eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 81/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Das provokative Essay: Menschenaffen kontra Mensch?

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2012
Georg Feuser
Am 3. Juni 2011 verlieh die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) ihren Ethik-Preis in der Deutschen Nationalbibliothek zu Frankfurt am Main an den australischen Philosophen Peter Singer und an die italienische Philosophin Paola Cavalier für ihr engagiertes Eintreten für Tierrechte. Dabei abstrahiert die gbs davon, dass Peter Singer dafür eintritt, die Gattungsgrenzen aufzulösen und z. B. Menschenaffen Personrechte zu gewähren, die er schwerer behinderten Menschen abspricht. Vor allem in seiner utilitaristischen „Praktischen Ethik“ tritt er für deren Tötung ein. Die Preisverleihung stieß auf vielfältigen Widerspruch. Sie ist ein Zeichen für die Kontinuität der Lebenswert- und Euthanasiedebatte, die bereits vor dem Deutschen Hitlerfaschismus begann und mit dessen Ende nicht aus dem Denken in Alltag und Wissenschaft verschwunden ist.
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VHN 1 | 2012 1 < RubRik > Menschenaffen kontra Mensch? Ethik-Preis der Giordano-Bruno-Stiftung an Peter Singer Georg Feuser universität Zürich Zusammenfassung: Am 3. Juni 2011 verlieh die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) ihren Ethik- Preis in der Deutschen Nationalbibliothek zu Frankfurt am Main an den australischen Philosophen Peter Singer und an die italienische Philosophin Paola Cavalier für ihr engagiertes Eintreten für Tierrechte. Dabei abstrahiert die gbs davon, dass Peter Singer dafür eintritt, die Gattungsgrenzen aufzulösen und z. B. Menschenaffen Personrechte zu gewähren, die er schwerer behinderten Menschen abspricht. Vor allem in seiner utilitaristischen „Praktischen Ethik“ tritt er für deren Tötung ein. Die Preisverleihung stieß auf vielfältigen Widerspruch. Sie ist ein Zeichen für die Kontinuität der Lebenswert- und Euthanasiedebatte, die bereits vor dem Deutschen Hitlerfaschismus begann und mit dessen Ende nicht aus dem Denken in Alltag und Wissenschaft verschwunden ist. Schlüsselbegriffe: Behindertenpädagogik, Euthanasie, (materiale) Ethik, evolutionärer Humanismus, Giordano-Bruno-Stiftung Hominides Versus Human beings? Ethics Award of the Giordano-bruno-Foundation for Peter Singer Summary: On June 3rd, 2011, the Giordano Bruno Foundation (gbf) awarded its ethics prize to the Australian philosopher Peter Singer and the Italian philosopher Paola Cavalier for their dedicated commitment to animal rights. In doing so, the gbf disregards the fact that Peter Singer speaks up for the dissolution of the boundaries between species e. g. by conceding personal rights to hominides while denying individuals with profound disabilities such basic rights. In his utilitarian “Practical Ethics” Singer even campaigns for a targeted killing of these persons. Hence the award presentation encountered many-faceted opposition. This award nomination is a symbol of the continuity of the debate on the value of life and on euthanasia that already started before the German fascism and that didn’t get out either of our everyday consciousness nor of the scientific thinking at the end of this era. Keywords: Special needs education, euthanasia, (material) ethics, evolutionary humanism, Giordano-Bruno-Foundation DAS PRoVok AtiVE ESSAy I n seiner Abhandlung „Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt“ schreibt Adolf Muschg (1997, 9): „Das Grauen von Auschwitz beruht nicht darauf, dass es am unvorstellbaren Ende jeder Zivilisation liegt, sondern in der vorstellbar gewordenen Mitte einer jeden.