Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2012
811
ICT und Förderplanung
11
2012
Reto Luder
Raphael Gschwend
Der folgende Dialog entstand im Austausch zwischen Raphael Gschwend, Organisationsentwickler und Coach sowie Geschäftsführer der Firma pulsmesser.ch, und Reto Luder, Dozent für Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Beide arbeiten im Bereich der Förderplanung an der Frage, wie sonderpädagogische Förderung -interdisziplinär und kooperativ geplant, durchgeführt, begleitet und evaluiert werden kann. Reto Luder fokussiert dabei vor allem den Aspekt der integrativen sonderpädagogischen Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in Regelklassen. Raphael Gschwend begleitet und berät Schulen, Gemeinden und Kantone in sonder-pädagogischen Fragen. Beide widmen sich dabei auch dem Einsatz und den Möglichkeiten von Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) in der Sonderpädagogik. Raphael Gschwend und Reto Luder arbeiten in gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Bereich der Förderplanung zusammen.Der im Folgenden wiedergegebene Mailwechsel entstand im Vorfeld der Arbeit an einem dieser Projekte zur Frage, wie interdisziplinäre, kooperative Förderplanung mit Hilfe von ICT unterstützt und erleichtert werden könnte.
5_081_2012_001_0064
< RubRik > VHN 1 | 2012 64 Dialog ICT und Förderplanung Reto luder Zürich Raphael gschwend Zürich Der folgende Dialog entstand im Austausch zwischen Raphael Gschwend, Organisationsentwickler und Coach sowie Geschäftsführer der Firma pulsmesser.ch, und Reto Luder, Dozent für Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Beide arbeiten im Bereich der Förderplanung an der Frage, wie sonderpädagogische Förderung interdisziplinär und kooperativ geplant, durchgeführt, begleitet und evaluiert werden kann. Reto Luder fokussiert dabei vor allem den Aspekt der integrativen sonderpädagogischen Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in Regelklassen. Raphael Gschwend begleitet und berät Schulen, Gemeinden und Kantone in sonderpädagogischen Fragen. Beide widmen sich dabei auch dem Einsatz und den Möglichkeiten von Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) in der Sonderpädagogik. Raphael Gschwend und Reto Luder arbeiten in gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Bereich der Förderplanung zusammen. Der im Folgenden wiedergegebene Mailwechsel entstand im Vorfeld der Arbeit an einem dieser Projekte zur Frage, wie interdisziplinäre, kooperative Förderplanung mit Hilfe von ICT unterstützt und erleichtert werden könnte. Raphael gschwend an Reto luder Lieber Reto Vor einiger Zeit haben wir uns kurz getroffen, und du hast mir damals geschildert, welche Themenfelder in der Forschungsgruppe, die du leitest, bearbeitet werden. Dabei hast du mir deutlich gemacht, dass das Thema Förderplanung vertieft erforscht werden sollte. Meine Frage nun an dich: Was wird im Bereich Förderplanung gemacht? Wurden bereits systematische Erkenntnisse beschrieben oder eine „best practice“ modelliert? Meine Erfahrung im Rahmen der Beratung und Weiterbildung in Sonderschulen und integrativen Regelschulen zeigt mir, dass in diesem Themenfeld eine Unsicherheit bezüglich der Art und Weise der Dokumentation herrscht und zudem der Anspruch der Interdisziplinarität in der Praxis der Förderplanung schwierig umzusetzen ist. Eine Heterogenität von Empfehlungen löst mancherorts eher Irritation aus als eine klare Referenz für die Umsetzung einer Förderpla- VHN 1 | 2012 65 Dialog Reto LudeR, RapHaeL GscHweNd Ict und Förderplanung nung. Dokumentationen, wenn diese vorhanden sind, enthalten weitaus mehr diagnostische Angaben zum Kind/ Jugendlichen als Planungsinformationen im Sinne einer individuellen Entwicklungsplanung. Ich arbeite mit meinem Programmierer seit fast zwei Jahren an einem webbasierten Instrument, der Interdisziplinären Schülerdokumentation ISD, welches die interdisziplinäre Förderplanung unterstützen soll. Die Idee, kurz zusammengefasst, ist folgende: Die unterschiedlichen Disziplinen (Schule, Therapie, Sonderpädagogik, Sozialpädagogik usw.) halten auf einem gemeinsamen Dokument entlang von interdisziplinären Förderzielen (die aus einem Standortgespräch hervorgegangen sind) ihre Beobachtungen und disziplinären Planungsinformationen fest. Dadurch verspreche ich mir einen fachlichen Austausch auf einer interdisziplinären Plattform und als Produkt eine interdisziplinäre