eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 81/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Wirksamkeit von Kindersprachtherapie im Lichte systematischer Übersichten

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Erich Hartmann
Der vorliegende Beitrag bilanziert den aktuellen Kenntnisstand zur Wirksamkeit von logopädischen Interventionen für Kinder mit kommunikativen Beeinträchtigungen auf der Basis von verfügbaren Übersichtsarbeiten. Eine umfassende Literaturrecherche identifizierte 20 relevante Forschungsbeiträge, die systematisch ausgewertet und kritisch bewertet wurden. Die Ergebnisse dieser Synopse unterstützen die Annahme, dass professionelle Sprachtherapie positive Effekte auf kindliche Sprach-, Sprech-, Rede- und Stimmkompetenzen hat. Die gegenwärtige empirische Evidenz für den Nutzen von sprachspezifischen Interventionen ist allerdings in mancher Hinsicht begrenzt und daher ergänzungsbedürftig. Implikationen für die Kindersprachtherapieforschung runden die Diskussion ab.
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191 VHN, 81. Jg., S. 191 -209 (2012) DOI 10.2378/ vhn2012.art09d © Ernst Reinhardt Verlag Wirksamkeit von Kindersprachtherapie im Lichte systematischer Übersichten Erich Hartmann Universität Freiburg/ CH Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag bilanziert den aktuellen Kenntnisstand zur Wirksamkeit von logopädischen Interventionen für Kinder mit kommunikativen Beeinträchtigungen auf der Basis von verfügbaren Übersichtsarbeiten. Eine umfassende Literaturrecherche identifizierte 20 relevante Forschungsbeiträge, die systematisch ausgewertet und kritisch bewertet wurden. Die Ergebnisse dieser Synopse unterstützen die Annahme, dass professionelle Sprachtherapie positive Effekte auf kindliche Sprach-, Sprech-, Rede- und Stimmkompetenzen hat. Die gegenwärtige empirische Evidenz für den Nutzen von sprachspezifischen Interventionen ist allerdings in mancher Hinsicht begrenzt und daher ergänzungsbedürftig. Implikationen für die Kindersprachtherapieforschung runden die Diskussion ab. Schlüsselbegriffe: Kindersprachtherapie, Wirksamkeit, systematische Übersicht The Effectiveness of Children’s Speech Therapy in the Light of Systematic Reviews Summary: The present article assesses the current state of knowledge on the effectiveness of speech and language therapy interventions for children with communicative impairments on the basis of available systematic reviews. A comprehensive literature search identified 20 relevant papers that have been systematically analyzed and critically evaluated. The results of this synopsis support the assumption that professional therapy has positive effects on children’s language, speech, fluency, and voice skills. However, the empirical evidence for the benefits of language-specific interventions is limited in some respects and therefore requires to be supplemented. Implications for further child language therapy research are outlined. Keywords: Child language therapy, effectiveness, systematic review FaCHbE iTR ag TH EmEnSTR ang Evidenzbasierte Logopädie/ Sprachheilpädagogik 1 Evidenzbasierte Praxis und Kindersprachtherapieforschung D ie sprachtherapeutische Betreuung von Kindern mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen bildet die Kernaufgabe von Logopädinnen und Sprachheilpädagoginnen in vorschulischen und schulischen Kontexten. Ethische Codes und jüngere Forderungen nach Qualitätssicherung und evidenzbasierter Praxis (EBP) unterstreichen das erklärte Ziel von Sprachtherapeutinnen und -therapeuten, ihrer Klientel bestmögliche Hilfen zukommen zu lassen. Dieser professionelle Anspruch impliziert - wenn auch nicht ausschließlich - den Einsatz von wissenschaftlich fundierten Interventionen. Fachleute sind im Hinblick auf evidenzbasierte Praxisentscheidungen daher auf Erkenntnisse aus sprachtherapeutischen Wirksamkeitsstudien angewiesen, die als „externe Evidenz“ die professionelle Expertise und die Präferenzen der Klienten als weitere EBP-Komponenten ergänzen (z. B. Dollaghan 2007). VHN 3 | 2012 192 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag Damit ergeben sich vielfältige Herausforderungen für die logopädische Interventionsforschung. Ihr Ziel ist es, theoriegeleitet sprachtherapeutische Maßnahmen für Personen mit kommunikativen Beeinträchtigungen zu entwickeln, empirisch zu evaluieren und zu optimieren. Im Mittelpunkt des Interesses stehen einerseits Fragen der Effektivität und Effizienz von Sprachtherapie. Andererseits will die Forschung auch Merkmale und kausale Mechanismen von erfolgreichen Interventionen identifizieren und besser verstehen lernen. Solche Kenntnisse sind grundlegend für die Weiterentwicklung der logopädischen Theoriebildung und Forschung, aber auch für die Fundierung sprachtherapeutischer Tätigkeit im Sinne von EBP (z. B. Haynes/ Johnson 2008). Therapieevaluationen sind indes ein anspruchsvolles und komplexes Unterfangen. Zur Strukturierung des wissenschaftlichen Prozesses sind u. a. in der Speech-Language- Pathology Phasen-Modelle vorgeschlagen worden. Robey (2004) unterscheidet zwischen fünf Phasen der klinischen Outcome-Forschung, denen spezifische Ziele und Methodologien zugeordnet sind. In den Phasen I und II geht es darum, hypothesengeleitet positive Effekte einer