Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2011.art27d
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Dialog: Integrative vs. separative Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten
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Christoph Michael Müller
Gesa Pinkert
Volker Weide
Anlass für diesen Dialog ist die aktuell oft hitzig geführte Diskussion über die adäquate Beschulungsform für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten. Im Brennpunkt stehen dabei vor allem Schüler/innen mit dissozialen Verhaltensweisen, also jene, die aggressiv-oppositionelles und oft auch delinquent-kriminelles Verhalten an den Tag legen. Tatsächlich können zu der Frage der schulischen Integration vs. Separation dieses Personenkreises aus unterschiedlichen Perspektiven Argumente ins Feld geführt werden. Im vorliegenden Dialog steht daher der Austausch zwischen Personen aus verschiedenen Tätigkeitsfeldern innerhalb der Sonderpädagogik im Fokus: Dr. Christoph Michael Müller leitet die Abteilung Schulische Heilpädagogik an der Universität Freiburg/Schweiz und erforscht aktuell den Einfluss der Klassenzusammensetzung auf die Verhaltensentwicklung von Schüler/innen; Gesa Pinkert ist Sonderpädagogin und unterrichtet eine Klasse für Schüler/innen mit Verhaltensauffälligkeiten in Düsseldorf; Volker Weide unterrichtet als Sonderpädagoge an einer integrativen Grundschule in Köln.
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VHN, 80. Jg., S. 344 - 350 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art27d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 344 Integrative vs. separative Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten Christoph Michael Müller, Gesa Pinkert, Volker Weide Anlass für diesen Dialog ist die aktuell oft hitzig geführte Diskussion über die adäquate Beschulungsform für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten. Im Brennpunkt stehen dabei vor allem Schüler/ innen mit dissozialen Verhaltensweisen, also jene, die aggressiv-oppositionelles und oft auch delinquent-kriminelles Verhalten an den Tag legen. Tatsächlich können zu der Frage der schulischen Integration vs. Separation dieses Personenkreises aus unterschiedlichen Perspektiven Argumente ins Feld geführt werden. Im vorliegenden Dialog steht daher der Austausch zwischen Personen aus verschiedenen Tätigkeitsfeldern innerhalb der Sonderpädagogik im Fokus: Dr. Christoph Michael Müller leitet die Abteilung Schulische Heilpädagogik an der Universität Freiburg/ Schweiz und erforscht aktuell den Einfluss der Klassenzusammensetzung auf die Verhaltensentwicklung von Schüler/ innen; Gesa Pinkert ist Sonderpädagogin und unterrichtet eine Klasse für Schüler/ innen mit Verhaltensauffälligkeiten in Düsseldorf; Volker Weide unterrichtet als Sonderpädagoge an einer integrativen Grundschule in Köln. n Dr. Christoph Michael Müller Universität Freiburg/ Schweiz Wir haben uns überlegt, dass der Ausgangspunkt dieses Dialogs der von mir in der VHN veröffentlichte Beitrag „Beeinflussen sich erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche negativ? Vier Thesen zu den Risiken von negativem Peereinfluss in sonderpädagogischen Fördergruppen“ (Müller 2010) sein soll. Ich werde die darin vertretenen Positionen deshalb noch einmal kurz darstellen. Die Frage nach der Effektivität unterschiedlicher Beschulungsformen für Schüler/ innen mit dissozialen Verhaltensweisen ist aus Forschungssicht nicht einfach zu beantworten. Auf der einen Seite liegt dies an der Komplexität der diversen Verhaltensauffälligkeiten, die schwierig objektiv zu diagnostizieren sind und sich individuell sehr voneinander unterscheiden können. Andererseits besteht eine große Vielfalt separierender und integrierender