Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Zum außerschulischen sozialen Austausch von integriert und separiert beschulten Kindern mit „Lernbehinderungen“
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Tanja Grimaudo
Bisher konzentrierte sich die Integrationsforschung mehrheitlich auf die Leis-tungsentwicklung oder die soziale Integration schulleistungsschwacher oder lernbehinderter Kinder innerhalb der Schulklasse. Die Integration ist eine pädagogische Maßnahme, um betroffenen Kindern ein möglichst optimales soziales und berufliches Fortkommen zu ermöglichen. Der vorliegende Artikel geht den Fragen nach, wie sich die schulische Integration von Primarschulkindern mit einer Lernbehinderung auf den sozialen Austausch außerhalb der Schule auswirkt und welche Bedeutung einer wohnortnahen vs. wohnortfernen Beschulung zukommt.
5_081_2012_002_0136
136 VHN, 81. Jg., S. 136 -144 (2012) DOI 10.2378/ vhn2011.art19d © Ernst Reinhardt Verlag Fachbeitrag Zum außerschulischen sozialen Austausch von integriert und separiert beschulten Kindern mit „Lernbehinderungen“ Untersuchung zu den Wirkungen in den Bereichen „soziale Unterstützung“, „Freizeitverhalten“ und „schulische Aktivitäten in der Familie“ tanja grimaudo Luzern Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um einen von der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg, Schweiz, genehmigten Teildruck der Dissertation „Zum außerschulischen sozialen Austausch von integriert und separiert beschulten Kindern mit ,Lernbehinderungen‘ - Untersuchung zu den Wirkungen in den Bereichen ,soziale Unterstützung‘, ‚Freizeitverhalten‘ und ,schulische Aktivitäten in der Familie‘“ von Frau Tanja Grimaudo. Die vollständige Dissertation ist in der Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg, Schweiz, einzusehen. Zusammenfassung: Bisher konzentrierte sich die Integrationsforschung mehrheitlich auf die Leistungsentwicklung oder die soziale Integration schulleistungsschwacher oder lernbehinderter Kinder innerhalb der Schulklasse. Die Integration ist eine pädagogische Maßnahme, um betroffenen Kindern ein möglichst optimales soziales und berufliches Fortkommen zu ermöglichen. Der vorliegende Artikel geht den Fragen nach, wie sich die schulische Integration von Primarschulkindern mit einer Lernbehinderung auf den sozialen Austausch außerhalb der Schule auswirkt und welche Bedeutung einer wohnortnahen vs. wohnortfernen Beschulung zukommt. Schlüsselbegriffe: Soziales Netzwerk, schulische Integration, Kinder mit Lernbehinderungen, sozialer Austausch, wohnortnahe Beschulung the Social exchange between integrated and Separated children With „Learning Disabilities“ in extra-school Settings Summary: So far the research on integration focused mostly on the development of school performances or on the social integration of underachieving children or children with learning disabilities in the classroom. Integration is an educational measure to allow these children the most optimal social and occupational advancement. This article deals with the effects of school-integration of primary school children with learning disabilities on their social interactions in extra-school settings. The impact of attending school close to vs. far from domicile is also discussed. Keywords: Social network, school integration, children with learning disabilities, social exchange, schooling close to domicile VHN 2 | 2012 137 