar und gut überschaubar ist (s. Abb. 3). Die Förderverlaufsdokumentation kann sowohl digital als auch handschriftlich geführt werden. Die Arbeit am Computer wird empfohlen, da sie den Zugriff auf Verknüpfungen und Links gestattet. Die Protokollblätter sämtlicher geförderter Kinder können im selben Dokument gespeichert werden; ein zusätzliches Übersichtsblatt erleichtert die Orientierung. Weitere Anweisungen werden im Instrument gegeben. 3.7 Handhabung der FVD Die Handhabung der FVD wird ausführlich in einem Handbuch dargelegt. In diesem wird das Vorgehen vorangestellt, das zur Festlegung der Fördermaßnahme führt. Der förderdiagnostische Prozess wird dabei unter den oben angegebenen Bezügen skizziert (s. Kap. 3.4). Es wird somit vorausgesetzt, „dass sich individuell VHN 4/ 2011 337 Die Förderverlaufsdokumentation äußernde Probleme der Schülerinnen und Schüler wie auch der Lehrpersonen nicht losgelöst von interaktionellen Lehr-Lernprozessen betrachten lassen“ (Lietz u. a. 2008, 7). Es folgen einige kurze Ausführungen zu den Einträgen in die FVD. 3.7.1 Item Im Feld Item wird die genauere Beschreibung des ausgewählten ICF-Bereichs eingetragen, auf den sich die Förderung bezieht. Eine komplette Liste der möglichen Items für Kinder und Jugendliche besteht derzeit nicht. Wie Hollenweger und Lienhard (2007, 51) anmerken, kann eine abschließende Zusammenstellung für alle Fachpersonen und alle Altersgruppen nur dann vorgenommen werden, „wenn die Auswahl der Items gemeinsam mit den entsprechenden Fachpersonen getroffen würde und diese spezifisch auf ihr Arbeitsfeld und ihre Zielpopulation ausgerichtet sein könnte“. Deshalb bestehen in der FVD folgende drei Möglichkeiten für die Itemauswahl: n Auswahl aus der Liste gemäß Vorbereitungsformular des Schulischen Standortgesprächs (Hollenweger/ Lienhard 2007, 65) n Auswahl aus der „Liste mit ausgewählten Items für das Volksschulalter“ (Hollenweger/ Lienhard 2007) n Eintragen eines weiteren Items (gemäß ICF) 3.7.2 Diagnostische Arbeitshypothese Die Informationen über die verschiedenen Bereiche (Komponenten der ICF), die mittels unterschiedlicher Methoden gewonnen wurden, und die Analyse ihrer Wechselwirkungen haben zur Folge, dass die Eingangshypothese angepasst oder spezifiziert und in eine diagnos- Abb. 3: Ausschnitt Protokollblatt der FVD für ein Kind VHN 4/ 2011 338 Annett Uhlemann tische Arbeitshypothese überführt wird (dies entspricht der zweiten Hypothesenbildung bei Breitenbach 2003). Die diagnostische Arbeitshypothese beschreibt somit das herauskristallisierte Hauptproblem, auf das sich das Förderziel bezieht. Diese Arbeitshypothese wird in die FVD eingetragen. 3.7.3 Gütekriterium Förderziel Nach der Projektion der erreichbaren Bildungs- und Entwicklungsziele ist das Förderziel zu formulieren. Vor dessen Ausdifferenzierung muss kritisch geprüft worden sein, ob es de facto von erstrangiger Bedeutung ist (s. Kap. 3.4). Damit das Kriterium der Messbarkeit erfüllt wird, müssen präzise Indikatoren gesetzt werden. Nur auf dieser Basis kann die Wirksamkeit der Fördermaßnahme gesteuert werden. 3.7.4 Maßnahmen und Lehrmittel / Fördermaterial Die Maßnahmen sowie das Lehrmittel resp. Fördermaterial werden unter der Fördereinheit (FE) eingetragen, in der sie erstmals eingesetzt werden. Sie gelten fortlaufend, bis ein neuer Eintrag Anpassungen kennzeichnet. 3.7.5 Evaluation Die heilpädagogisch tätige Person muss im Vorfeld die Bedingungen definieren, unter denen die Bewertung „Ziel erreicht“ ausgewiesen wird. Die Einschätzung bezüglich der Zielerreichung kann theoretisch ab der ersten Fördereinheit vorgenommen werden. Denkbar ist aber auch, dass zu dem Zeitpunkt mit dem Eintrag begonnen wird, zu dem ein erster Effekt erwartet wird. Die Termine der vorangegangenen Fördereinheiten sind in diesem Falle dennoch einzutragen, damit der zeitliche Verlauf der Förderung lückenlos dokumentiert ist. 3.7.6 Skalierung Es wird die nachstehende Ordinalskala eingesetzt: 1 = unverändert 2 = Fortschritt 3 = Ziel erreicht Hinter dieser Skalierung stehen folgende Aussagen: 1: Das Ziel ist in Bearbeitung, es ist noch keine Veränderung (Fortschritt) erkennbar. 2: Das gewünschte Verhalten wird annäherungsweise oder teilweise gezeigt. „Annäherungsweise“ bedeutet, dass ein Fortschritt verzeichnet wird, die Qualität des Verhaltens aber noch nicht optimal, d. h. dem Ziel entsprechend ist. „Teilweise“ bedeutet, dass die Qualität optimal ist, das Verhalten aber noch nicht zuverlässig gezeigt wird. Eine Fortsetzung der Förderung ist in beiden Fällen indiziert. 3: „Ziel erreicht“ wird markiert, wenn die dazu definierten Bedingungen eingetroffen sind. 4 Ausblick Mit dem vorgestellten förderdiagnostischen Instrument liegt ein Hilfsmittel vor, das eine explizite und geplante Prozessevaluation einer sonderpädagogischen Maßnahme ermöglicht. Dadurch erhält die heilpädagogisch tätige Person in überschaubarer Form Rückmeldungen zur Wirksamkeit ihres pädagogisch-therapeutischen Handelns und wird beim Ausbleiben einer Zielannäherung zu Anpassungen im Förderprozess veranlasst. Der Nachweis, dass durch den Einsatz der FVD die Wirksamkeit der sonderpädagogischen Arbeit tatsächlich gesteigert wird, wird noch zu erbringen sein. Diese Evaluation steht als Fortsetzung des Entwicklungsprojektes noch aus. Literatur BehiG, Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2002 (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG), Artikel 20. In: VHN 4/ 2011 339 Die Förderverlaufsdokumentation http: / / www.admin.ch/ ch/ d/ sr/ 151_3/ a20.html, 14. 9. 2010 Benkmann, Rainer (2005): Zur Veränderung sonderpädagogischer Professionalität im Gemeinsamen Unterricht aus Sicht der Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 56, 418 - 426 Breitenbach, Erwin (2003): Förderdiagnostik. Theoretische Grundlagen und Konsequenzen für die Praxis. Würzburg: edition bentheim DIMDI, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, WHO-Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen (Hrsg.) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. In: http: / / www.dimdi. de/ dynamic/ de/ klassi/ downloadcenter/ icf/ end fassung/ icf_endfassung-2005-10-01.pdf, 14. 9. 2010 Eberwein, Hans (2009): Förderdiagnostik als lernprozessbegleitende, verstehende Diagnostik. In: Eberwein, Hans; Knauer, Sabine (Hrsg.): Handbuch Integrationspädagogik. 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