“ Am 3. Juni 2011 verlieh die Giordano-Bruno- Stiftung (gbs) ihren mit 10.000 Euro dotierten Ethik-Preis in der Deutschen Nationalbibliothek zu Frankfurt am Main dem australischen Philosophen Peter Singer und der italienischen Philosophin Paola Cavalieri. Beide wurden für ihr engagiertes Eintreten für Tierrechte, im Besonderen für die Initiierung des Great Ape Project (GAP) ausgezeichnet. Dieses Projekt bemüht sich um die Anerkennung von Grundrechten für Menschenaffen, wie das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und Freiheit, Rechte, die u. a. eine Verwertung der Tiere als Nahrung ausschließen, ihre Verwendung zu Tierver- VHN 1 | 2012 2 DAS PRoVok AtiVE ESSAy GeorG Feuser Menschenaffen kontra Mensch? suchen als Folter unterbinden und auch die Zerstörung ihres Lebensraumes unter Strafe stellen würden. Die gbs vertritt die Position des „Evolutionären Humanismus“, der in einem umfassenden Manifest dokumentiert wird. Eines der bedrückendsten Probleme der Gegenwart sieht die Stiftung darin, „dass sich religiöse Fundamentalisten jeder Couleur in aller Selbstverständlichkeit der Früchte der Aufklärung (Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Wissenschaft, Technologie) bedienen, um auf diese Weise zu verhindern, dass die Prinzipien der Aufklärung auf den Geltungsbereich ihrer eigenen Weltanschauung angewandt werden“. 1 Die gbs bezeichnet sich selbst als Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung, der viele renommierte Wissenschaftler, Philosophen und Künstler angehören. Ich selbst sehe mich gleichwohl einem demokratischen Humanismus und der Aufklärung verpflichtet. Dies philosophisch auf der Basis eines Materialismus bzw. Physikalismus, der - im Sinne dialektischen Denkens - das, was als Psychisches und Geistiges bezeichnet wird, als Produkt der komplexen Wechselwirkungen der Materie und ihrer Selbstorganisation in systemischen Zusammenhängen von Synergetik und Emergenz zu erkennen erlaubt. Die an der Universität Bremen besonders von Wolfgang Jantzen (2007) theoretisch auf dem Hintergrund der Kulturhistorischen Schule grundgelegte und von uns getragene (kritische und materialistische) „Behindertenpädagogik“ (Reichmann 1984) basiert in ihren Grundlagen philosophisch und psychologisch auf diesen Zusammenhängen. Im Gegensatz zum auf biologistisch-medizinisch-psychiatrisch generierten Modellen beruhenden Verständnis von Behinderung als ein dem Menschen, an dem es beobachtet wird, wesensmäßig inhärentes Bündel von Eigenschaften (Defekte und Devianzen), denen die traditionelle Heil- und Sonderpädagogik bis heute verpflichtet ist, erkennt die Behindertenpädagogik auch solche beobachtbaren psychischen Erscheinungen eines Menschen, die z. B. als schwerste geistige Behinderung bezeichnet werden, als nicht essenzielle Phänomene, sondern als relationale. Dies im Sinne des Verhältnisses von Ausgangs- und Randbedingungen eines lebenden Systems im gesamten Prozess seiner mit der Zeugung beginnenden Evolution bzw. als Verhältnis von gleichwertiger und gleichberechtigter Teilhabe eines Menschen an Kultur, Bildung und Arbeit in Relation zu den Graden, dem Zeitpunkt des Beginns und der Dauer seiner (kulturellen, bildungsmäßigen und sozial-kooperativen) „Isolation“. Diese wird in der Regel als Folge einer in Erscheinung tretenden Beeinträchtigung oder einer Erwartungsverletzung (Weisser 2005; 2007) als auf den Betroffenen hin zur Wirkung kommender gesellschaftlicher Prozess in Gang gesetzt. Behinderung ist entsprechend ein aktiver Prozess der Be-Hinderung der gesellschaftlichen Partizipation eines Menschen; eine soziale Konstruktion. Betrachten wir noch den Sachverhalt eines Menschen im Koma, so kann mangels der Möglichkeit der unmittelbaren Beobachtbarkeit testdiagnostisch kodierter psychischer Phänomene nicht darauf geschlossen werden, dass sie nicht oder nicht mehr vorhanden seien, zumal bei heute anzunehmendem ubiquitärem Gedächtnis die bis zum Eintritt des Komas gemachten Erfahrungen nicht sämtlich gelöscht sein können, solange das