Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2012
811
Die neue Welt der Bildungsstandards und ihre erziehungswissenschaftliche Rezeption aus der Perspektive einer Inklusiven Pädagogik
11
2012
Gottfried Biewer
Die Entwicklung von Bildungsstandards zur Steuerung des Schulwesens und zur Verbesserung des Unterrichts vernachlässigt die Problemlagen von Schüler/innen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen und berücksichtigt die Perspektive der Chancengerechtigkeit nur unzureichend. In den deutschsprachigen Ländern steht die Entwicklung von Bildungsstandards in einem engen Zusammenhang mit internationalen Schulleistungsstudien. Diese marginalisieren oder ignorieren die Gruppe von Schüler/innen mit besonderem Bildungsbedarf und machen keine Versuche, strukturelle institutionelle Defizite für benachteiligte und behinderte Kinder zu erheben. Das System des Schulleistungsmonitorings („accountability“) verstärkt ungünstige sozialräumliche Differenzierungen von Wohngebieten und Schulsprengeln. In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion über Bildungsstandards in den deutschsprachigen Ländern lässt sich weder ein Interesse an der Gruppe der Schüler mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten noch eine nennenswerte Berücksichtigung ihrer Problemlagen erkennen.
5_081_2012_001_0009
9 VHN, 81. Jg., S. 9 -21 (2012) DOI 10.2378/ vhn2012.art01d © Ernst Reinhardt Verlag Die neue Welt der Bildungsstandards und ihre erziehungswissenschaftliche Rezeption aus der Perspektive einer Inklusiven Pädagogik Gottfried Biewer Universität Wien Zusammenfassung: Die Entwicklung von Bildungsstandards zur Steuerung des Schulwesens und zur Verbesserung des Unterrichts vernachlässigt die Problemlagen von Schüler/ innen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen und berücksichtigt die Perspektive der Chancengerechtigkeit nur unzureichend. In den deutschsprachigen Ländern steht die Entwicklung von Bildungsstandards in einem engen Zusammenhang mit internationalen Schulleistungsstudien. Diese marginalisieren oder ignorieren die Gruppe von Schüler/ innen mit besonderem Bildungsbedarf und machen keine Versuche, strukturelle institutionelle Defizite für benachteiligte und behinderte Kinder zu erheben. Das System des Schulleistungsmonitorings („accountability“) verstärkt ungünstige sozialräumliche Differenzierungen von Wohngebieten und Schulsprengeln. In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion über Bildungsstandards in den deutschsprachigen Ländern lässt sich weder ein Interesse an der Gruppe der Schüler mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten noch eine nennenswerte Berücksichtigung ihrer Problemlagen erkennen. Schlüsselbegriffe: Bildungsstandards, Schulleistungsstudien, Behinderungen und Lernschwierigkeiten The New World of Educational Standards and Their Scientific Reception From the Perspective of an Inclusive Education Summary: The current development of educational standards for the control of the school system and the improvement of teaching ignores the problems of pupils with learning difficulties and disabilities and underestimates the perspective of equity in education. The development of educational standards in German speaking countries resulted to a great extent to the international school achievement studies, which marginalize or ignore students with special educational needs. Additionally, there is a lack of attempts in these studies to raise institutional structural deficits for disadvantaged and disabled children in the school systems. As a result of accountability negative aspects of socio-spatial differentiation of residential areas and school districts increase. In the scientific discourse on educational standards in German speaking countries we see only small interest in the group of students with disabilities and learning difficulties and no significant consideration of their problems. Keywords: Educational standards, accountability, disabilities and learning difficulties FachB E ITR aG ThEmE NSTR aNG Bildungsstandards 1 Inhalte des Diskurses über Bildungsstandards S eit mehreren Jahren gibt es Diskussionen über Standards schulischer Bildung, die ihren Ausgang von verwandten Entwicklungen, vorwiegend in den USA, genommen haben. Bildungswissenschaftliche sind von bildungspolitischen Diskurssträngen dabei meist schwer zu trennen. Die gesellschaftliche wie auch die wissenschaftliche Diskussion wurden in der deutschsprachigen Sonderpädagogik VHN 1 | 2012 10 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards erst in Ansätzen rezipiert. In einem die neue Entwicklung sondierenden Beitrag weist Moser Opitz (2006) auf die Gefahr der Verstärkung bereits vorhandener selektiver Tendenzen des Bildungswesens hin. Sie sieht aber gleichzeitig eine Chance, dass die Sonderpädagogik sich neu mit dem Leistungsbegriff auseinandersetzt und überlegt, wie Bildung für alle neu „gedacht, gestaltet und evaluiert werden soll und kann“ (118). Die Entwicklung von Standards sonderpädagogischer Förderung durch den Fachverband VDS und ihre Kommentierung durch Fachvertreter der akademischen Sonderpädagogik (Wember/ Prändl 2009) lässt sich aber in Teilen bislang nur schwer mit den aktuellen Diskussionslinien der Erziehungswissenschaft verbinden. Sonderpädagogische Kritiken der Bildungsstandards benennen vorwiegend Einzelaspekte der neuen Entwicklungen wie ungewollte Nebenwirkungen des Prozesses (Kronig 2008) oder die Zurücksetzung der Bildungsinteressen schwerstbehinderter Kinder aus Gründen eines ökonomischen Kalküls (Stinkes 2008). Das Ziel des vorliegenden Positionsartikels soll es sein, einige Teile des erziehungswissenschaftlichen (nicht des sonderpädagogischen) Diskurses, die für eine Inklusive Pädagogik (zur gewählten Fachbezeichnung siehe Biewer 2010, 193) von Bedeutung sind, darzustellen und kritisch zu bewerten. Der Beginn der Diskussion über Bildungsstandards kann im deutschsprachigen Raum mit der Expertise von Weinert (1999) für die OECD angesetzt