Beschulungsformen, die sich in Konzept und Ausmaß ihrer Unterstützung für diesen Personenkreis lokal stark unterscheiden. Ich plädiere daher für eine Effektivitätsforschung, die mögliche Wirkfaktoren im Prozess der Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten einzeln untersucht, um in der Zusammenführung der Ergebnisse zu einer Gesamtbewertung zu gelangen. Zu den Faktoren, die den Erfolg der Beschulung von Schüler/ innen mit Verhaltensproblemen beeinflussen, zählen beispielsweise die Ausbildung der Lehrpersonen, ihre Unterrichtsgestaltung und die personelle Ausstattung im jeweiligen Schulsetting. So wichtig diese Faktoren sind, scheint mir einer der mächtigsten Wirkfaktoren bei dieser Thematik aber kein lehrerorientiertes Merkmal zu sein: Die Zusammensetzung der Schülerschaft hinsichtlich der Ausprägung dissozialen Verhaltens unter den Kindern und Jugendlichen unterscheidet sich erheblich zwischen separierenden und integrierenden Schulformen. Da den Peers eine zentrale Sozialisationsfunktion bei der Verhaltensentwicklung zukommt, trifft dies einen Kernpunkt der Problematik. Die Peereinflussforschung zeigt deutlich auf, dass das Zusammensein mit anderen verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen (z. B. in einer Clique) einer der am besten abgesicher- Dialog VHN 4/ 2011 345 Beschulung von verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen ten Risikofaktoren für die Vertiefung einer dissozialen Entwicklung ist. Da sich Kinder und Jugendliche in der Schule täglich beeinflussen und ihre Freunde auch zu einem großen Teil aus der Klasse generieren, sprechen diese Befunde für das Anstreben einer Beschulung verhaltensauffälliger Schüler/ innen in integrativen Klassen. Hier ist zu erwarten, dass unter den Schülern/ innen positivere Normen herrschen, günstigere Peermodelle vorhanden sind und dissoziales Verhalten weniger verstärkt wird als in Spezialklassen, in denen Kinder und Jugendliche mit Verhaltensproblemen dominieren und soziale Netzwerke untereinander bilden. Erste Studien im Primarschulbereich zeigen, dass die Klassenzusammensetzung hinsichtlich des Verhaltens der Mitschüler/ innen tatsächlich diesen zu erwartenden Einfluss auf die individuelle Verhaltensentwicklung von Kindern zu haben scheint. Als jemand, der selbst Schüler/ innen mit Verhaltensauffälligkeiten unterrichtet hat, ist mir jedoch bewusst, dass die Frage der optimalen Beschulung dieses Personenkreises eine komplexe Angelegenheit bleibt. So lässt sich beispielsweise argumentieren, dass Schüler/ innen mit Verhaltensproblemen in integrativen Settings aufgrund ihres abweichenden Verhaltens abgelehnt werden und sich daher auch dort mit „Gleichgesinnten“ zusammenfinden werden. Dies mag teilweise zutreffen, allerdings bestehen in integrativen Settings dennoch deutlich mehr Optionen für positive Sozialkontakte mit prosozial ausgerichteten Peers als in Spezialklassen für verhaltensauffällige Schüler/ innen. Offene Fragen bleiben sicherlich auch hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung bestehen: Die Forschungslage deutet zwar darauf hin, dass von einzelnen integrierten Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen langfristig kein ungünstiger Einfluss auf die Entwicklung der anderen Schüler/ innen ausgeht. Dennoch kann in der Praxis bereits ein einzelnes Kind den Unterricht in einer Klasse (zumindest temporär) buchstäblich auf den Kopf stellen. Ein Teil der Regelschullehrkräfte, aber auch manche Sonderpädagogen kritisieren daher die Integrationsbestrebungen bei diesem Schülerkreis. Vor diesem Hintergrund interessiert mich, wie ihr, als aktuell unterrichtende Lehrpersonen in eher separierenden bzw. integrierenden Schulsettings, die Thematik der bestmöglichen Beschulung von Schüler/ innen mit Verhaltensproblemen vor Ort wahrnehmt und beurteilt. Zwei Fragen stehen dabei im Vordergrund: 1. Wie nehmt ihr die Einflussprozesse zwischen Schüler/ innen in eurer Schulform vor Ort wahr und wie geht ihr damit um? 2. Welche weiteren Chancen und Probleme seht ihr bei der Beschulung von Schüler/ innen mit Verhaltensauffälligkeiten in eurer Schulform? n Gesa Pinkert Sonderpädagogin in einer Klasse für Schüler/ innen mit Verhaltensauffälligkeiten Ich arbeite seit 2004 an einer Schule mit den Förderschwerpunkten Lernen und Emotional- Soziale Entwicklung, und zwar hauptsächlich mit 14bis 18-jährigen Jugendlichen. Die Schule liegt in einem sogenannten sozialen Brennpunkt in Düsseldorf. Insgesamt besuchen 213 Schüler/ innen unsere Schule. 127 Kinder und Jugendliche haben den Förderschwerpunkt Lernen und 86 den Förderschwerpunkt Emotional-Soziale Entwicklung (ES). In unserem System gibt es sowohl reine ES-Klassen, die nur von Schüler/ innen mit Verhaltensschwierigkeiten besucht werden, als auch Klassen, in denen die Förderschwerpunkte gemischt sind. Die Frage nach der gegenseitigen Beeinflussung von Jugendlichen mit dissozialem Verhalten an Förderschulen mit dem Schwerpunkt ES kann ich anhand unseres Schulalltags beantworten. Beobachtungen aus dem Alltag zeigen, dass sich Freundschaften vor allem dann bilden, wenn Jugendliche charakterliche Ähnlichkeiten beieinander feststellen. Insofern VHN 4/ 2011 346 Christoph Michael Müller u. a. wäre dies eine Untermauerung der These, dass Kinder und Jugendliche mit dem Förderbedarf „Emotional-Soziale Entwicklung“ an einer Förderschule weniger Möglichkeiten haben, soziale Verhaltensalternativen durch eine prosoziale Peergroup zu entwickeln. Andererseits wird es dadurch im Rahmen der Förderplanung möglich, gemeinsam mit den Schüler/ innen konkret an den gezeigten dissozialen Verhaltensweisen zu arbeiten. Gerade innerhalb der Klasse können die sozialen Strukturen und Möglichkeiten zur Abgrenzung gegen negative Einflüsse aufgedeckt und eingeübt werden - vorausgesetzt, dass die Schüler/ innen mit ihren Stärken und Besonderheiten in diese Arbeit mit einbezogen werden und ein grundsätzliches Vertrauensverhältnis zur Lehrperson besteht. Die Prozesse der gegenseitigen Beeinflussung nehmen entsprechend einen großen Raum im Unterrichtsgeschehen ein. Die Jugendlichen geben sowohl als Einzelpersonen als auch innerhalb ihrer freundschaftlichen Beziehungen viele positive und negative Verhaltensbeispiele, anhand derer die Strukturen von prosozialen Verhaltensweisen im Rahmen des Unterrichts besprochen und eingeübt werden können. Die positiven Beispiele werden durch ein individuell ausgerichtetes Verstärkersystem für alle in der Klasse transparent. Für die Arbeit an den dissozialen Anteilen eignen sich im Besonderen Rollenspiele, in denen das gezeigte Verhalten aufgegriffen wird. Gemeinsam mit den Beteiligten werden die Verhaltensalternativen in einem angstfreien Raum erarbeitet und Möglichkeiten eines prosozialen Umgangs ausprobiert. Die Jugendlichen entdecken auf diese Weise, dass sie aktiv Einfluss nehmen können - sowohl auf sich selbst als auch auf die gruppendynamischen Prozesse. Dieses Selbstwirksamkeitserleben kann, meiner Erfahrung nach, die Jugendlichen in ihrer Entwicklung in einem erheblichen Maße unterstützen. Dies umso mehr, als das dissoziale Verhalten für die Jugendlichen häufig eine zentrale Funktion außerhalb der Schule übernimmt. Oftmals sind es erlernte Verhaltensweisen, die sie im privaten und familiären Umfeld davor schützen, zu Außenseitern oder zu „Opfern“ zu werden. Zusätzlich zu den Rollenspielen sollten Reflexionsgespräche (in der aktuellen Situation) und individuelle Förderplangespräche (in regelmäßigen, gemeinsam verabredeten Abständen) geführt