Förderplanung. Schau mal bei www.pulsmesser.ch/ isd rein und schreibe mir bitte, was du davon hältst. Reto luder an Raphael gschwend Lieber Raphael Deine Eindrücke aus der Praxis entsprechen unseren Erfahrungen. Wir arbeiten in unserer Forschungsgruppe seit einiger Zeit am Thema Förderplanung und stellen ebenfalls fest, dass die Praxis in diesem Bereich sehr heterogen ist und das Thema auch in der Forschung teilweise kontrovers diskutiert wird, wobei eher wenig empirische Daten vorhanden sind. Besonders im Kanton Zürich ist das Thema in der Praxis momentan sehr aktuell, da durch die Umsetzung des Volksschulgesetzes im Bereich Sonderpädagogik ein Schwerpunkt auf die integrative Förderung und Unterstützung von Schüler/ innen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen innerhalb der Regelklasse gesetzt wird. Dadurch werden Lehrpersonen und schulische Heilpädagog/ innen gemeinsam mit der Aufgabe der individuellen Förderplanung konfrontiert. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit erweist sich dabei als wichtiger und kritischer Faktor. Am aktuell implementierten Förderplanungsverfahren (schulisches Standortgespräch; vgl. Hollenweger/ Lienhard 2007) wird oft bemängelt, dass die Handhabung in Papier-und-Bleistift-Form wenig praktisch ist und den Austausch von Informationen eher erschwert. Es besteht hoher Bedarf an einer Lösung, die die Zusammenarbeit unterstützt und gleichzeitig den administrativen Aufwand minimal hält. Das Verfahren ISD, das du in deiner Mail erwähnst, klingt da sehr interessant - kannst du mir mehr darüber sagen? Raphael gschwend an Reto luder Lieber Reto Danke für deine Nachricht. Die Interdisziplinäre Schülerdokumentation ISD kannst du dir wie einen „gemeinsamen Fahrtenschreiber“ vorstellen, auf dem die unterschiedlichen Disziplinen (Schulische Heilpädagogik, Logopädie, Psychomotorik, Sozialpädagogik usw.) entlang von gemeinsam festgelegten Entwicklungszielen (meist aus dem Schulischen Standortgespräch nach ICF) ihre Beobachtungen zum Kind/ Jugendlichen in ein Dokument notieren, das über das Internet allen Akteuren um das Kind bzw. den Jugendlichen verfügbar gemacht wird. Weniger häufig, etwa viermal jährlich, wird auf dieser Interdisziplinären Schülerdokumentation beschrieben, was im disziplinären Setting geplant wird, um an den interdisziplinär festgelegten Zielen wirksam zu arbeiten. Die in dieser Idee enthaltene Prozessorientie- VHN 1 | 2012 66 Reto LudeR, RapHaeL GscHweNd Ict und Förderplanung Dialog rung ermöglicht dabei einen permanenten Wissensaustausch und generiert neue Ideen oder Vorschläge auch für die disziplinäre Praxis. Die Arbeit in den professionellen Lerngemeinschaften wie Unterrichtsteams oder Fachteams verändert sich durch die Vorbereitung anhand dieser Dokumentation im Hinblick auf die Planung der Fördermaßnahmen für das nächste Quartal bzw. Semester. Zudem ermöglicht diese Technologie, dass während der Dokumentation unterschiedliche Datenbanken (webbasierter Förderplaner WFP, Förderplanungsassistent FPAss, Beobachtungsinventar zum Schulischen Standortgespräch BISS u. v. a.) angesteuert werden können, welche die Dokumentation mit Itemvorschlägen und Interventionshinweisen unterstützen. Eine Frage an dich, Reto: Was hältst du von diesen Internettechnologien bzw. von der Idee des Cloud-Computing in der Sonderpädagogik? Reto luder an Raphael gschwend Lieber Raphael Aufgrund meiner Forschungen zum Computereinsatz in der Sonderpädagogik denke ich, dass vieles in diesem Bereich noch Neuland ist. Bei einigen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen besteht die Befürchtung, dass der Einsatz von Computern einer Ideologie der Technisierung und Machbarkeit Vorschub leisten könnte oder, so eine zweite Befürchtung, dass der Computer zu einseitiger Konzentration auf kognitive Leistungsaspekte und damit zum Verlust einer - meist recht diffus und wenig klar formulierten - Ganzheitlichkeit sonderpädagogischer Förderung führen würde. Diese Bedenken sind meiner Ansicht nach Überschätzungen des Mediums, vielleicht auch durch Berührungsängste geschürt. Welche Art sonderpädagogischer Förderung gewählt wird, sollte sich aus der Indikation in der jeweiligen Situation ergeben und nicht aufgrund des Vorhandenseins eines Mediums; dies trifft für alle Medien, Werkzeuge und Instrumente zu, auch für Computer, Handys, das Web, soziale Netzwerke oder andere Technologien. Sie erweitern das mögliche