werden, den darauf folgenden PISA-Studien sowie der 2003 erstmals erschienenen und später neu aufgelegten und nachgedruckten Expertise von Klieme u. a. (2007). Ein Verbund aus instruktionspsychologischen Begriffen und Theorien gelangte mit der Vorbereitung und Durchführung der PISA-Studien ab dem Jahre 2000 zu massiver medialer Aufmerksamkeit und in der Folge zur Meinungsführerschaft für die Richtung des weiteren Bildungsreformgeschehens in den deutschsprachigen Ländern. Fachpolitisch ist die deutschsprachige Rezeption verbunden mit dem massiven Einzug psychologischer Zugänge in die Schulforschung, die Felder besetzen, die zuvor eher der Erziehungswissenschaft zugeordnet waren. Der neu gewachsene gesellschaftliche Einfluss der Pädagogischen Psychologie (ich benutze diesen älteren Begriff) stärkt diesen zuvor eher randständigen Bereich innerhalb der Psychologie bis hin zu den aktuellen Tendenzen, sich als Bildungspsychologie neu zu gründen und umfassende Zuständigkeiten für alle Aspekte des Bildungsgeschehens für sich zu reklamieren (Spiel u. a. 2010). Auch wenn es sich bei der Formulierung von Bildungsstandards und bei den internationalen Schulleistungsstudien auf den ersten Blick um zwei getrennte Themen handelt, werden diese zumindest in den deutschsprachigen Ländern nicht nur in einem unmittelbaren Zusammenhang miteinander diskutiert, sondern die Wirkungen der Studien werden vielfach als Ursache für die Entwicklung und bildungspolitische Durchsetzung von Bildungsstandards betrachtet. Daher sollen beide Themen in ihrem engen Zusammenhang und in ihrer Wechselwirkung betrachtet werden. Zur Darstellung der deutschsprachigen Diskussion über Bildungsstandards können die Expertise von Oelkers und Reusser (2008) sowie die vom weitgehend identischen Autorenkreis in lehrbuchartiger Form für Adressaten aus der Lehrer/ innenbildung konzipierte Einführung in Bildungsstandards (Criblez u. a. 2009) herangezogen werden. Beide Arbeiten sind aufgrund der Autorenschaft sowohl in der Erziehungswissenschaft wie in der Pädagogischen Psychologie angesiedelt, und beide inhaltlich gleich argumentierenden Bücher geben eine gute Übersicht über einen Teil des VHN 1 | 2012 11 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards globalen und europäischen Forschungs- und Entwicklungsstandes wie auch der nationalen Umsetzungsversuche in den deutschsprachigen Ländern Deutschland, Österreich, der Schweiz und Luxemburg. Die Expertise von Oelkers und Reusser (2008) wurde im Auftrag der Bildungsministerien der beteiligten Länder erstellt und von diesen auch finanziert. Trotz teilweise kritischer Kommentierung von Einzelaspekten im Kontext der Entwicklung und Implementierung von Bildungsstandards kann die Expertise gleichzeitig als Bestandsaufnahme aktueller Entwicklungen und ihrer Genese betrachtet werden, als Prototyp einer Rezeption an der Schnittstelle von Erziehungswissenschaft und Pädagogischer Psychologie wie auch als Trendsetter für staatlich angestrebte weitere Ausgestaltungen des Bildungswesens. 2 Die Wirkung neuer Begriffe in der Bildungspolitik und der Bildungswissenschaft M it der Diskussion über Bildungsstandards sind neue Begriffe in die Diskussion gerückt, zumeist aus den USA, aber auch aus Großbritannien und Skandinavien. Es stehen dabei Termini im Vordergrund, die zuvor keine oder nur wenig Verankerung in den erziehungswissenschaftlichen Diskussionen der deutschsprachigen Länder aufwiesen. Der Begriff des Bildungsstandards selbst umfasst unterschiedliche Dimensionen wie inhaltliche Standards (etwa bei Curricula), Leistungsstandards und Standards für Lehr- und Lernbedingungen (Criblez u. a. 2009, 24ff). Verbunden ist die Einführung von Bildungsstandards mit der Abwendung von einem als „Input“-Orientierung bezeichneten Umgang mit materiellen und personellen Ressourcen und der Hinwendung zu den Ergebnissen von Unterrichtsprozessen auf der Seite der Lernenden. Dieser „Output“ soll sich in „Kompetenzen“ äußern, die sich messen lassen. Dabei bleibt es nicht bei individuellen Messungen, sondern es sind Schulen, Regionen und Länder, in denen die Kompetenzen von Schüler/ innen gemessen und miteinander verglichen werden. Gleichzeitig werden Normen aufgestellt, was im schulischen Unterricht zu erreichen sei. Diese werden je nach Opportunität als Mindest-, Durchschnitts- oder Maximalstandards formuliert. Bei den diesbezüglichen Präferenzen gibt es deutliche Unterschiede zwischen den beteiligten Akteuren in den deutschsprachigen Ländern. Während die Akteure in Deutschland zu Regelstandards tendieren, setzt die Schweiz eher auf Mindeststandards (Oelkers/ Reusser 2008, 275). Beim Lesen englischsprachiger Fachliteratur über Schulentwicklung fällt ein Begriff ins Auge, der sich nicht leicht ins Deutsche übersetzen lässt: „accountability“. Gemeint ist damit die Messung des schulischen Geschehens hinsichtlich festgelegter Indikatoren oder auch als „(Selbst-) Verpflichtung zu Bilanzierung, Rückmeldung von Daten und Rechenschaftslegung“ (Oelker/ Reusser 2008, 30). Der Begriff tauchte in der amerikanischen Diskussion bereits in den 1970er-Jahren auf. Der Stanford-Professor Henry M. Levin, auf den auch die Expertise von Oelkers und Reusser (2008) verweist, unterschied in der Zusammensicht der Verwendungen des Begriffs bereits damals vier verschiedene Formen: „accountability“ als Leistungsbericht („performance reporting“), technischer Ablauf („technical process“), politischer und institutioneller Prozess (Levin 1974, 364ff). Datenbankrecherchen zum Begriff ergeben Tausende von Verweisen in englischsprachigen Fachzeitschriften der letzten vier Jahrzehnte. Der Schwerpunkt liegt auf Beiträgen aus den USA, wo „accountability“ mittlerweile das dominierende Thema bildungswissenschaftlicher und bildungspolitischer Diskussionen geworden ist. VHN 1 | 2012 12 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards Den Begriff der Kompetenz bezeichnen Oelkers und Reusser (2008, 23) als Schlüsselkategorie des Diskurses über Bildungsstandards. Kompetenz