TaNJa GRImauDO außerschulischer austausch von integriert und separiert beschulten Kindern Fachbeitrag 1 Problemstellung D as außerschulische soziale Netzwerk lernbehinderter Kinder, welches das zentrale Thema der vorliegenden Studie ist, wurde in der Integrationsforschung bisher kaum untersucht. Die Untersuchung geht u. a. der Frage nach, wie sich integrierende Schulformen auf den sozialen Austausch dieser Kinder außerhalb der Schule auswirken (Grimaudo 2010, 60). In einer österreichischen Erhebung zeigte Hauer (1990, 289), dass junge erwachsene Frauen mit Lernbehinderungen, die integrativ beschult worden waren, ein größeres soziales Netzwerk aufweisen als ehemals separiert beschulte. In der vorliegenden Untersuchung wird die Frage gestellt, ob sich diese Effekte bereits während der Schulzeit manifestieren. Preuss-Lausitz (1991, 56) untersuchte den gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Schülerinnen und Schüler unter dem Aspekt der sozialen Beziehungen und ihrer Freizeitaktivitäten. Dabei stellte er fest, dass 70 % aller Beziehungen aus dem engeren Wohnumfeld stammten. Das wichtigste Kriterium war der Kontakt über die eigene Klasse. Zumal die schulische Separation oftmals mit einer sozialen Entwurzelung einhergeht (Haeberlin u. a. 2003, 32), scheinen das Erfahrungsfeld des gemeinsamen Unterrichts sowie die Wohnortnähe der Beschulung für die Bildung von Freundschaften und somit für den sozialen Austausch von großer Bedeutung zu sein. 2 Untersuchung zum außerschulischen sozialen austausch G egenstand der vorliegenden Untersuchung ist der außerschulische soziale Austausch von Kindern mit einer Lernbehinderung, welche die 4. bis 6. Primarschulklasse besuchen und in unterschiedlichen Schulungsformen - d. h. in Regelklassen integriert oder in Kleinklassen für Lernbehinderte separiert - beschult werden. Der außerschulische soziale Austausch der betreffenden Population wurde mittels einer Querschnittanalyse empirisch untersucht und verglichen. Folgende Fragestellungen standen dabei im Zentrum des Interesses: Hat eine wohnortnahe vs. wohnortferne Beschulung einen Einfluss auf das soziale Netzwerk lernbehinderter Kinder? Unterscheidet sich das soziale Netzwerk lernbehinderter Kinder, die integrativ beschult werden, von demjenigen separativ beschulter Kinder in Bezug auf die Variablen „Größe“ und „Effizienz“? Das soziale Netz wurde schwerpunktmäßig bezüglich sozialer Beziehungen außerhalb der Schule untersucht. Dabei stand die Peergruppe im Fokus. Im Sinne einer Erweiterung des aktuellen Forschungsstandes wurde in der Studie der Frage nachgegangen, ob sich die soziale Entwurzelung - bedingt durch die Aussonderung in Kleinklassen - auf den sozialen Austausch auswirkt. 2.1 Methodik der Untersuchung Folgende Hypothesen wurden einer empirischen Überprüfung unterzogen: hypothese 1 Lernbehinderte Kinder, die wohnortnah beschult werden, weisen (a) ein größeres und (b) ein qualitativ besseres soziales Netzwerk auf als lernbehinderte Kinder, die wohnortfern beschult werden. hypothese 2 Lernbehinderte Kinder, die integrativ beschult werden, weisen (a) ein größeres und (b) ein qualitativ besseres soziales Netzwerk auf als lernbehinderte Kinder, die separativ beschult werden. VHN 2 | 2012 138 TaNJa GRImauDO außerschulischer austausch von integriert und separiert beschulten Kindern Fachbeitrag Das gewählte Vorgehen zur Beantwortung der Fragen sah wie folgt