Gehirn auch nur in Teilfunktionen aktiv ist, unabhängig davon, wie weit das Leben des Menschen apparativ unterstützt und/ oder personell assistiert werden muss. Dabei ist die bis heute auch in den Neurowissenschaften nicht getroffene Unterscheidung von Bewusstsein und Bewusstheit von besonderer Relevanz (Feuser 1998). In gleicher Weise kann z. B. für von Geburt an schwerst beeinträchtigte Menschen nicht angenommen werden, dass sie VHN 1 | 2012 3 DAS PRoVok AtiVE ESSAy GeorG Feuser Menschenaffen kontra Mensch? keine psychischen Funktionen haben oder solche im Entwicklungsverlauf nicht qualitativ zunehmend auf höheren Entwicklungsniveaus hervorbringen können, weil sie noch nicht in testdiagnostisch kodierter Weise beobachtbar sind. Zu vergegenwärtigen wäre noch, dass die Ontogenese eines Menschen ein Prozess höchster Dynamik ständiger Veränderung ist, die es nicht erlaubt, einen Punkt zu fixieren, vor dessen Erreichen der Mensch noch kein Mensch ist bzw. ab welchem jemand Mensch (bzw. Person) wäre. Selbstverständlich können solche Momente im Sinne einer Zuschreibung an bestimmte Entwicklungsstadien eines Embryos, Feten oder auch Säuglings seitens der Gesellschaft juristisch festgelegt und per gesellschaftlichen Konsens oder Mehrheitsbeschluss gesetzt werden. Sie sind dann aber willkürliche Zuschreibungen und keine Bedingungen menschlicher Ontogenese. Damit rückt, knüpft man an solche Setzungen die Legitimierung zur Tötung eines Menschen, im Sinne Muschgs das am unvorstellbaren Ende jeder Zivilisation Liegende in deren Mitte. Bei zumindest vergleichbaren Aspekten einer Grundposition der gbs und der hier vorgestellten behindertenpädagogischen sollte die Verleihung des Ethik-Preises der gbs Bestätigung finden. Das aber kann sie nicht. Vielmehr sieht sich der Verfasser genötigt, gegen die Preisverleihung an Peter Singer mit nachfolgend aufgeführtem offenen Brief zu protestieren. Nicht weil von dieser Position aus ein Dissens hinsichtlich der Schutzwürdigkeit jedweder Kreatur und dem mit dem Preis gewürdigten GAP bestünde, sondern wegen der von Peter Singer vor allem in seinen Arbeiten zur „Befreiung der Tiere“ (1982) und seiner „Praktischen Ethik“ (1979) vorliegenden Auffassungen einer ethisch zu rechtfertigenden Euthanasie behinderter Menschen auf Basis seiner utilitaristisch-präferenzutilitaristischen Positionen, die unmittelbar mit seinen Positionen zum Tierschutz verknüpft sind 2 . Diese Koppelung wird seitens der gbs nicht aufgedeckt, sondern umgedeutet, verniedlicht und in einer Weise in Abrede gestellt, wie die Stiftung das ihrerseits insbesondere religiös motivierten Auffassungen gegenüber massiv anficht. Drei Aspekte seien hier kurz skizziert: 1. Herr Singer glaubt, die Tötung von behinderten Menschen berechtigt verantworten zu können, indem er (a) an behinderten Menschen bzw. nicht behinderten Säuglingen beobachtbare Erscheinungen, die rein deskriptiver Natur sind, ontologisiert und als deren Eigenschaften fixiert und (b) die Entwicklungsdynamik und damit die Veränderbarkeit des Menschen als dissipativ-autopoietisches System negiert, was vereinfacht in die Worte gefasst werden kann: Wer so erscheint, ist so, wer so ist, bleibt so! Mit diversen Argumenten behauptet er u. a., dass ,gewisse‘ behinderte Menschen (zu denen er auch solche mit Down-Syndrom und Spina Bifida zählt) weitgehend empfindungs- und beziehungsunfähige Lebewesen sind, sich ihrem Wesen nach nicht klar von Dingen abzugrenzen vermögen (keine distinkte Entität haben), sich nicht als in der Zeit existierend begreifen können, kein Selbst-Bewusstsein sowie keine Option auf ihre eigene Zukunft haben, weshalb sie keine Person seien. Damit wird unausgesprochen auch die Vernunft-Natur des Menschen negiert und einem cartesianischen Dualismus Tür und Tor geöffnet, weit entfernt von der spinozistischen Lehre über Affekte, Emotionen