werden, in denen die persönlichen Ziele besprochen, in Teilschritte zerlegt und überprüft werden. Die Chancen und Risiken der Förderorte sind abhängig von den Menschen (Lehrpersonen und Schüler/ innen) und den Strukturen, die an der jeweiligen Schule vorherrschen. Schüler/ innen, die erst als Jugendliche zu uns an die Förderschule wechselten, erzählen sehr oft von ihrer Außenseiterrolle, die sie an ihrer Ursprungsschule innehatten. Sie berichten sowohl von den Schwierigkeiten mit den Klassenkameraden als auch mit den Lehrpersonen, da sie mit ihrer persönlichen Problematik nicht akzeptiert wurden - dies bezog sich den Erfahrungsberichten nach sowohl auf die Schwierigkeiten, das Regelsystem einzuhalten, als auch auf die familiären Hintergründe („Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder …“). Auf diese Weise wurde ihnen die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit einer prosozialen Peergroup verwehrt. Je später die Jugendlichen an unsere Schule wechseln, um so schwieriger ist es, sie zu überzeugen, dass sie täglich in der Schule willkommen sind, auch wenn sie noch nicht alle sozialen und strukturellen Regeln einhalten können. Die Anerkennung der Klassenkameraden ist dabei von großer Wichtigkeit. Dadurch, dass alle Schüler/ innen der Klasse in bestimmten Bereichen Schwierigkeiten haben, ist nach meiner Einschätzung an einer Förderschule eine grundsätzliche Akzeptanz untereinander möglicherweise schneller zu erreichen als in integrativen Klassen. Das gegenseitige Respektieren ist sehr wichtig, da eine Arbeit an den Verhaltensauffälligkeiten nur möglich ist, wenn sich die Jugendlichen nicht noch zusätzlich vor den Gleich- VHN 4/ 2011 347 Beschulung von verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen altrigen beweisen müssen oder das Gefühl haben, sich gegen die Lehrperson zur Wehr setzen zu müssen. Grundsätzlich ist zu vermuten, dass dissoziale Schüler/ innen, die gemeinsam mit verhaltensunauffälligen Gleichaltrigen unterrichtet werden, den Vorteil haben, dass sie das erwünschte Verhalten täglich vorgelebt bekommen und entsprechend nachahmen können, sofern es der Lehrperson gelingt, Ausgrenzungen zu verhindern. Ein Nachteil besteht darin, dass die Kinder und Jugendlichen durch das tägliche Erleben sozialer und vermutlich auch ökonomischer Unterschiede in ihrem Entwicklungsprozess gehemmt werden können. Integration kann meines Erachtens gelingen, wenn ein Lern- und Lebensumfeld geschaffen wird, das allen Beteiligten vorurteilsfrei und akzeptierend begegnet. Gleichzeitig mit den Integrationsbestrebungen müsste entsprechend eine gesamtgesellschaftliche Veränderung einhergehen, sodass die Herkunft eines Menschen bei Beurteilungen keine Rolle mehr spielt. Die Schüler-Lehrer-Relation sowie die finanzielle Ausstattung sollten zudem so beschaffen sein, dass individuelle Lernausgangslagen sowohl bezüglich des Verhaltens als auch hinsichtlich der Lerninhalte berücksichtigt werden können. Insgesamt gesehen und im Bewusstsein, dass alle Kinder und Jugendlichen ein Recht auf eine integrative bzw. inklusive Beschulung haben, ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, diesen Teil der Förderung weiter auszubauen und konkret an den Schwierigkeiten im emotional-sozialen Bereich auszurichten. Nichtsdestotrotz sollte jede Entscheidung über den Förderort je nach Kind, Lernausgangslage und Umfeld diagnostisch abgesichert werden, sodass jeder Mensch die für ihn beste Fördermöglichkeit erhält. Es wird vermutlich immer Kinder und Jugendliche geben, die eine reduziertere Lernumgebung benötigen, weil ihre emotionalsoziale Ausgangslage noch derart förderbedürftig ist, dass sie sich in einer integrativen Klasse noch nicht zurechtfinden. n Volker Weide Sonderpädagoge