aus: In einer ersten Phase musste ein Fragebogen konstruiert und validiert werden. Der Fragebogen wurde mit 191 Schülerinnen und Schülern der Schulgemeinde Buochs (NW) getestet. Anschließend musste die Zielpopulation identifiziert und rekrutiert werden, welche die Gesamtstichprobe bildete. Dabei wurden die oben genannten Schülerinnen und Schüler ausgeschlossen. Zur inneren Validierung wurde eine Faktorenanalyse (Varimax-Rotation) durchgeführt. Aufgrund der Fragebogenkonstruktion wurde eine konfirmatorische Faktorenanalyse gemacht. Durch die faktorenanalytische Auswertung der erhobenen Daten konnte die große Anzahl Variablen zu drei Faktoren zusammengefasst werden. Diese wurden wie folgt benannt: Soziale Unterstützung, Freizeitverhalten, schulische Aktivitäten in der Familie. In die Faktorenanalyse gingen diejenigen Items ein, welche vierstufig skaliert sind. Die Faktorenlösung weist auf die interne Kohärenz des Erhebungsinstruments hin. Die Zuordnung der Items zu den Faktoren erscheint inhaltlich sowie theoretisch sinnvoll. Der dritte Faktor geht inhaltlich über die Thematik sozialer Netzwerke hinaus, ist jedoch für die Beantwortung der Fragen relevant. Einige Items weisen geringe Faktorladungen auf. Deshalb wurde eine Gewichtung vorgenommen, d. h. bei der Bildung der Faktoren wurden die Items mit der Faktorladung multipliziert. Ebenso wurde mit den Daten der Erhebung verfahren. Zur Bestimmung der Reliabilität wurde ein Verfahren benutzt, welches die Homogenität der Items ermittelt und als innere Konsistenz nach Cronbach bezeichnet wird. Die errechneten Alpha-Koeffizienten von .857 für F1, .724 für F2 und .644 für F3 dürfen als genügend angesehen werden. Die Itemanalyse ergab für die Schwierigkeitsindizes eine Streuung zwischen .40 und .83 und für die Trennschärfekoeffizienten von .21 bis .71. Diese Werte liegen im üblichen Bereich. Die empirische Untersuchung wurde im Zeitraum März bis Juni 2009 mit 115 Kindern der Kantone Uri, Schwyz, Obwalden und Nidwalden durchgeführt. Der Kanton Luzern wurde ebenfalls angefragt, machte bei der Erhebung jedoch nicht mit. Befragt wurden Schülerinnen und Schüler mit einer Lernbehinderung, die entweder integriert oder in Kleinklassen separiert beschult wurden. Die Schülerinnen und Schüler dieser Stichprobe erfüllten folgende Kriterien: Sie besuchten die 4., 5. oder 6. Primarschulklasse, wurden in einer Kleinklasse separiert oder in der Regelklasse mit integrativer Förderung beschult und wiesen nach erfolgter schulpsychologischer Abklärung einen Intelligenzquotienten zwischen 85 und 70 sowie unterdurchschnittliche Leistungen in Mathematik und Deutsch auf. Befragt wurden 115 Schülerinnen und Schüler, davon 59 separiert und 56 integriert beschulte. Letztere besuchen Regelklassen mit integrativer Förderung. Die Rahmenbedin- Kanton anzahl integriert beschulte Schülerinnen und Schüler anzahl separiert beschulte Schülerinnen und Schüler total pro Kanton Schwyz uri Obwalden Nidwalden 12 17 6 21 54 5 0 0 66 22 6 21 Total 56 59 115 tab. 1 Verteilung der Stichprobe auf die untersuchten Kantone VHN 2 | 2012 139 TaNJa GRImauDO außerschulischer austausch von integriert und separiert beschulten Kindern Fachbeitrag gungen betreffend das zusätzliche Unterstützungsangebot sind in den einzelnen Schulgemeinden sehr unterschiedlich. In Tabelle 1 ist die Verteilung der Schülerinnen und Schüler der Gesamtstichprobe auf die einzelnen Kantone