und Willen und einem Verständnis der Einheit von Körper und Geist, dem sich die gbs mehr als Herrn Singers Auffassungen verpflichtet fühlen müsste, die den schwer beeinträchtigten und/ oder entwicklungsgestörten Menschen letztlich als „massa carnis“ sehen 3 , der nur glücksreduzierend wirken und nur leiden kann und folglich, im eschatologischen Sinne, von diesen seinen Leiden erlöst werden müsse - durch Euthanasie. VHN 1 | 2012 4 DAS PRoVok AtiVE ESSAy GeorG Feuser Menschenaffen kontra Mensch? Schließlich hat die „Praktische Ethik“ Singers auch eine durchaus praktische Seite. Er schreibt: „Weder der Fötus noch das neugeborene Kind ist ein Individuum, fähig, sich selbst als distinkte Entität zu betrachten, und mit einem Leben begabt, das es als sein eigenes zu führen hat. Betrachtet man neugeborene Kinder als ersetzbar, wie wir jetzt Föten als ersetzbar betrachten, so hätte das gegenüber der Amniozentese mit nachfolgender Abtreibung beträchtliche Vorteile. Die Amniozentese kann nur einige wenige Abnormitäten aufdecken, und nicht unbedingt die schlimmsten. […] Würde man behinderte Neugeborene bis zu etwa einer Woche oder zu einem Monat nach der Geburt nicht als Wesen betrachten, die ein Recht auf Leben haben, dann könnten wir unsere Entscheidung auf der Grundlage eines weit umfassenderen Wissens über den Zustand des Kindes treffen, als das vor der Geburt möglich ist.“ (Singer 1984, 186f) Die den Annahmen Singers über behinderte Menschen zugrunde liegenden Feststellungen sind einzeln wie in ihren Zusammenhängen aus Sicht der Humanwissenschaften unzutreffend. Die behinderten Menschen und auch nichtbehinderten Säuglingen in Abrede gestellten Eigenschaften sind nicht nur mit menschlichem, sondern z. T. mit Leben schlechthin gegeben und durch keine Form einer Beeinträchtigung oder Behinderung zu negieren (Feuser 1995). 2. Singer (1982, 41) betont: „Ich ziehe also den Schluss, dass eine Ablehnung des Speziesismus nicht impliziert, dass alle Lebewesen den gleichen Wert haben.“ In Fortführung seiner Gedankengänge bezogen auf das Zufügen von Schmerz und das Töten, schreibt er weiter: „Normalerweise wird dies bedeuten, dass wir, wenn wir zwischen einem Menschenleben und dem Leben eines Tieres zu wählen haben, das Menschenleben retten sollten. Es gibt jedoch viele Sonderfälle, in denen das Gegenteil gilt, weil das betreffende menschliche Wesen nicht die Fähigkeit eines normalen Menschen hat.“ (ebd.) Bezogen auf diese Zusammenhänge, die hier nicht weiter vertieft werden können, muss sich die gbs die Frage stellen lassen, ob sie bedacht hat, dass in Anbetracht der von Singer vollzogenen ,Ablehnung des Speziesismus‘, der Auflösung der Gattungsgrenzen, die von ihm offensiv mit der Tötung behinderten menschlichen Lebens verknüpft wird, auch ein „Gattungsversagen“ impliziert ist, das konsequent zum „Gattungsbruch“ führt, wie er sich mit dem Holocaust in der jüngsten Geschichte ereignet hat. Dies selbstverständlich in einem anderen gesellschaftlichen Kontext, aber durchaus nicht unter völlig unvergleichbaren Bedingung, die mit Bezug auf Zimmermann (2005, 34) der Utopie „,neues Menschentum‘, neue Lebensform“, eines entstehenden Lebenskampfes zwischen Mensch und Tier und jenseits eines Speziesismus einer neuen Art der Rassentheorie die Bahn ebnet. Die ,Aufartung‘ erfolgt dann über die utilitaristische Ersetzungsregel, die besagt: „Sofern der Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird“ (Singer 1984, 183) - und dient, wie eh und je, bevölkerungspolitischen Zielen und einer monetären Kosten-Nutzen-Balance. 