ist kein Begriff, der in der Erziehungswissenschaft verwurzelt ist, sondern er entspringt psychologischer Kognitionsforschung. Die Expertise von Klieme u. a. (2007) trug 2003 dazu bei, dass das Begriffspaar ,Bildungsstandards‘ und ,Kompetenz‘ in Abhängigkeit voneinander festgelegt wurde und ins Zentrum der weiteren Überlegungen von Bundesbildungsministerium und Kultusministerkonferenz in Deutschland rückte. Bildungsstandards formulieren laut dieser Expertise Anforderungen an Lehre und Lernen und benennen Ziele, die sich in den gewünschten Lernergebnissen der Schüler/ innen zeigen (ebd., 19). Diese manifestieren sich als Kompetenzen, die Schüler/ innen in einer bestimmten Altersstufe erworben haben und die über Testverfahren erfassbar sein sollen (ebd.). Durchgesetzt hat sich im überwiegenden Teil der Literatur eine Definition von Weinert (2001, 27f), der unter Kompetenz „die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ versteht. Bei der Betrachtung der Werkzeuge und Verfahren zur Implementierung von Bildungsstandards (Oelkers/ Reusser 2008, 303 - 430) fällt auf, dass in der begrifflichen Hierarchie „Kompetenz“ vor „Bildung“ rangiert und den Begriff der Erziehung weitgehend verdrängt hat. Damit findet sich die Deutung des pädagogischen Geschehens in einem völlig neuen begrifflichen Referenzrahmen wieder. Worin der Gewinn von „Kompetenz“ als neuem Zentral-Begriff der Bildungsreform bestehen soll, konnte bisher noch von niemandem überzeugend aufgezeigt werden. Die inhaltlichen Unklarheiten bis hin zu einer fast beliebigen Verwendbarkeit sind mittlerweile umfänglich analysiert (z. B. bei Ladenthin 2010). Selbst Oelkers und Reusser (2008, 23) sehen hier mittlerweile einen inflationären Gebrauch und, ähnlich wie zuvor beim Intelligenzbegriff, eine inhaltliche Ausweitung auf fast alle denkbaren pädagogischen Zielaussagen. So heißt es bei den Autoren: „Fast alle pädagogischen Zielaussagen werden heute als Kompetenzen etikettiert. Zwischen einem empirisch gesicherten und einem frei verwendeten Konzept lässt sich nur noch mit Mühe unterscheiden.“ (ebd.) Eine kritische wie eine traditionelle Erziehungswissenschaft begegnet der neuen Terminologie mit Akteuren wie „Kompetenz“ und „Qualitätsmanagement“ schon seit Jahren mit Skepsis, wie sie sich 2010 in Köln auf dem Kongress „Bildungsstandards auf dem Prüfstand - Der Bluff der Kompetenzorientierung“ erneut artikulierte. Diese geht einher mit einer zunehmenden Skepsis der in der Schule tätigen Lehrkräfte, die mit der neuen Begriffswelt häufig genauso wenig anfangen können wie mit den darauf aufgebauten und für die verschiedenen Fächer und Schultypen neu formulierten Bildungsstandards. 3 Schüler/ innen mit Behinderungen und Lernstörungen in der neuen Welt der Bildungsstandards S chüler/ innen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten im Sinne der Kategorien A und B der OECD (OECD/ CERI 2005), von denen nachfolgend die Rede sein wird, unterscheiden sich von anderen dadurch, dass sie den verschiedensten im Bildungswesen formulierten Normen nicht genügen. Es gehört daher nicht viel Fantasie dazu zu vermuten, dass sich durch einen dermaßen breit angelegten Normierungsprozess wie der Entwicklung von Bildungsstandards systeminhä- VHN 1 | 2012 13 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards rente Problemlagen bei dieser Schüler/ innengruppe kumulieren werden. Inwieweit dies der Fall ist, soll nachfolgend diskutiert werden. 3.1 Zielgruppen der Sonderpädagogik in den internationalen Schulleistungstests Es gibt in den deutschsprachigen Ländern unterschiedlich weit entwickelte Ausformulierungen von Qualitätsstandards auch für den sonderpädagogischen Bereich, was sich aber in den kommenden Jahren vielleicht noch ändern wird. Um zu sehen, wohin die Reise hier gehen kann, ist der Blick auf die internationalen Schulvergleichsstudien hilfreich. Bernadette Hörmann ist der Frage nachgegangen, „inwieweit Kinder mit Lernbehinderungen in nationale und internationale Schulleistungsstudien insbesondere in Österreich (bzw. im deutschsprachigen Raum und in Europa) einbezogen sind“ (Hörmann 2007, 56). Aus einer Aufarbeitung angloamerikanischer Literatur nennt Hörmann (2008, 61) drei Möglichkeiten, wie Kinder mit Behinderungen und Lernbeeinträchtigungen in Testuntersuchungen einbezogen werden können: die reguläre Teilnahme am Test, die Verwendung abgeänderter Versionen und die Verwendung alternativer Tests. Nebst dem damit verbundenen Aufwand werden methodische Probleme der Untersuchung gegen abgeänderte Versionen und alternative Tests ins Feld geführt. Beide Möglichkeiten spielen in den laufenden großen Studien wie PISA oder TIMSS keine Rolle. Stattdessen wird in den einzelnen Ländern mit Kindern mit Behinderungen unterschiedlich verfahren. Häufig wird die Problematik ignoriert (Hörmann/ Hopmann 2011) oder die mit den Studien befassten Personen erkennen die Problemlage nicht (Hörmann 2007). Beim Blick in die US-amerikanische Fachliteratur finden sich in den vergangenen Jahren wiederholt Arbeiten, die den Versuch unternehmen, ein quantitativ-empirisches Forschungsinstrumentarium zu liefern, das es ermöglichen soll, Kinder mit Behinderungen und Lernbeeinträchtigungen in die Schulleistungsstudien mit einzubeziehen. Eine aktuelle Übersicht findet sich in einem Beitrag des Journals der American Educational Research Association (Buzick/ Laitusis 2011). Die hier intendierten Verfahren zielen insbesondere auf die Feststellung des individuellen Kompetenzwachstums („growth-based accountability“) und werden vorgeschlagen für Schulen mit einer größeren Zahl von Schüler/ innen mit Behinderungen. So soll der Entwicklungsstand zu einem bestimmten Zeitpunkt festgestellt werden und als Vergleichsbasis für nachfolgende Erhebungen dienen. Weiter wird versucht, die Beiträge von Lehrkräften und Schulen zur Entwicklung der Kompetenzen der Schüler/ innen zu messen („value-added models“). Inwieweit die aufwendigen Untersuchungsinstrumente im Alltag von „accountability“ tatsächlich Verwendung finden, lässt sich nur schwer nachprüfen. Wie geht die gegenwärtige erziehungswissenschaftliche Diskussion mit dem Problemfeld von Behinderungen und Lernbeeinträchtigungen um? Betrachtet man die beiden Darstellungen von Oelkers und Reusser (2008) und Criblez u. a. (2009), so werden bereits einige Problemfelder angedeutet, die sich mit den Erhebungen mittels Testverfahren ergeben. Dies gilt gleichermaßen für die Verwendung in den internationalen Studien wie auch in regionalem Rahmen. So werden Untersuchungen referiert, nach denen Lehrkräfte den selektionsdiagnostischen Nutzen der Testverfahren höher einschätzen als den förderdiagnostischen (Criblez u. a. 2009, 113). Als schwierig wird die Erarbeitung von Tests beschrieben, die der Leistungsheterogenität gerecht werden. Auch wird erwähnt, dass mit der Begrenzung der Untersuchungen der PISA-Studien auf Schüler/ innen, die schrei- VHN 1 | 2012 14 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards ben und lesen können, de facto ein Ausschlusskriterium in Bezug auf einen Großteil der Schüler/ innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf geschaffen wurde. Die vorliegenden Schulleistungsstudien fokussieren auf die Schüler/ innen, deren Kompetenzen erfasst werden sollen. Dass dies nicht die einzige denkbare Perspektive für Schulleistungsstudien sein muss, wird in der gegenwärtigen Situation fast schon vergessen. Ulrich Herrmann verweist auf die Umstände, unter denen im deutschen Schulsystem im 19. Jahrhundert Noten eingeführt wurden (Herrmann 2008, 284): als Medium zur Kontrolle der Fähigkeiten der Lehrkräfte. Erst um 1900 habe sich die Perspektive hin zur Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler verschoben. In einem kritischen Kommentar zu den internationalen Schulvergleichen fragt Ulrich Herrmann: „Hätte es nicht nahegelegen, nicht Leistungsstandards für Schüler, sondern für Lehrkräfte zu entwickeln? Oder für spezifische Schul- und Unterrichtssituationen und -kontexte wie z. B. Stadt/ Land, große/ kleine Klassen, Gesamt-/ gegliederte Schulen, viele/ wenige Migranten, Lehrkräfte mit hoher/ geringer pädagogisch-didaktisch-methodischer Expertise, engagierte/ desinteressierte Eltern? “ (ebd.) Analog könnten Schulleistungsstudien nach den Fähigkeiten der Lehrkräfte und Schulen fragen, dem besonderen Bedarf von Schülerinnen und Schülern mit Benachteiligungen, Lernschwierigkeiten und Behinderungen gerecht zu werden. 3.2 Bildungsmonitoring als motor sozialräumlicher und institutioneller Differenzierungsprozesse Die gegenwärtige Diskussion der Erziehungswissenschaft nimmt nicht zur Kenntnis, dass durch die Erstellung und Verbreitung von Schüler/ innenleistungserhebungen sozialräumliche Ungleichheiten verstärkt und Bildungsprozesse marginalisierter Schüler/ innengruppen zusätzlich erschwert werden. Die Zusammenhänge sind evident und mit der Analyse langfristiger Entwicklungen auch veranschaulicht. Der Zusammenhang von materieller Armut und Bildungsbenachteiligung ist vielfach nachgewiesen. Die Konzentration von Schüler/ innen mit Lernbeeinträchtigungen in bestimmten benachteiligten Wohngebieten ist gleichermaßen Gegenstand des Alltagswissens aller in diesem Feld tätigen Pädagog/ innen wie auch einschlägiger Studien seit den 1970er Jahren. Die Setzung von landesweit geltenden Bildungsstandards für einzelne Fächer und Altersstufen durch die Bildungspolitik berücksichtigt die sozialräumlichen Disparitäten nicht. Mit der durch Messungen bestätigten völligen Diskrepanz von Bildungszielen und tatsächlichen Kompetenzen der Schüler/ innen wird kein handlungsrelevantes Wissen für die im schulischen Feld Tätigen generiert. Die Arbeit von Joachim Schroeder (2002) zeigt am Beispiel des Hamburger Stadtteils Wilhelmsburg für einen Zeitraum von rund 150 Jahren auf, wie sozialräumliche Differenzierungsprozesse verlaufen und welche Folgen sie für die Kinder und Jugendlichen haben, die in solchen marginalisierten Bildungsräumen aufwachsen. Aber auch zahllose andere Arbeiten, die weniger umfänglich Quellen aufarbeiteten, konnten das Phänomen ungünstiger sozialräumlicher Differenzierungsprozesse nachweisen. Die öffentliche Zurschaustellung ungünstiger Schülerleistungen einer Schule, wie sie in amerikanischen Accountability-Prozessen üblich ist, führt keinesfalls zur Verbesserung der Situation benachteiligter Schüler/ innen, sondern zur Verstärkung derbeschriebenenNegativtendenzen. Bedingt sind sie durch den Wegzug von Eltern aus dem Schulsprengel und das Meiden vermeintlich „schlechter“ Schulen. „Accountability“ ist sicher nicht die Ursache für solche Entwicklungen, aber ein massiver Verstärker dieser Negativtrends. VHN 1 | 2012 15 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards Doch es sind nicht nur sozialräumliche Differenzierungsprozesse, die befördert werden. Es sind auch eher versteckte interne Selektionsprozesse in den Schulen, die nicht diejenigen Schüler/ innen bekommen, die sie gerne für das vergleichende Ranking hätten. Schulen, die im Prozess des permanenten Leistungsmonitorings von öffentlicher Herabstufung bedroht sind, reagieren vielleicht nicht mit der erwünschten Verbesserung ihres Unterrichts, sondern eher mit dem Versuch, leistungsschwache Schüler/ innen aus Testungen und Schule fernzuhalten. Bereits die OECD/ CERI (1999, 34f) hat auf diese unerwünschten Folgen hingewiesen, welche die Inklusion von Kindern mit Behinderungen und Lernbeeinträchtigungen in die allgemeine Schule behindern. Auch wenn kleinräumliche Schulvergleiche, die in den USA seit Jahren üblich sind, gegenwärtig in deutschsprachigen Ländern noch nicht propagiert werden, so ist auch hier Vorsicht angebracht. Es ist nicht das Gesamtpaket, das solches verbietet, sondern es ist eher eine Frage der politischen Durchsetzbarkeit und Opportunität. Angesichts der Tatsache, dass Bildungsstandards erst formuliert wurden oder dieses Unterfangen, wie in Österreich, erst vor Kurzem begonnen hat, kann der Versuch der Implementierung solcher Verfahren auch für die deutschsprachigen Länder für die nächsten Jahre mit gutem Grund befürchtet werden. 