aufgelistet. Tabelle 2 zeigt die Stichprobeneigenschaften nach Schulformen. Aus der Auflistung der deskriptiven Daten wird ersichtlich, dass die Häufigkeiten der meisten Variablen innerhalb der jeweiligen Schulform sowie zwischen den beiden Schulformen relativ ausgeglichen verteilt sind. Auffallend ist, dass sich in den Kleinklassen mehr ausländische Kinder befinden. Dies deckt sich mit Ergebnissen anderer Studien (Kronig u. a. 2000, 112). Des Weiteren zeigen die Stichprobeneigenschaften ein Problem zur Überprüfung der Hypothese 1 auf, vgl. Tab. 3. Die aufgeführten Zahlen entsprechen der Anzahl Kinder pro Untergruppe. In der einen Untergruppe befinden sich keine Schülerinnen und Schüler. Dies kommt daher, dass integrative Schulformen auch wohnortnah sind, d. h. Wohnort und Schulort sind identisch. Kleinklassen hingegen bestehen nicht in jeder Schulgemeinde, sodass einige Schülerinnen und Schüler wohnortfern beschult Wohnort/ Schulort identisch nicht identisch total Beschulungsform Integration Separation 56 45 0 14 56 59 Total 101 14 115 tab. 3 Kreuztabelle Integration/ Separation * Wohnort/ Schulort häufigkeit/ gültige Prozente regelklassen mit integrativer Förderung Kleinklassen Schweizer Kinder ausländische Kinder 42 (75.0 %) 14 (25.0 %) 29 (49.2 %) 30 (50.8 %) Schülerinnen (w) Schüler (m) 24 (42.9 %) 32 (57.1 %) 25 (42.4 %) 34 (57.6 %) 4. Klasse 5. Klasse 6. Klasse 19 (33.9 %) 24 (42.9 %) 13 (23.2 %) 9 (15.2 %) 26 (44.1 %) 24 (40.7 %) Dauer SHP-unterstützung/ KK seit 0.5 -3.5 Jahren Dauer SHP-unterstützung/ KK seit 4 -6 Jahren 25 (44.7 %) 31 (55.3 %) 23 (39.1 %) 36 (60.9 %) Wohnort/ Schulort identisch Wohnort/ Schulort nicht identisch 56 (100 %) 0 (0 %) 45 (76.3 %) 14 (23.7 %) in einem Verein in keinem Verein 35 (62.5 %) 21 (37.5 %) 28 (47.5 %) 31 (52.5 %) anmerkung: 100 % entsprechen der Population aus der jeweiligen Schulform tab. 2 Stichprobeneigenschaften nach Schulformen VHN 2 | 2012 140 TaNJa GRImauDO außerschulischer austausch von integriert und separiert beschulten Kindern Fachbeitrag werden, d. h. Wohnort und Schulort sind nicht identisch. Dieses Problem wurde für die Hypothesenüberprüfung wie folgt gelöst: Um Wohnortnähe vs. -ferne und Beschulungsform zu kombinieren, wurde eine neue unabhängige, dreifach gestufte Variable gebildet. Diese wurde „Soziale Interaktionsmöglichkeiten“ genannt. Sie beinhaltet drei Vergleichsgruppen: Gruppe A: separiert und wohnortfern; Gruppe B: separiert und wohnortnah; Gruppe C: integriert und wohnortnah. Es wird davon ausgegangen, dass von Gruppe A zu Gruppe B und von Gruppe B zu Gruppe C die sozialen Interaktionsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler zunehmen. Die sozialen Interaktionsmöglichkeiten der Gruppe A konzentrieren sich vor allem auf die Schulklasse und auf klassenübergreifende Kontakte in der Schule. Aufgrund der Wohnortferne haben diese Schülerinnen und Schüler nicht die Möglichkeit, soziale Kontakte mit Kindern derselben Klasse, derselben Schule oder mit Kindern des Wohnquartiers auf dem Schulweg zu knüpfen. Die Freizeit gemeinsam zu verbringen ist dadurch ebenfalls erschwert. Bei der Gruppe B werden die Kontaktmöglichkeiten aufgrund der Wohnortnähe erweitert. Sie gehen zwar nicht in dieselbe Klasse wie gleichaltrige Kinder des Wohnorts, haben aber teilweise denselben Schulweg und können diese eher in der Freizeit treffen. Die Kinder der Gruppe C hingegen haben denselben Schulweg