3. Es ist angedeutet, dass bestimmte weltgeschichtliche Entwicklungen die Frage nach der Neubestimmung von Moral und Politik in der Gesellschaft aufwerfen. Eine Orientierung, der sich die gbs verpflichtet sieht, erfordert dies in gleicher Weise. Die kritiklose Billigung der Singerschen utilitaristisch-präferenzutilitaristischen ethischen Begründung von Moral in der „Praktischen Ethik“ und deren Abspaltung von der Intention der „Befreiung der Tiere“, die selbst mit alleinigem Bezug auf die letztgenannte Schrift unmöglich ist, lässt in Anbetracht der in der gbs versammelten wis- VHN 1 | 2012 5 DAS PRoVok AtiVE ESSAy GeorG Feuser Menschenaffen kontra Mensch? u senschaftlichen Intelligenz nicht nur erstaunen, sondern auch vermuten, dass ihr die Vernunft fehlt. Ich verweise auf die von Steinvorth (1990) herausgearbeiteten Grundlinien einer materialen Moraltheorie. Er schreibt: „Denn die einzige Alternative zur Anerkennung des Seins ist seine Verwerfung oder die Anerkennung des Nichtseins. […] Denn was immer an möglichem Sein wirklich sein kann, davon muss man wollen, dass es wirklich ist, wenn man das Sein bejaht.“ (156) „Rechtfertigende Gründe lassen sich weder für Bejahung noch für die Verneinung des Seins anführen, und erklärende Gründe für die Bejahung zwar viele, aber auch für die Verneinung einer. Tatsächlich steht der Seinsverneiner jedoch im Matt. Seine Befürwortung des Prinzips der Seinszerstörung raubt ihm nämlich alle Gründe, die er gegen eine erzwingbare Durchsetzung des Prinzips der Seinsförderung anführen könnte“ (ebd. 163) - eben auch der Seinsförderung der Tiere 4 . Wenn es Herrn Singer (1982) wirklich darum geht, „… die nichtmenschlichen Lebewesen in unsere Sphäre moralischer Belange einzubeziehen und aufzuhören, ihr Leben als für welche trivialen Zwecke auch immer verfügbar zu betrachten“ (40), was ich uneingeschränkt zu unterstützen vermag, muss er seine „Praktische Ethik“ in allen den Lebenswert behinderter Menschen und von Säuglingen in Frage stellenden und deren Tötung befürwortenden Aussagen vollumfänglich widerrufen. Nur dadurch könnte er in seinen Forderungen für die Tiere glaubhaft - und für die gbs als preiswürdig gelten. Da ich solches aber nicht sehen kann, halte ich meinen Brief an die gbs, die Deutsche Nationalbibliothek, die Herren Metzinger (Univ. Mainz) und Singer (München) mit Kenntnisnahme an den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Herrn Hüppe, und an den Herrn Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Wulff, für zwingend erforderlich. offener brief betr.: Verleihung des Ethik-Preises der Giordano-bruno-Stiftung an Herrn Peter Singer in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt/ M. am 3. Juni 2011 Podiumsdiskussion am 4. Juni 2011 Sehr geehrte Damen und Herren! Es dürfte weder ein Mangel an Information noch an gebotener Rationalität dafür ursächlich sein, dass Sie den Ethik-Preis der Giordano-Bruno-Stiftung u. a. an Herrn Peter Singer verleihen. Diese Annahme zugrunde legend, muss ich mein Entsetzen über die Entscheidung der Stiftung äußern, die damit nicht nur einen Wissenschaftler ehrt, der nicht nur das Leben schwer beeinträchtigter Menschen, sondern auch das von (nicht behinderten) Neugeborenen zu beenden als moralisch vertretbar, in bestimmten Fällen als geboten und ethisch zu rechtfertigen ansieht, sondern damit auch das Leben, Wirken und Sterben des Giordano Bruno, dessen Namen sich die Stiftung bemächtigt, konterkariert. Ich muss mich entschieden von den von Ihnen, Herr Schmidt-Salomon, in der digitalen Pressemappe Ihrer Stiftung vom 16. 5. getroffenen Aussagen wie von Ihren Ausführungen auf der Homepage der Stiftung mit Datum vom 26. 5. 