3.3 Ergebnis-Orientierung statt Entwicklungs-Orientierung Die deutsche Kultusministerkonferenz (KMK 2005, 5) sieht es als Ziel der Beteiligung an internationalen Vergleichsstudien, „gesicherte Befunde über Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler in den zentralen Kompetenzbereichen zu erhalten“. Während in der Fachdiskussion Bildungsstandards durchaus breit im Sinne von Leistungsstandards, inhaltlichen Standards und Opportunity-to-Learn-Standards betrachtet werden können, dominiert in der Bildungspolitik Deutschlands der verengte Blick auf die schulischen Leistungsstandards. Dies gilt tendenziell auch für die Schweiz, wenngleich im Bildungsbericht der Schweiz (SKBF 2010) Equity als Kriterium durchgängig für alle institutionellen Bereiche genannt ist. Auch wenn Equity neben Effektivität und Effizienz eine der Hauptdimensionen der schweizerischen Bildungsberichterstattung darstellt, führt dies noch nicht zur Berücksichtigung der Belange von Schüler/ innen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten, da Equity nur im Hinblick auf drei ausgewählte Kriterien analysiert wird: „die soziale Herkunft, den Migrationshintergrund und das Geschlecht.“ (ebd., 33) Die Schweiz favorisiert das Modell der Formulierung von Mindeststandards, auch um den Blick auf leistungsschwächere Schüler/ innen zu lenken. Es stellt sich die Frage, ob nicht gerade dieses Modell zu Ausschlüssen von Schüler/ innen mit Behinderungen und Lernbeeinträchtigungen führt, da diese oft keine Chancen haben, auch nur die Mindeststandards zu erfüllen. So bleibt die Option, sie nicht in das schulische Assessment-System miteinzubeziehen oder ihnen zu bescheinigen, dass sie den Minimalstandards schulischer Leistungen nicht genügen. Was mit behinderten und lernbeeinträchtigten Schüler/ innen in der neuen Welt der Bildungsstandards zu geschehen hat, dafür gibt es leider keine brauchbaren Vorschläge. Während die UNO und ihre Unterorganisationen inklusive Bildungssysteme propagieren, kann die technokratische Bildungsreform unter dem Leitgedanken der Entwicklung und Implementierung von Bildungsstandards den Zug wieder in eine Gegenrichtung lenken. Mit der Umsetzung von Bildungsstandards ist so- VHN 1 | 2012 16 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards wohl das Bildungsrecht für schwerstbehinderte Kinder gefährdet (Stinkes 2008) wie auch die Etablierung eines inklusiven Bildungssystems beeinträchtigt. Die Lektüre der hier rezipierten erziehungswissenschaftlichen Arbeiten (Klieme 2007; Oelkers/ Reusser 2008; Criblez u. a. 2009) liefert zumindest keine Anhaltspunkte für eine gegenteilige Sicht. Die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahre 2006, die von Deutschland und Österreich ratifiziert wurde und somit den Rahmen für die Gesetzgebung in beiden Ländern absteckt, plädiert in Artikel 24 für die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems, das die erforderlichen Hilfestellungen für Kinder mit Behinderung in der Regelschule bereitstellt. Eine konventionsgerechte Formulierung von Bildungsstandards müsste daher die Bildungsumwelt in besonderem Maße berücksichtigen. Es müssten Rahmenbedingungen formuliert werden, die die Entwicklung unter erschwerten Bedingungen erleichtern oder ermöglichen. Alles dies geschieht mit dem verengten Blick auf die Kompetenzen des Kindes nicht. Mit der Feststellung, dass Kinder mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten abtestbaren Mindeststandards nicht genügen, ist niemandem gedient, denn dies ist ohnehin bekannt. Der Umstand, dass das Bildungswesen ihnen nicht gerecht wird, ist ebenfalls evident, andernfalls wäre eine sonderpädagogische Klassifizierung nicht erfolgt. Interessant wäre aber die Erhebung der äußeren Faktoren, die zu Schulversagen in der Regelschule führen. Feststellungen von Kausalitätsverhältnissen werden aber in der Welt der Bildungsstandards nirgendwo intendiert. Die Erhebung von Rahmenbedingungen, für die es mit den Opportunity-to-Learn-Standards auch einen passenden Begriff gibt, spielt in der aktuellen deutschsprachigen Diskussion über Bildungsstandards keine nennenswerte Rolle. Der diesem Denken zugrundeliegende Zugang läuft hingegen eher Gefahr, als Input-Orientierung diskreditiert zu werden. 4 Triebkräfte und auswirkungen globaler bildungspolitischer Entwicklungen E s handelt sich bei der aktuellen Diskussion über Bildungsstandards um Erscheinungsformen globaler Entwicklungen, die ihren Ausgangspunkt in nationalen Diskursen weniger Länder haben und über die Tätigkeit internationaler Organisationen, insbesondere der OECD, eine weltweite Verbreitung finden und zu globalen Normierungen bildungspolitischer Aktivitäten führen. Dabei existieren durchaus unterschiedliche, teilweise kontroverse Strömungen parallel nebeneinander und werden je nach Zweckmäßigkeit der eigenen Zielsetzungen rezipiert, propagiert oder ignoriert. Dieser selektive Umgang mit Inhalten hat teilweise gegensätzliche Auslegungen von Befunden internationaler Studien zur Folge. Zahlreiche Beispiele für den extrem unterschiedlichen Umgang mit den Ergebnissen von Schulvergleichsstudien finden sich in einem lesenswerten Beitrag von Stefan Hopmann (2008) sowie in dem PISA-kritischen Sammelband von Hopmann u. a. (2007), wo es in der zusammenfassenden Würdigung der dort publizierten 18 Beiträge von Forscher/ innen aus 7 europäischen Ländern im Vorwort der Herausgeber/ innen bereits heißt: „Das PISA-Projekt ist offenkundig mit so vielen Schwachstellen und Fehlerquellen belastet, dass sich zumindest die populärsten Endprodukte, die internationalen Vergleichstabellen sowie die meisten nationalen Zusatzanalysen zu Schulen und Schulstrukturen, Unterricht, Schulleistungen und Problemen wie Migration, sozialer Hintergrund, Geschlecht usw., in den bisher praktizierten Formen wissenschaftlich schlicht nicht aufrecht erhalten lassen.