wie Gleichaltrige aus dem Wohnquartier. Sie haben zudem durch den gemeinsamen Unterricht mit Regelschülerinnen und Regelschülern erweiterte Gelegenheiten für soziale Interaktionen. Es wird angenommen, dass diese Faktoren die Entstehung eines außerschulischen sozialen Netzwerks und somit den sozialen Austausch erleichtern. Um die Frage zu überprüfen, ob eine wohnortnahe vs. wohnortferne Beschulung einen Einfluss auf das soziale Netzwerk lernbehinderter Kinder hat, musste bereits bei der Konstruktion des Fragebogens entschieden werden, wie die Wohnortnähe bzw. -ferne erhoben werden sollte. Dazu wurden die Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen gefragt, ob Wohn- und Schulort des Kindes identisch sind. Für die Operationalisierung der Größe des sozialen Netzwerks wurde die Anzahl Freundinnen und Freunde erhoben. Für die Untersuchung der Effizienz bzw. der Qualität des sozialen Netzwerks dienten die drei Faktoren „soziale Unterstützung“, „Freizeitverhalten“ und „schulische Aktivitäten in der Familie“. Die Überprüfung der Hypothesen wurde mittels Varianzanalysen vorgenommen. In einem ersten Schritt wurde überprüft, ob einerseits Geschlechtsunterschiede bestehen und ob andererseits Unterschiede bezüglich der Nationalität resultieren, um zu entscheiden, ob diese beiden Variablen weiter berücksichtigt werden müssen. Anschließend fand ein Vergleich zwischen wohnortnah und wohnortfern Beschulten sowie zwischen Integrierten und Separierten statt. Aufgrund der neu gebildeten unabhängigen, dreifach gestuften Variablen fand ein Vergleich der drei Gruppen mittels Scheffé-Test statt. 2.2 ergebnisse der hypothesenprüfung Nachfolgend wird eine Übersicht über die hypothesenprüfenden Analysen aufgeführt: 2.2.1 Das soziale Netzwerk in abhängigkeit des geschlechts und der Nationalität Mädchen und Jungen mit einer Lernbehinderung unterscheiden sich nicht signifikant voneinander, weder quantitativ noch qualitativ. Schweizer und ausländische Schülerinnen und Schüler mit einer Lernbehinderung unterscheiden sich ebenfalls weder quantitativ noch qualitativ signifikant voneinander. VHN 2 | 2012 141 TaNJa GRImauDO außerschulischer austausch von integriert und separiert beschulten Kindern Fachbeitrag 2.2.2 Wirkungen der wohnortnahen vs. -fernen beschulung auf das soziale Netzwerk Wohnortnah und wohnortfern beschulte Schülerinnen und Schüler mit einer Lernbehinderung unterscheiden sich nicht signifikant voneinander bezüglich der Größe des sozialen Netzwerks, jedoch resultiert eine Tendenz zugunsten der Wohnortnahen (Hypothese 1 a). Sie unterscheiden sich auch nicht signifikant voneinander bezüglich der Qualität des sozialen Netzwerks, auch dann nicht, wenn man nur die separiert Beschulten untereinander vergleicht (Hypothese 1 b). 2.2.3 Wirkungen von integration und Separation auf das soziale Netzwerk Schülerinnen und Schüler mit einer Lernbehinderung in integrierenden und separierenden Schulformen unterscheiden sich nicht signifikant voneinander bezüglich der Größe des sozialen Netzwerks (Hypothese 2 a). Es zeigen sich jedoch signifikante Unterschiede bezüglich der Qualität des sozialen Netzwerks in den Dimensionen „Freizeitverhalten“ und „schulische Aktivitäten in der Familie“ zugunsten der Integrierten (Hypothese 2 b). Integriert Beschulte schauen bedeutend weniger oft fern bzw. DVDs, sie spielen weniger oft am Computer und hören auch weniger oft Musik. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Aktivitäten soziale Kontakte eher verhindern. Weiter treiben Integrierte häufiger Sport, sie schätzen ihre Gesundheit besser ein und geben weniger somatische Beschwerden an. Integrierte haben ein aktiveres Freizeitverhalten als Separierte, d. h. sie weisen mehr Aktivitäten auf, welche sozialen Austausch beinhalten. Zudem zerbrechen Freundschaften bei den Integrierten weniger oft und auch seltener aufgrund der räumlichen Entfernung. Des Weiteren wohnen ihre Freunde weniger weit weg, was wiederum Auswirkungen auf das Freizeitverhalten hat. Diese Ergebnisse zeigen einen deutlichen Vorteil der integrierenden Beschulungsform auf, welche den außerschulischen sozialen Austausch zu fördern scheint. Die Dimension „schulische Aktivitäten in der Familie“ geht über die Qualität des sozialen Netzwerks hinaus. Jedoch unterscheiden sich auch diesbezüglich integriert beschulte Schülerinnen und Schüler mit einer Lernbehinderung signifikant von separiert beschulten zugunsten der Integrierten. Letztere arbeiten häufiger für die Schule, sie lesen und lernen öfter und verbringen mehr Zeit mit ihrer Familie. Auch dieser Befund ist für integrierende Schulformen positiv zu werten. Die soziale Unterstützung betreffend resultieren keine signifikanten Unterschiede zwischen integriert und separiert Beschulten. 2.2.4 Soziale interaktionsmöglichkeiten In Tabelle 4 sind die Ergebnisse des Scheffé- Tests aufgeführt. In der Dimension „soziale Unterstützung“ resultieren keine signifikanten Ergebnisse. Es besteht jedoch ein signifikanter Unterschied in der Dimension „Freizeitverhalten“ zwischen integriert/ wohnortnah Beschulten und separiert/ wohnortnah Beschulten mit einer Lernbehinderung zugunsten der ersten Gruppe (Hypothesen 1 b/ 2 b). Es resultiert ebenfalls ein signifikanter Unterschied in der Dimension „schulische Aktivitäten in der Familie“ zwischen integriert/ wohnortnah Beschulten und separiert/ wohnortfern Beschulten mit einer Lernbehinderung zugunsten der ersten Gruppe (Hypothesen 1 b/ 2 b). Die anderen Gruppenvergleiche ergeben keine signifikanten Unterschiede. Aufgrund der steigenden Mittelwerte und der inhaltlichen Logik erstaunt dies. Das Problem dabei ist, dass die Gruppe „separiert und wohnortfern“ lediglich 14 Probanden beinhaltet. Tabelle 4 wurde daher mit der Power-Berechnung ergänzt. Diese muss mindestens 50 % betragen, damit ein signifikantes Ergebnis entstehen kann. Resultiert eine kleine Effektstärke, kann das Resultat nicht signifikant werden. Besteht eine mittlere Effektstärke, hängt es von der Anzahl VHN 2 | 2012 142 TaNJa GRImauDO außerschulischer austausch von integriert und separiert beschulten Kindern Fachbeitrag Probanden ab, ob ein signifikanter Unterschied entstehen kann. Ist diese genügend groß, kann das Resultat signifikant werden, andernfalls nicht. In der Dimension „Freizeitverhalten“ z. B. resultiert im Gruppenvergleich „integriert und wohnortnah“ und „separiert und wohnortfern“ eine mittlere Effektstärke. Da die Anzahl Probanden in der einen Gruppe jedoch zu klein ist, kann sich kein signifikanter Unterschied ergeben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die beiden Gruppen nicht signifikant voneinander unterscheiden (Hypothesen 1 b/ 2 b). 