in einer integrativen Klasse Die im Beitrag von Gesa Pinkert gemachten Beobachtungen und Einschätzungen verdeutlichen, dass es in Fragen der bestmöglichen Förderung und des Förderortes für verhaltensauffällige Schüler/ innen keine absolute Antwort gibt. Die praktischen Implikationen der beschriebenen Prozesse zum Peereinfluss müssen im Kontext schulischer Rahmenbedingungen, der Unterrichtsorganisation und bildungspolitischer Vorgaben gesehen werden, die von Schule zu Schule stark variieren. Der konkrete Rahmen meiner Schule sei deshalb zu Anfang kurz skizziert. Ich arbeite an einer verhältnismäßig großen integrativen Grundschule im Kölner Osten, in der von insgesamt etwa 360 Schüler/ innen ca. 40 Kinder mit ausgewiesenem sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet und gefördert werden, darunter viele mit Verhaltensauffälligkeiten. Eine möglichst breite Streuung der Förderschwerpunkte ist konzeptionell angestrebt, eine Klassenzusammensetzung von 5 Kindern mit Förderbedarf in einer Lerngruppe von bis zu 25 Kindern die Regel. Die sonderpädagogische Förderung wird zum einen durch Formen der Individualisierung und Differenzierung im Team-teaching, zum anderen durch die Zusammenführung von Kindern in Fördergruppen verwirklicht. Die Schule arbeitet nach Elementen des Jena-Plans und befindet sich mitten in einem sog. sozialen Brennpunkt des Kölner Stadtteils Mülheim. Für die Prozesse der Peereinflüsse ist dies wichtig zu wissen, weil dadurch Kinder mit oppositionellen Verhaltensweisen zu den sonderpädagogisch geförderten Kindern im Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung hinzukommen und eine trennscharfe Unterscheidung im Schulalltag oft schwierig ist. In Bezug auf die vorgestellten Thesen ist die gegenseitige Einflussnahme von verhaltensauffälligen Schüler/ innen und der entsprechenden Lerngruppe für folgende Bereiche elementar VHN 4/ 2011 348 Christoph Michael Müller u. a. wichtig: die Klassenzusammensetzung sowie die Unterrichtsorganisation mit den konkreten Fördermöglichkeiten. Die praktischen Erfahrungen zeigen, dass Kinder mit expliziten Verhaltensproblemen sich innerhalb einer Lerngruppe sehr häufig als Freunde oder als Kontrahenten suchen und finden. In beiden Fällen ist die Einflussnahme auf die Lernatmosphäre und das soziale Lernen immens. In der Klassenzusammensetzung wird deshalb versucht, eine Grenze von ungefähr zwei Kindern mit deutlichen Verhaltensauffälligkeiten in einer Klasse von 25 Kindern nicht zu überschreiten. In diesem Rahmen scheinen Prozesse der gegenseitigen Einflussnahme noch lenkbar und für pädagogische Prozesse nutzbar zu sein. Je mehr Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten hinzukommen, desto weniger gut gelingt die Förderung im Klassenverband. Einerseits geht es also in integrativen Settings um Strategien, wie verhaltensauffällige Kinder sich von einer Peergroup positiv - im Sinne von sozialen Vorbildern - beeinflussen lassen können. Solche Prozesse werden häufig mit Verstärkersystemen, wie sie z. B. im „Klasse-Kinder-Spiel“ nach Hillenbrand dargestellt sind, initiiert, aber auch in den Ritualen der jeweiligen Klassen wie z. B. dem Erzählkreis, dem Klassenrat und sozialen Spielen erfahren. Die Kinder erhalten so Chancen, ihr eigenes Verhalten in Beziehung zu prosozialen Verhaltensweisen zu reflektieren und ggf. zu ändern, weil sie erfahren, dass sich das „gute Verhalten“ für die gesamte Klasse lohnt. In der täglichen Arbeit beobachte ich, dass gerade verhaltensauffällige Schüler/ innen häufig über sehr gute empathische Fähigkeiten verfügen und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zeigen. In inszenierten sozialen Lernsituationen und Spielen können sich oft gerade diese Schüler/ innen profilieren. Andererseits