Repertoire, was prinzipiell ein Vorteil ist, und fordern nicht per se eine einseitige oder ausschließliche Nutzung von den Anwendern. Es liegt in deren Verantwortung, die verfügbaren Mittel in einem (sonder)pädagogischen Gesamtkonzept geplant und sinnvoll einzusetzen. An dem von dir geschilderten Instrument gefällt mir vor allem der Aspekt der Unterstützung und Entlastung durch die Verfügbarkeit wichtiger Informationen für verschiedene an der Förderplanung und Förderung beteiligte Personen im Kontext einer etablierten Praxis der Zusammenarbeit. Oft wird in der Praxis beklagt, dass genau solche, nämlich wichtige diagnostische und anamnestische Informationen fehlen, weil sie nicht weitergegeben werden wollen oder können. Wenn wichtige Informationen fehlen, erschwert und verzögert das eine gute sonderpädagogische Arbeit. Einige Stimmen vertreten jedoch auch die Ansicht, dass ein bewusster Verzicht auf diagnostische und anamnestische Informationen sinnvoll sei, weil dadurch Voreingenommenheit gegenüber dem Kind verhindert werde. Ich persönlich halte diese Meinung für unsinnig, da es durchaus in der Kompetenz einer Heilpädagogin oder eines Heilpädagogen liegen müsste, Informationen nicht einfach naiv zu übernehmen, sondern sie kritisch und im Rahmen der Gesamtsituation zu interpretieren und zu nutzen. Die Reflexion eigener Wahrnehmungen und Hypothesen gehört dazu, ungeachtet dessen, ob sie rein aus der eigenen Sicht begründet oder auf der Basis von mehreren Informationen (wohl die bessere Variante) entstanden sind. Trotzdem beschäftigt natürlich die Frage des Datenschutzes dabei viele Menschen: Ich erwarte schon die bange Frage nach dem „gläsernen Kind“ … VHN 1 | 2012 67 Reto LudeR, RapHaeL GscHweNd Ict und Förderplanung Dialog Raphael gschwend an Reto luder Lieber Reto Danke für die schnelle Antwort. Der Datenschutz stellt uns unweigerlich vor Herausforderungen, aber ich möchte einen Blick auf die bestehende Praxis werfen. Vieles scheint darin ungeklärt, besonders im Hinblick auf eine interdisziplinäre Ausrichtung. Die Zusammenarbeit im Rahmen der Förderplanung erfolgt einerseits über das persönliche Gespräch (im Idealfall in zeitlich fixen Austauschgefäßen, selten werden Protokolle erstellt), über Gespräche per Telefon, über den Mailweg und über schriftliche Nachrichten per interne oder externe Post. Der Datenschutz ist bei den erwähnten Kommunikationskanälen immer vor dem Hintergrund der (lokalen, in der Schweiz kantonalen) Richtlinien zu bewerten. Die ISD-Zugänge sind durch Angaben wie E-Mail-Adresse und Passwort geschützt, die Übermittlung der Daten erfolgt verschlüsselt, und die Schülerdaten werden anonymisiert gespeichert. Wir versuchen damit alle technischen Möglichkeiten der Sicherheit einzusetzen. Die Sicherheit der Zugänge und der Speicherung der Daten muss der Entwicklung der Technologien folgend immer wieder angepasst werden. Reto luder an Raphael gschwend Lieber Raphael Ich würde dir zustimmen, dass hinsichtlich technischer Datensicherheit das Möglichste getan wird und auch in der Einschätzung, dass diese Art der Aufbewahrung von Daten erstens transparenter und zweitens besser geschützt (und mithin professioneller) ist als andere Formen wie etwa Zettel, Schreibhefte, eigene Datenbanken oder Dateien von einzelnen Lehrpersonen oder Heilpädagog/ innen. Einen weiteren Vorteil sehe ich darin, dass die Daten auch die Möglichkeit einer anonymisierten wissenschaftlichen Auswertung bieten. Das könnte für die Forschung und auch für die Weiterbildung von Fachpersonen eine sehr wertvolle Erkenntnisquelle sein. Die Daten müssten für Forschungszwecke nicht extra erhoben werden, sondern es könnte auf bereits erfasste und damit grundsätzlich verfügbare Daten zurückgegriffen werden. Wenn ich an Weiterbildung und Wissensaustausch denke, erwarte ich die weitere Verbreitung vielversprechender Möglichkeiten der digitalen Medien und der sozialen Netzwerke: Wissensinhalte und Schulungen können z. B. über Podcasts oder andere Formate des eLearning sehr sinnvoll in die Gestaltung von entsprechenden Angeboten eingebunden werden. Herzlichen Gruß Reto literatur Hollenweger, J.; Lienhard, p. (2007): schulische standortgespräche. 2., korr. aufl. Zürich: Lehrmittelverlag anschriften der autoren Dr. Reto luder Pädagogische Hochschule Zürich Waltersbachstrasse 5 8090 Zürich reto.luder@phzh.ch lic. phil. Raphael gschwend Pulsmesser Rötelstrasse 54 8057 Zürich rg@pulsmesser.ch