3 einordnung und Diskussion der ergebnisse A ufgrund der Resultate kann folgendes Fazit gezogen werden: Die dargestellten Ergebnisse stehen in keinem Widerspruch zur bisherigen Forschungslage. Unterschiede sind erklärbar durch das Alter der Population oder aber wegen der untersuchten Aspekte. Die Population in Hauers Untersuchung (1990, 123) war beispielsweise bedeutend älter als diejenige der vorliegenden Studie. Was die soziale Unterstützung betrifft, sind die Ergebnisse dieser Untersuchung nicht signifikant. Dies kann vermutlich dadurch erklärt werden, dass diese im Alter der untersuchten Population vorwiegend durch Familienmitglieder abgedeckt wird, wie aus der Literatur hervorgeht. Quantitative und qualitative Aspekte sozialer Netzwerke lernbehinderter Kinder sind nicht von der nationalen Herkunft abhängig. Es haben sich keine Befunde erhärtet, die zugunsten separierender Schulformen sprechen, das Gegenteil ist der Fall. Die Ergebnisse zeigen einen deutlichen Vorteil integrierender Schulformen auf, welche den außerschulischen sozialen Austausch sowie schulische Aktivitäten in der Familie fördern. Integriert beschulte Kinder weisen z. B. ein signifikant aktiveres Freizeitverhalten bei einem gleichzeitig geringeren Medienkonsum auf. Die Wohnortnähe alleine scheint keinen Einfluss auf den sozialen Austausch auszuüben. Wird jedoch die Wohnortnähe vs. -ferne mit der Beschulungsform in Zusammenhang gebracht, so zeigt sich ein ganz anderes Bild. Bisher gibt es keine Studien, welche die sozialen InteraktionsmögaV: Qualität des sozialen Netzwerks Soziale interaktionsmöglichkeiten Mittelwertsunterschied N p-Wert eta 2 Power Freizeitverhalten integriert und wohnortnah separiert und wohnortnah 2.015 56 45 .034* .523 70 % integriert und wohnortnah separiert und wohnortfern 2.048 56 14 .203 .556 33 % separiert und wohnortnah separiert und wohnortfern .033 45 14 1.000 .009 0 % Schulische aktivitäten in der Familie integriert und wohnortnah separiert und wohnortnah .574 56 45 .327 .296 17 % integriert und wohnortnah separiert und wohnortfern 1.482 56 14 .038* .704 62 % separiert und wohnortnah separiert und wohnortfern .908 45 14 .303 .579 33 % tab. 4 Ergebnisse des Scheffé-Tests (* p < .05, ** p < .01, *** p < .001) VHN 2 | 2012 143 TaNJa GRImauDO außerschulischer austausch von integriert und separiert beschulten Kindern Fachbeitrag lichkeiten im Zusammenhang mit einer wohnortnahen vs. -fernen Beschulung und der Beschulungsform untersucht haben. Die hier präsentierten Ergebnisse zeigen wiederum auf, dass sich integrierende Schulformen signifikant positiver auf soziale Interaktionsmöglichkeiten auswirken als die schulische Separation. Die vorliegende Studie ist im Bereich der Integrationsforschung anzusiedeln. Die Ergebnisse bringen wichtige Erkenntnisse für die Integrationsdiskussion. Die schulische Integration, als pädagogische Maßnahme verstanden, beabsichtigt, betroffene Kinder möglichst optimal auf ihre gesellschaftliche Integration vorzubereiten. Frühere Studien haben die Vorteile der Integration im Leistungsbereich aufgezeigt (Bless/ Klaghofer 1991; Bless 2000; Haeberlin u. a. 2003; Bless 2007; Bless/ Mohr 2007). Lernbehinderte Kinder in Regelklassen weisen jedoch im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern eine niedrige soziometrische Stellung auf (Bless 1986; Bless 1989; Bless 2007). Aufgrund der vorliegenden Untersuchung wird aber ersichtlich, dass es beim integrativen Vorgehen auch im Rahmen der außerschulischen sozialen Kontakte offensichtliche Vorteile zu geben scheint. Die