“ (Hopmann u. a. 2007, 2) Daraus folgern die Herausgeber/ innen, es sei derjenige nicht gut beraten, der „auf dieser Grundlage über Schulstrukturen, Lehrpläne, nationale Tests oder die zukünftige Lehrerbildung befinden will“ VHN 1 | 2012 17 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards (ebd.). Angesichts der vielfach gegensätzlichen Deutungen und miteinander unvereinbaren Folgerungen aus identischen Daten, bei denen in der öffentlichen Rezeption an einer Stelle die zu frühe Selektion benachteiligter Gruppen und andernorts die unzulängliche Förderung leistungsstarker Schüler/ innen moniert werden, kommt eine Aufarbeitung der gegenwärtigen Diskurse zu den Schulleistungsstudien nicht um die Frage nach den den Studien und ihren Interpretationen zugrunde liegenden Normen und den dahinter stehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Interessen herum. Der Neo-Institutionalismus hat für die in der Diskussion über Bildungsstandards erkennbaren Phänomene globaler Normierung den Begriff der „World Polity“ (Meyer 2005) geprägt. Auch im Bildungswesen sind weltweite Normierungstendenzen keine neue Erscheinung, sondern können an zahlreichen älteren und jüngeren Beispielen aufgezeigt werden (Schriewer 2007). Aktuell ist festzustellen, dass im Bildungswesen die globale Standardisierung zunimmt, dass Gemeinsamkeiten nationale Unterschiede zunehmend ersetzen und dass es sich hier um eine Entwicklung handelt, die „Top-down“ zentrale globale Konzepte in Ländern implementiert, deren bisherige Bildungsgeschichte oft kaum einen Bezug dazu hatte (Meyer/ Ramirez 2007). Selbst wenn die neo-institutionalistische Deutung dieses Prozesses als „globale kulturelle Inszenierung“ nicht geteilt wird, sind die beschriebenen Wirkmechanismen doch erklärungsmächtig in Bezug auf zahlreiche aktuelle weltweite Entwicklungen im Bildungswesen. Die Entwicklung der zentralen Konzepte wie z. B. der Kompetenzmodelle im Kontext von Expertengremien und im Auftrag der OECD, die Erprobung über internationale Vergleichsstudien und die nachfolgend massiven Versuche, die neu gewonnenen Modelle flächendeckend in der schulischen Praxis zu etablieren, scheinen die neo-institutionalistische Interpretationsvariante der gegenwärtigen Entwicklungen zu belegen. 5 Die normative Basis von Bildungsstandards und die Zielsetzungen Inklusiver Pädagogik S chon bevor Bildungsstandards auf wissenschaftlicher Ebene entwickelt und auf schuladministrativer Ebene technisch umgesetzt wurden, sind weitreichende normative Entscheidungen gefallen. Diese zeigen sich an den verwendeten Begriffen, an den Zielsetzungen von Tests, an den Steuerungsvorschlägen für Schulen und an den Umsetzungsvorschlägen für deren Implementierung. Es ist daher von Interesse, die zugrunde liegenden Normen herauszuarbeiten und kritisch zu hinterfragen und sie mit denjenigen Normen zu vergleichen, auf denen eine Inklusive Pädagogik in ihren schulpolitischen Zielsetzungen aufbauen sollte. Bildungsstandards für Schüler/ innen mit Behinderungen und Lernbeeinträchtigungen können nicht output-orientiert im Sinne fachdidaktisch festgelegter Kompetenznormen sein (Kronig 2008). Naheliegender ist eine Prozessorientierung im pädagogischen Handeln der Lehrkraft auf der Mikro- und am Prinzip der sozialen Gerechtigkeit auf der Makroebene. Hier gibt es sozialethische Diskurse in einem global prominenten Rahmen, von denen die gegenwärtige Diskussion über Bildungsstandards aber weitgehend unberührt blieb. Der vom Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen und der Philosophin Martha Nussbaum entwickelte Capabilities Approach (CA) bietet mit veränderten Basisbegriffen das Potenzial für einen neuen Blick auf Bil- VHN 1 | 2012 18 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards dungsstandards (Sen 2010; Nussbaum/ Sen 1993; Nussbaum 2007; Nussbaum 2011). „Capabilities“ sind Befähigungen, die eine Wahl ermöglichen. Sie schlagen sich nieder in Funktionsweisen („functionings“) aus Handlungen („doings“) und Zuständen („beings“). Am Beispiel der Unterscheidung zwischen Hungern und Fasten als Bezeichnung für denselben physiologischen Vorgang („functioning“) wird der entscheidende Unterschied veranschaulicht. Im Fall des Fastens ist es die freie Entscheidung des Menschen, während der Hungernde keine andere Wahl hat. Nussbaum bezeichnet in ihrem einführenden Werk die Wichtigkeit von Bildungsprozessen als Herzstück des CA (Nussbaum 2011, 152). Als Resultat von Bildungsprozessen steigt für die Menschen die Freiheit, zwischen verschiedenen Optionen zu wählen und Ziele zu verwirklichen. Die Steigerung der Lebensqualität als Zielperspektive, damit zusammenhängend die Betonung des Selbstwerts von Bildung und der breite Blick auf den Bildungsprozess (ebd. 152ff), der z. B. auch Gesundheitserziehung umfasst, könnte helfen, die inhaltlichen Verengungen der gegenwärtigen Diskussion über Bildungsstandards zu überwinden. Mit der Frage, was die ökonomische Entwicklung zur Steigerung der Lebensqualität der beteiligten Menschen beiträgt, unterscheidet sich der CA von Entwicklungsmodellen, die vor allem eine Steigerung des Bruttosozialprodukts im Blick haben und Bildungsfragen primär unter dem Primat der Wettbewerbsfähigkeit zwischen Volkswirtschaften betrachten. Diese ökonomische Zielperspektive steht mehr oder minder unausgesprochen hinter den internationalen Schulleistungsstudien. Der CA eignet sich für eine Diskussion von Bildungsstandards aus der Position einer Inklusiven Pädagogik auch durch seine Nähe zu ökonomischen Theorien bei gleichzeitiger Betonung der Menschenrechtsperspektive und der Berücksichtigung der Belange benachteiligter und behinderter Menschen (Sen 2009). Will man im geläufigen Sprachgebrauch der Bildungsstandarddiskussion verbleiben, steht hier „Equity“ statt „Effizienz“ im Vordergrund. Nussbaum betont an vielen Stellen ihrer Werke die Notwendigkeit der Priorisierung der Interessen behinderter und benachteiligter Menschen für die gesellschaftliche Entwicklung. Eine Rezeption dieses einflussreichen sozialethischen Ansatzes für die