2011 unter der Überschrift „was sagt Peter Singer wirklich? “ getätigten Aussagen und Interpretationen distanzieren. Dass, wie Sie ausführen, wer die Bücher von Peter Singer gelesen und verstanden hat, nur zu dem Urteil kommen kann, dass er „einer der klarsten und mitfühlendsten Denker unserer Zeit“ ist, mag Ihre persönliche Auffassung sein, steht hier und mit der Entscheidung der Stif- VHN 1 | 2012 6 DAS PRoVok AtiVE ESSAy GeorG Feuser Menschenaffen kontra Mensch? tung aber nicht zur Debatte. Wer die Bücher gelesen und verstanden hat, kann nicht davon absehen, dass Herr Singer - wenn auch in Referenz zu seiner wissenschaftstheoretischen Grundposition des Utilitarismus und Präferenzutilitarismus - im Kern die Freigabe der Tötung von als lebensunwert bezeichneten, leidenden oder das Glück in seiner Summe (für andere) mindernden Menschen - allen voran derer, die als behindert gelten - fordert. Dies im Widerspruch zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland, die die Unantastbarkeit der Würde des Menschen in ihrem ersten Artikel feststellt. Auch die ethischen Ansätze von Herrn Singer zur Behandlung der Tiere ist davon nicht abzuspalten und völlig separiert zu betrachten, wenn er in Auflösung der Gattungsgrenzen, so fließend sie im evolutionären Prozess auch sein mögen, feststellt, dass „deren Leben [das der Tiere; GF] nach jedem Maßstab wertvoller ist als das Leben gewisser Menschen. Ein Schimpanse, ein Hund oder ein Schwein etwa wird ein höheres Maß an Bewusstsein seiner selbst und eine größere Fähigkeit zu sinnvollen Beziehungen mit anderen haben als ein schwer zurückgebliebenes Kind oder jemand im Zustand fortgeschrittener Senilität. Wenn wir also das Recht auf Leben mit diesen Merkmalen begründen, müssen wir jenen Tieren ein ebenso großes Recht auf Leben zuerkennen oder sogar ein noch größeres als den erwähnten zurückgebliebenen oder senilen Menschen.“ (Singer 1982, 40) Damit dürfte auch das Leitbild der Stiftung, die sich einem „Evolutionären Humanismus“ und einem verantwortungsvollen Umgang mit der nichtmenschlichen Tierwelt verpflichtet fühlt und dies mit Bezug auf Albert Schweitzers Aussage untermauert, dass es um „Leben geht, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, konterkariert sein und auch die für den 4. 6. 2011 vorgesehene Podiumsdiskussion (mit den Herren Prof. Dr. Metzinger und Prof. Dr. Wolf Singer) tangieren. Dass die Deutsche Nationalbibliothek, die auch die Anne-Frank-Shoah-Bibliothek beheimatet, ihre Räumlichkeiten für die Preisverleihung zur Verfügung stellt, erfüllt mich in gleicher Weise mit Entsetzen. Auf dem Hintergrund einer 1963 beginnenden und bis heute anhaltenden Arbeit mit schwerst und mehrfach behinderten und tiefgreifend entwicklungsgestörten Menschen (sie galten u. a. als „austherapiert“, „therapieresistent“, „lern- und bildungsunfähig“, als „selbst- und fremdgefährdend“, ja als „gemeinschaftsunfähig“ und waren über Jahre und Jahrzehnte hochgradig sozial und bildungsmäßig depriviert und isoliert) - seit 1978 als Ordinarius in Forschung, Theoriebildung, Lehre und pädagogisch-therapeutischer Praxis - kann jede seitens Herrn Singers fachfremd über diese Menschen gemachte Aussage widerlegt werden. Den nach Erscheinen seiner „Praktischen Ethik“ entstandenen Diskurs heute als „skandalöse Rufkampagne gegen ihn, gestrickt aus grotesken Fehldeutungen und böswilligen Unterstellungen“ zu interpretieren, wie das Herr Schmidt- Salomon für die Giordano-Bruno-Stiftung tut und mit dem Hinweis verknüpft, dass es damals leider keine Giordano-Bruno-Stiftung gegeben hat, die dem hätte entgegenwirken können, kann nur als skandalös bezeichnet werden. An Unverschämtheit aber grenzt es, wenn die Stiftung aufgrund der Stellungnahme des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen zur Preisverleihung in den Räumen der Deutschen Nationalbibliothek, Herrn Hubert Hüppe, nun, wie auf der Homepage der Stiftung verlautbart, dessen Rücktritt und eine Entschuldigung für seine Stellungnahme fordert und mit rechtlichen Schritten droht. Hier dürften sich die realen Verhältnisse bedrohlich verkehren! Hochachtungsvoll VHN 1 | 2012 7 DAS PRoVok AtiVE ESSAy GeorG Feuser Menschenaffen kontra Mensch? In Reaktion auf die Aussage des ehemaligen Schweizer Bundespräsidenten Delamuraz, der im Zusammenhang mit der Forderung einer Mithaftung der Schweiz für die Opfer von Auschwitz und einer Entschädigung in der Höhe von 250 Millionen Schweizer Franken betonte, dass Auschwitz nicht in der Schweiz liege, hebt Muschg hervor, dass Auschwitz ein Ort sei, der von keinem anderen Ort mehr oder weniger entfernt sei, und er schreibt zu diesem Ort: „Er geht, wie weit wir auch gehen, unter unseren Füßen mit.