gesamtschweizerisch zu beobachtende Tendenz, separierende Schulformen schrittweise aufzulösen, kann angesichts der vorliegenden Studie gestützt werden. Es bleibt zu berücksichtigen, dass die hier gewonnenen Erkenntnisse nicht auf die ganze Schweiz übertragen werden können. Die Studie wurde einerseits aufgrund der ersten Fragestellung und andererseits aus ökonomischen Gründen in ländlichen Gebieten der Zentralschweiz durchgeführt. Mit Blick auf die Forschungslage kann angenommen werden, dass die Ergebnisse einer breiter angelegten Untersuchung, welche auch städtische Gebiete umfassen müsste, ähnlich ausfallen würden. Diese Annahme muss jedoch weiter geprüft werden. Zusammenfassend darf, mit aller gebotenen Vorsicht, festgestellt werden, dass integrierende Schulungsformen - entgegen verbreiteten Befürchtungen - bessere Bedingungen für die Entstehung sozialer Beziehungen bieten und den außerschulischen sozialen Austausch positiv zu beeinflussen scheinen. Literatur Bless, Gérard (1986): Der soziometrische Status des integrierten Hilfsschülers - untersuchungen in „Regelklassen mit Heilpädagogischer Schülerhilfe“. In: VHN 55, 49 - 58 Bless, Gérard (1989): Die soziale Stellung lernbehinderter Schüler. Ergebnisse empirischer Forschungsarbeiten im Überblick. In: VHN 58, 362 - 374 Bless, Gérard (2000): Lernbehinderungen. In: Borchert, Johann (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie. Göttingen: Hogrefe, 440 - 453 Bless, Gérard (2007): Zur Wirksamkeit der Integration. Forschungsüberblick, praktische umsetzung einer integrativen Schulform, untersuchungen zum Lernfortschritt. 3. aufl. Bern: Haupt Bless, Gérard; Klaghofer, Richard (1991): Begabte Schüler in Integrationsklassen: untersuchung zur Entwicklung von Schulleistungen, sozialen und emotionalen Faktoren. In: Zeitschrift für Pädagogik 37, 215 - 223 Bless, Gérard; mohr, Kathrin (2007): Die Effekte von Sonderunterricht und gemeinsamem unterricht auf die Entwicklung von Kindern mit Lernbehinderungen. In: Walter, Jürgen; Wember, Franz B. (Hrsg.): Handbuch Sonderpädagogik. Band 2. Sonderpädagogik des Lernens. Göttingen: Hogrefe, 375 - 382 Grimaudo, Tanja (2010): Zum außerschulischen sozialen austausch von integriert und separiert beschulten Kindern mit „Lernbehinderungen“. untersuchung zu den Wirkungen in den Bereichen „soziale unterstützung“, „Freizeitverhalten“ und „schulische aktivitäten in der Familie“. unveröffentlichte Dissertation der Philosophischen Fakultät der universität Freiburg, Schweiz VHN 2 | 2012 144 TaNJa GRImauDO außerschulischer austausch von integriert und separiert beschulten Kindern Fachbeitrag Haeberlin, urs; Bless, Gérard; moser, urs; Klaghofer, Richard (2003): Die Integration von Lernbehinderten. Versuche, Theorien, Forschungen, Enttäuschungen, Hoffnungen. 4. aufl. Bern: Haupt Hauer, Karl (1990): abgang wohin? Passau: Rothe Kronig, Winfried; Haeberlin, urs; Eckhart, michael (2000): Immigrantenkinder und schulische Selektion. Pädagogische Visionen, theoretische Erklärungen und empirische untersuchungen zur Wirkung integrierender und separierender Schulformen in den Grundschuljahren. Bern: Haupt Preuss-Lausitz, ulf (1991): Erforschte Integration. Das wohnortnahe modell der uckmarck- Grundschule auf dem Prüfstand. In: Heilpädagogische Forschung 17, 50 - 60 anschrift der autorin Dr. phil. tanja grimaudo St.-Karli-Strasse 6 CH-6004 Luzern ++41 (0) 7 96 04 06 76 tanja.grimaudo@bluewin.ch