geht es in der integrativen Praxis auch darum, inwiefern sich diese Kinder von ihren vermeintlichen prosozialen Vorbildern abgrenzen, verstärkt oppositionelles Verhalten zeigen und die Lernatmosphäre der gesamten Klasse gefährden. Hierbei besteht die Gefahr, dass sich andere Kinder diesem Verhalten anschließen und dauerhaft in eine soziale Außenseiterrolle geraten und eine gute Lernatmosphäre deutlich gefährdet ist. In diesem Kontext werden Entscheidungen zur Unterrichtsorganisation und der konkreten Förderung getroffen und manchmal sogar Förderortwechsel angestrebt. Gravierende Verhaltensprobleme von Kindern, die das soziale Miteinander über die Maßen gefährden, erfordern in der Praxis individualpädagogische Interventionen in Form von Eins-zu-eins-Situationen, Auszeiten, Kleingruppenförderung, Rückzugsräumen usw., damit diese Kinder einerseits adäquat gefördert werden können und andererseits die gesamte Lerngruppe „geschützt“ wird. In diesen Interventionen besteht insbesondere in heterogenen Lerngruppen, wie sie in integrativen Settings entstehen, die Möglichkeit, Kleingruppen gezielt und ggf. klassenübergreifend zusammenzusetzen, deren Zusammensetzungen zu verändern und Peereinflüsse zu steuern. Ich beobachte, dass gerade die Zusammenführung besonders auffälliger Kinder in Kleingruppen eine gegenseitige Akzeptanz und Toleranz mit sich bringt, die man in der Großgruppe und in den Pausen oft vermisst. Für die Kinder sind „exklusive Förderangebote“, außerhalb des normalen Klassenunterrichts, in der Regel positiv besetzt und werden gerne wahrgenommen. Konzentrationstrainings, Entspannungsübungen, Judo, Jungen- und Mädchengruppen, Werken, Kochen usw. sind gezielte Fördermöglichkeiten, in denen die Kinder neben den spezifischen Inhalten auch lernen können, als Gruppe in positiver Abhängigkeit zu spielen, zu lernen und zu arbeiten. Einigen Kindern fällt es gerade dort wesentlich leichter, oppositionelle Verhaltensweisen abzulegen und Solidarität zu entwickeln. Die Chancen und Risiken einer guten integrativen Schulpraxis hängen stark vom Spielraum ab, den die bildungspolitischen Vorgaben und konzeptionellen Umsetzungen in der Schule zulassen. Spielraum für Entscheidungen in der konkreten Förderung, Spielraum in der Zusammensetzung von Klassen, Spielraum im VHN 4/ 2011 349 Beschulung von verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen Sinne von räumlichen Möglichkeiten. So lange die Ressourcen nicht eine gute und qualitative Förderung aller Schüler/ innen sichern können, geht es auch um Spielraum in der Entscheidung für oder gegen die Aufnahme von einzelnen Schüler/ innen, damit Lerngruppen stabil bleiben und Kinder adäquat gefördert und gefordert werden können. Derzeitige bildungspolitische Entscheidungen in Deutschland bergen die Gefahr, dass immer mehr Kinder mit herausfordernden Verhaltensweisen in die Regelschulen aufgenommen werden (müssen), ohne dass die Förderressourcen als gesichert angesehen werden können. Die Auswirkungen auf Schulen mit einer ohnehin herausfordernden Schülerklientel sind naheliegend. Sie konkretisieren sich damit im Kontext der Peereinflüsse als Gefährdung der jeweiligen Lerngruppen auch im gemeinsamen Unterricht. Auf dem Weg zu einem Schulwesen, das sich dem Gedanken der Inklusion ernsthaft annähert, ist deshalb die Vernetzung von Förderschulen und Regelschulen für Förderortentscheidungen auch weiterhin von großer Bedeutung, damit bildungspolitische Bestrebungen und Forderungen nicht über die Köpfe der heutigen Kinder und Jugendlichen hinweg formuliert und umgesetzt werden. n Dr. Christoph Michael Müller Vielen Dank für diese interessanten Beiträge, in denen ich viele gemeinsame Beobachtungen und Ideen finde. Insbesondere eure praktischen Vorschläge zum