“ (Muschg 1997, 9) Er scheint auch unter den Füßen der Vertreter der gbs mitzugehen. Anmerkungen 1 Die Quelle dieses Zitates siehe: http: / / www. giordano-bruno-stiftung.de/ node/ 347 (zit. am 19. 7. 2011). Ferner sei zum sachverhalt der gbs und des ethikpreises verwiesen auf die Homepage der ,giordano-bruno-stiftung‘: http: / / www.giordano-bruno-stiftung.de/ 2 siehe als ein Beispiel von vielen möglichen Belegen das Zitat in meinem offenen Brief: singer 1982, 40. 3 Martin Luther vertrat die Auffassung von behinderten Kindern als Wechselbälgen, als vom Teufel untergeschobenen Kindern, die einer seele entbehren, als massa carnis verstanden wurden und ,ins Wasser zu stürzen‘ sind. „Denn was auch immer einer vernünftigen seele entbehrt, das ist kein Mensch: untergeschobene Kinder aber haben keine vernünftige seele …“, so G. Voigt 1667 in einer „naturwissenschaftlichen untersuchung über untergeschobene Kinder“, in der er Berichte von Luther zitiert. siehe hierzu Bachmann 1985; Luther 1919. 4 Für den Bereich der Pädagogik und Heil- und sonderpädagogik verweise ich ferner auf Brumlik 1992. Literatur Bachmann, W. (1985): Das unselige erbe des Christentums: Die Wechselbälge. Giessen: Institut für Heil- und sonderpädagogik Brumlik M. (1992): Advokatorische ethik. Bielefeld: KT Feuser, G. (1991): Die Würde des Menschen ist antastbar. In: Gemeinsam Leben. Zeitschrift für integrative erziehung 7, 35 -40 Feuser, G. (1995): Behinderte Kinder und Jugendliche. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Feuser, G. (1997): Wider die unvernunft der euthanasie. Grundlagen einer ethik in der Heil- und sonderpädagogik. Luzern [Aspekte 45, 2. Aufl.] Feuser, G. (1998): Vom Bewusstsein und der Bewusstheit. eine lebensnotwendige unterscheidung. In: Behinderte in Familie, schule und Gesellschaft 21, 6, 41 -53 Jantzen, W. (2002): Methodologische Aspekte einer postmodernen ethik. Texte zur Philosophie, Heft 10. Leipzig: rosa-Luxemburg-stiftung Jantzen, W. (2007): Allgemeine Behindertenpädagogik. Berlin: Lehmanns Media Jantzen, W. (2008): Zur politischen Philosophie der Behinderung. In: Behindertenpädagogik 47, 229 -244 Kuhse, H.; singer, P. (1993): Muss dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener. erlangen: Harald Fischer Luther M. (1919): Nachschrift von Johannes Mathesius, 1540, Nr. 5207. In: Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Tischreden, 5. Band, Weimar 1540 -1544 Muschg, A. (1997): Wenn Auschwitz in der schweiz liegt. In: Muschg, A.: Wenn Auschwitz in der schweiz liegt. Frankfurt/ Main: suhrkamp, 7 -24 reichmann, e. (1984): Handbuch der Kritischen und Materialistischen Behindertenpädagogik und ihrer Nebenwissenschaften. solms-oberbiel: Jarick singer, P. (1982): Befreiung der Tiere. München: Hirthammer singer, P. (1984): Praktische ethik. stuttgart: reclam steinvorth, u. (1990): Klassische und Moderne ethik. reinbek: rowohlt Weisser, J. (2005): Behinderung, ungleichheit und Bildung. eine Theorie der Behinderung. Bielefeld: Transcript VHN 1 | 2012 8 DAS PRoVok AtiVE ESSAy GeorG Feuser Menschenaffen kontra Mensch? Weisser, J. (2007): Für eine anti-essentialistische Theorie der Behinderung. In: Behindertenpädagogik 46, 237 -249 Zimmermann, r. (2005): Philosophie nach Auschwitz. eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft. reinbek: rowohlt Anschrift des Autors Prof. Dr. em. Georg Feuser Universität Zürich Institut für Erziehungswissenschaft, Bereich Sonderpädagogik Hirschengraben 48 CH-8001 Zürich gfeuser@ife.uzh.ch