Inklusive Pädagogik bietet sich damit an. Mit der Arbeit von Lorella Terzi (2010) wurde der CA in den Kontext einer Pädagogik bei Behinderungen und einer Inklusiven Pädagogik gestellt. Gegenwärtig beginnt die deutschsprachige Erziehungswissenschaft, das Potenzial des CA zu entdecken, z. B. bei Forschungen zur sozialen Ungleichheit im Bildungsprozess. Otto und Schrödter (2010) schlagen in diesem Kontext vor, für eine kritische Bildungsforschung den Kompetenzbegriff zugunsten des Capability- Konzepts aufzugeben. Eine kritische Aufarbeitung des Diskurses über Bildungsstandards auf der Grundlage des CA böte nicht nur die Möglichkeit, die Auswirkungen aktueller bildungswissenschaftlicher und -politischer Fehlentwicklungen zu analysieren, sondern auch konzeptionellen Überlegungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ein bildungsphilosophisches Fundament zu geben. Die gegenwärtige Aufarbeitung der Diskussion über Bildungsstandards durch die Erziehungswissenschaft im deutschsprachigen Raum (Oelkers/ Reusser 2008; Criblez u. a. 2009) ist in weiten Teilen selektiv und hat mit ihrer Orientierung an verengten Kompetenzmodellen und ihrer Marginalisierung der Gerechtigkeitsdimension von Bildung für eine Inklusive Pädagogik auch dort wenig zu bieten, wo die Perspektiven von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf erwähnt werden. VHN 1 | 2012 19 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards Der Diskurs über Bildungsstandards, wiewohl von Akteuren wie der OECD inspiriert, hat aber auch zu einer Neubesinnung der Grundlagen schulischen Handelns geführt. Mit dem Vorwurf, mit viel Aufwand mangelnde Lernresultate im Bildungssystem zu produzieren, setzen sich mittlerweile fast alle Akteure des Bildungswesens auseinander, mit dem Ergebnis, sich auch auf Gegenentwürfe für die Bildungsreform zu besinnen. Controlling und Monitoring als ständige Begleiter autonom handelnder Lehrkräfte können nur dann die Deutungshoheit über das schulische Geschehen beanspruchen, wenn die normativen Grundlagen bei den im Feld Handelnden auf breiten Konsens stoßen. Davon kann gegenwärtig nicht die Rede sein. Insbesondere im sonderpädagogischen Bereich mit seinen kleinen Bezugsgruppen und ihren speziellen Problemlagen können die vorliegenden Kompetenzmodelle mit wenig Unterstützung rechnen. Eine Inklusive Pädagogik mit der Vision einer inklusiven Gesellschaft tut sich besonders schwer mit den hier vermittelten neuen Inhalten. Dem globalen Projekt „Equity in Inclusive Education“, das von der Arizona State University ausgegangen ist, kann unterstellt werden, dass diese gesellschaftliche Vision die Forschungsaktivitäten leitet. Es umfasst Wissenschaftler/ innen aus vier Kontinenten, die Bildungsprozesse ihrer Herkunftsländer im Hinblick auf die Zielsetzung öffentlicher Erziehung und den Zugang zu personellen und materiellen Ressourcen vergleichen, aber unter Berücksichtigung der soziokulturellen Differenzen zwischen den Ländern (Artiles u. a. 2012). Indem dieses internationale Projekt auf Standards im Bildungswesen unter dem Leitgedanken der Chancengerechtigkeit fokussiert, ist es ebenfalls Teil eines globalen Bildungsdiskurses, aber bei deutlich anderen normativen Setzungen als beim Mainstream der bisherigen Bildungsstandard- Diskussion. 6 Fazit D er vorliegende Beitrag wendet sich nicht prinzipiell gegen die Entwicklung und Etablierung von Standards im Bildungswesen. Er nimmt aber die schwerwiegenden negativen Folgen der aktuellen Entwicklungen für die Zielgruppe heilpädagogischer Bemühungen zur Kenntnis und stellt fest, dass in den etablierten Diskursen der Erziehungswissenschaft bisher noch wenig Sensibilität für die vorliegenden Problemlagen entstanden ist. An dem Versuch, Effektivität und Effizienz von Unterricht zu steigern und gleichzeitig messbar zu machen, wäre aus der Perspektive einer Inklusiven Pädagogik wenig auszusetzen, wenn die Begleiterscheinungen dieses Vorhabens nicht in vielen Punkten konträr zu den Zielsetzungen unseres Fachgebiets stünden, dem es primär um die Gewährung von Entwicklungschancen behinderter und benachteiligter Kinder und Jugendlicher geht. An dieser Einschätzung ändert nichts, dass manchmal Chancengerechtigkeit („equity“) als weitere, aber uneingelöste Dimension in den Konzepten zur Implementierung von Bildungsstandards auftaucht. Die Ignorierung von Problemlagen von Schüler/ innen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen, die unzureichende Berücksichtigung der Perspektive der Chancengerechtigkeit, die Marginalisierung bis hin zum Ausschluss behinderter und lernbeeinträchtigter Schüler/ innen aus den internationalen Schulleistungsstudien, die gesellschaftliche Entwertung der Schüler/ innen mit minderer schulischer Leistungsfähigkeit, die fehlenden Versuche, strukturelle institutionelle Defizite für benachteiligte und behinderte Kinder zu erheben, sowie die Verstärkung von ungünstigen sozialräumlichen Differenzierungen von Wohngebieten und Schulsprengeln als Folge von Schulvergleichen gehen einher mit einem Mangel an Problembewusstsein über die Fol- VHN 1 | 2012 20 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards gen ihrer Tätigkeit bei den politischen wie wissenschaftlichen Akteuren der neuen Welt der Bildungsstandards. Die mit viel Steuergeld implementierten Modelle zur Schulentwicklung haben ihren Anspruch, Effizienz, Effektivität und manchmal auch Chancengerechtigkeit zu steigern, noch nicht nachgewiesen. Die zunehmende Kritik an der neuen Welt der Bildungsstandards in Kombination mit der Erfolglosigkeit bei der Operationalisierung der anvisierten Kompetenzen können die Vorboten sein für das absehbare Scheitern einer wissenschaftlichen wie technokratischen Utopie. Literatur Artiles, Alfredo; Kozleski, Elizabeth; waitoller, frederico (Hrsg.) (2012): Equity in Inclusive Education in four Continents. A Cultural Historical Multilevel Model. Cambridge MA: Harvard Education Press (under review) Biewer, Gottfried (2010): Grundlagen der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik. 2. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Buzick, Heather M.; Laitusis, Cara Cahalan (2011): Using Growth for Accountability: Measurement Challenges for Students with Disabilities and Recommendations for Research. In: Educational Researcher 39, 537 -544 Criblez, Lucien; Oelkers, Jürgen; Reusser, Kurt; Berner, Esther; Halbheer, Ueli; Huber, Christina (2009): Bildungsstandards. Seelze-Velber: Kallmeyer und Klett Herrmann, Ulrich (2008): „Bildungsstandards“ und Bildungsstandards - Effekte partizipativer Bildungsprozesse. In: Rihm, thomas (Hrsg.): teilhaben an Schule. wiesbaden: VS, 279 -290 Hopmann, Stefan t. (2008): No Child, No School, No State Left Behind: Schooling in the Age of Accountability. In: Journal of Curriculum Studies 40, 417 -456 Hopmann, Stefan t.; Brinek, Gertrud; Retzl, Martin (Hrsg.) (2007): PISA zufolge PISA - PISA According to PISA. Hält PISA, was es verspricht? - Does PISA Keep what It Promises? Münster: LIt Hörmann, Bernadette (2007): Die Unsichtbaren in PISA, tIMSS & Co. Kinder mit Behinderungen in nationalen und internationalen Schulleistungsstudien. wien: Universität wien (Diplomarbeit) Hörmann, Bernadette (2008): Die Unsichtbaren in PISA, tIMSS & Co. Kinder mit Behinderungen in nationalen und internationalen Schulleistungsstudien. In: Eder, ferdinand; Hörl, Gabriele (Hrsg.): Gerechtigkeit und Effizienz im Bildungswesen. Münster: LIt, 57 -70 Hörmann, Bernadette; Hopmann, Stefan t. (2011): Marginalisierungsprozesse von Menschen mit Behinderungen im Rahmen von „School-Accountability“-Maßnahmen. In: flieger, Petra; Schönwiese, Volker (Hrsg.): Menschenrechte - Integration - Inklusion. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 105 -110 Klieme, Eckart; Avenarius, Hermann; Blum, werner; Döbrich, Peter; Gruber, Hans; Prenzel, Manfred; Reiss, Kristina; Riquarts, Kurt; Rost, Jürgen; tenorth, Heinz-Elmar; Vollmer, Helmut J. (2007): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Berlin: BMBf KMK, Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.) (2005): Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung. München, Neuwied: Luchterhand Kronig, winfried (2008): Unstandardisierbar - Normierung zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit. In: Sonderpädagogische förderung heute 53, 229 -238 Ladenthin, Volker (2010): Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit. In: http: / / www.bildung-wissen.eu/ tagungen/ Ladenthin-Kompetenzen_Koeln% 202010-2.pdf, 19. 3. 2011 Levin, Henry M. (1974): A Conceptual framework for Accountability. In: the School Review 82, 363 -391 Meyer, John w. (Hrsg.) (2005): weltkultur. wie die westlichen Prinzipien die welt durchdringen. frankfurt: Suhrkamp Meyer, John w.; Ramirez, francisco O. (2007): the world Institutionalisation of Education. In: Schriewer, Jürgen (Hrsg.): weltkultur und kulturelle Bedeutungswelten. Zur Globalisierung von Bildungsdiskursen. frankfurt, New York: Campus, 279 -297 VHN 1 | 2012 21 FachB E ITR aG GOttfRIED BIEwER Die neue welt der Bildungsstandards Moser Opitz, Elisabeth (2006): PISA und die Bildungsstandards: Stein des Anstoßes oder Anstoß für die Sonderpädagogik? In: VHN 75, 110 -120 Nussbaum, Martha (2007): frontiers of Justice. Disability - Nationality - Species Membership. Cambridge MA, London: the Belknap Press of Harvard University Press Nussbaum, Martha (2011): Creating Capabilities. the Human Development Approach. Cambridge MA, London: the Belknap Press of Harvard University Press Nussbaum, Martha; Sen, Amartya (Hrsg.) (1993): the Quality of Life. Oxford, New York: Oxford University Press OECD, Centre for Educational Research and Innovation (1999): Inclusive Education at work. Students with Disabilities in Mainstream Schools. Paris: OECD OECD, Centre for Educational Research and Innovation (2005): Students with Disabilities, Learning Difficulties and Disadvanages. Statistics and Indicators. Paris: OECD Oelkers, Jürgen; Reusser, Kurt (2008): Expertise: Qualität entwickeln - Standards sichern - mit Differenz umgehen. Bonn, Berlin: BMBf Otto, Hans-Uwe; Schrödter, Mark (2010): „Kompetenzen“ oder „Capabilities“ als Grundbegriffe einer kritischen Bildungsforschung und Bildungspolitik? In: Krüger, Heinz-Hermann; Rabe-Kleberg, Ursula; Kramer, Rolf-torsten; Budde, Jürgen (Hrsg.): Bildungsungleichheit revisited. Bildung und soziale Ungleichheit vom Kindergarten bis zur Hochschule. wiesbaden: VS, 163 -183 Schriewer, Jürgen (Hrsg.) (2007): weltkultur und kulturelle Bedeutungswelten. Zur Globalisierung von Bildungsdiskursen. frankfurt, New York: Campus Schroeder, Joachim (2002): Bildung im geteilten Raum. Schulentwicklung unter Bedingungen von Einwanderung und Verarmung. Münster: waxmann Sen, Amartya (2009): Inequality Reexamined. Oxford: Oxford University Press Sen, Amartya (2010): the Idea of Justice. London: Penguin SKBf, Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (Hrsg.) (2010): Bildungsbericht Schweiz. Aarau: SKBf Spiel, Christiane; Schober, Barbara; wagner, Petra; Reimann, Ralph (Hrsg.) (2010): Bildungspsychologie. Göttingen: Hogrefe Stinkes, Ursula (2008): „Gute Bildung“ in „guten Schulen“? Kritische Reflexionen zu Standards der sonderpädagogischen förderung. In: Sonderpädagogische förderung heute 53, 257 -276 terzi, Lorella (2010): Justice and Equity in Education. A Capability Perspective on Disability and Special Educational Needs. London, New York: Continuum weinert, franz (1999): Definition and Selection of Competences. Concepts of Competence. Munich: MPI for Psychological Research weinert, franz (Hrsg.) (2001): Leistungsmessungen in Schulen. weinheim, Basel: Beltz wember, franz B.; Prändl, Stephan (Hrsg.) (2009): Standards der sonderpädagogischen förderung. München, Basel: Reinhardt anschrift des autors Univ. Prof. Dr. Gottfried Biewer Universität Wien Institut für Bildungswissenschaft Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik Sensengasse 3 a, 4. Stock A-1090 Wien Tel.: ++43 (0) 14 27 74 68 00 Gottfried.Biewer@univie.ac.at