konkreten Umgang mit der Peereinflussproblematik in der Klasse erscheinen mir als sehr hilfreich. Ich werde im Folgenden versuchen, die Übereinstimmungen zwischen den formulierten Positionen, aber auch die sich widersprechenden Standpunkte zusammenzufassen. Alle Diskutanten scheinen darin übereinzustimmen, dass die Peers und damit auch die Klassenzusammensetzung einen erheblichen Einfluss auf die Unterrichtsgestaltung und die persönliche Entwicklung von Schüler/ innen ausüben können. Die diesbezüglich dargestellten Nachteile von Förderschulen und Spezialklassen für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche bleiben weitgehend unwidersprochen, allerdings werden daraus unterschiedliche Schlüsse bzw. Interventionen abgeleitet. Während ich in der Zusammenführung von Schüler/ innen mit dissozialem Verhalten ein deutliches Risiko für den Fördererfolg sehe, stellt Gesa Pinkert die in solchen Gruppen bestehenden Chancen einer intensiven Arbeit an der Verhaltensproblematik in den Vordergrund. Sie betont dabei die Vorteile eines „emotionalen Schutzraums“ für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Ein ähnlicher Aspekt findet sich interessanterweise auch bei den von Volker Weide angesprochenen „exklusiven“ Fördergruppen innerhalb integrativer Settings, wenngleich er die positive Wirkung gemeinsamer Aktivitäten von Schüler/ innen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf hervorhebt. Auf dem Weg der Annäherung an ein inklusives Schulsystem verweist er weiter auf die Bedeutung pädagogischer Flexibilität innerhalb integrativer Schulformen und auf den Kooperationsbedarf zwischen Regel- und Förderschulen. Insgesamt erscheint mir bei allen Beiträgen der dringende Bedarf der Thematisierung und Bereitstellung effektiver Unterstützungsmaßnahmen für diesen vielleicht am schwierigsten zu integrierenden Personenkreis (Goetze 1991) als zentrales Anliegen. So wird beim Anstreben einer integrativen Beschulung übereinstimmend eine ausreichende Stellenausstattung mit im Bereich der Diagnostik und des Unterrichts von Schüler/ innen mit Verhaltensschwierigkeiten professionell ausgebildeten Sonderpädagog/ innen gefordert. Der hier erfolgte Dialog zeigt weiter, dass der Einfluss der Klassenkameraden auf den Entwicklungsverlauf von verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen bei den Überlegungen zur schulischen Förderung dieses Personenkreises in Zukunft noch stärker zu berücksichtigen sein wird. Dies gilt nicht nur für Entscheidungen über adäquate Förderorte, sondern auch für die konkrete Unterrichtsgestaltung unabhängig von einem eher separie- VHN 4/ 2011 350 Christoph Michael Müller u. a. renden oder integrierenden Setting. Forschung und Praxis sind an dieser Stelle aufgefordert, Peereinflussprozesse im Bildungssystem intensiv zu untersuchen und im schulischen Alltag bewusst in die pädagogische Planung und Unterrichtsumsetzung einzubeziehen. Literatur Goetze, H. (1991): Konzepte zur integrierten Unterrichtung von Schülern mit Verhaltensstörungen - dargestellt an Ergebnissen der amerikanischen Mainstreamforschung. In: VHN 60, 6 - 17 Müller, C. (2010): Beeinflussen sich erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche negativ? Vier Thesen zu den Risiken von negativem Peereinfluss in sonderpädagogischen Fördergruppen. In: VHN 79, 27 - 39 Dr. Christoph Michael Müller Universität Freiburg (Schweiz) Heilpädagogisches Institut Leiter der Abteilung Schulische Heilpädagogik Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg Tel. ++41 (0)26 300 77 25 E-Mail: christoph.mueller2@unifr.ch Gesa Pinkert Alfred-Herrhausen-Schule Carl-Friedrich-Goerdeler-Straße 21 D-40595 Düsseldorf E-Mail: gesapinkert@gmx.de Volker Weide Im Hemmerich 9 D-51061 Köln E-Mail: v.weide@gmail.com