Intervention zu identifizieren sowie eine aussichtsreiche Therapie zu verfeinern, zu standardisieren und für die weiterführende Evaluation vorzubereiten. Mögliche Designs sind deskriptive und kontrollierte (Einzel-)Fallstudien sowie kleinere Gruppenstudien. Phase III prüft die Therapiewirksamkeit unter idealen Bedingungen, die von den Forschenden definiert und kontrolliert werden. Der goldene methodische Standard dieser Phase ist die randomisiertkontrollierte Studie (RCT), bei der eine repräsentative und ausreichend große Stichprobe von definierten klinischen Versuchspersonen zufällig in eine Therapie- und eine Kontrollgruppe aufgeteilt wird. Diese Gruppen werden einem Vortest, einem Nachtest und bestenfalls noch einer Follow-up-Untersuchung unterzogen und hinsichtlich ihres sprachlichen Fortschritts über die Zeit verglichen. Qualitativ gute RCT liefern unbestritten valide und generalisierende Aussagen zur Wirksamkeit von Interventionen, sie sind in der Logopädie jedoch nicht immer möglich bzw. nicht leicht zu realisieren. Als Alternative können gute kontrollierte Gruppenstudien ohne Randomisierung dienen. Bisher effektive Therapien werden in Phase IV weiter evaluiert, um zu klären, inwieweit sie auch unter normalen (Praxis-)Bedingungen wirksam sind. Hierzu sind wieder verschiedene Studiendesigns möglich, vorteilhaft mit größeren Samples bzw. multiplen Replikationen von Einzelfallstudien. In Phase V wird die Evaluationsforschung durch Untersuchungen zur Kosten-Effizienz und zur Klientenzufriedenheit abgerundet. Im Verlauf einer produktiven Therapieevaluation fallen also mehr oder weniger umfangreiche Pools an Primärstudien an, deren Befunde es zu ordnen, zusammenzufassen und zu interpretieren gilt, wozu sich systematische Übersichten anbieten (z. B. Garrett/ Thomas 2006). 2 Was sind systematische Reviews und wozu dienen sie? A ls anerkannte wissenschaftliche Methodologie verfolgen systematische Übersichtsarbeiten (nachfolgend auch: Übersicht oder Review) das Ziel, empirische Evidenz (Studienbefunde) zu spezifischen Fragestellungen (z. B. Wirksamkeit von Sprachtherapie) zu identifizieren, zu selektionieren, zu bewerten, zu synthetisieren und zu kommunizieren. Ähnlich wie Primärstudien umfassen Reviews mehrere aufwendige Arbeitsschritte, wobei im gesamten Forschungsprozess mittels rigoroser Strategien und Standards versucht wird, methodische oder logische Fehler zu vermeiden. VHN 3 | 2012 193 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag Werden Ergebnisse aus mehreren Studien statistisch zusammengefasst und übergeordnete Effektstärken ausgewiesen, spricht man von einer Meta-Analyse als optionaler Review- Komponente. Adäquate metaanalytische Auswertungen ermöglichen, „auch bei nicht übereinstimmenden oder widersprüchlichen Partialbefunden zu einem eindeutigen Gesamtergebnis zu gelangen und die Unterschiedlichkeit der Partialbefunde anhand von Moderatorvariablen zu erklären“ (Eisend 2004, 19). Während Meta-Analysen in der Literatur primär mit RCT-Studien in Verbindung gebracht werden, ist die Anwendung von aggregierenden statistischen Verfahren grundsätzlich auch auf quantitative Daten aus Studien mit anderen Designs möglich (Nicht-RCT, Einzelfallanalysen). Wie Garrett und Thomas (2006) betonen, müssen sich systematische Reviews (mit oder ohne Metaanalyse) weder auf RCT-Studien noch auf bestimmte Phasen der Outcome-Forschung beschränken. Qualitativ gute Übersichten können für anwendungsorientierte Disziplinen wie die Logopädie/ Sprachheilpädagogik in mancher Hinsicht nützlich sein: sie bilanzieren und bewerten den verfügbaren wissenschaftlichen Kenntnisstand bezüglich spezifischer Fragestellungen, können etwaige Lücken und Defizite der bisherigen Forschung aufzeigen und dadurch auf zukünftige wissenschaftliche Aktivitäten hinweisen. Reviews unterstützen zudem die Implementation von evidenzbasierter Sprachtherapie, indem sie dem Praktiker einen zeitsparenden Zugriff auf vorgefilterte empirische Evidenz z. B. zum Nutzen von Interventionen erlauben (z. B. Schlosser 2006). Wissenschaftliche Aussagekraft und praxisorientierter Nutzen von Reviews hängen von verschiedenen Faktoren ab: zum einen von der Quantität und der Qualität der ausgewerteten Primärstudien, zum anderen von der Qualität der Übersicht selbst, die erfahrungsgemäß variiert. Aus diesem Grund existieren mittlerweile verschiedene Instrumente, die es erlauben, Reviews kritisch zu evaluieren, um deren Befunde und Implikationen adäquat interpretieren zu können (z. B. Schlosser 2007). 3 Synopse systematischer Übersichten zur Kindersprachtherapie 3.1 Ziel S eit einigen Jahren zeichnet sich insbesondere in der angloamerikanischen Forschungsliteratur ein zunehmendes Interesse an systematischen Reviews von logopädischer Relevanz ab. Dieser positive Trend wird zum Anlass genommen, die aktuelle empirische Evidenz für den Nutzen von pädagogisch-therapeutischen Sprachinterventionen für Kinder oder Jugendliche auf der Basis von auffindbaren Übersichten zu bilanzieren und zu bewerten. Mit diesem Anliegen verknüpfen sich Fragen nach potenziellen Schwächen der bisherigen Interventionsforschung sowie nach daraus resultierenden wissenschaftlichen Implikationen und Herausforderungen für die Logopädie/ Sprachheilpädagogik. 3.2 methodik 3.2.1 Einschlusskriterien Das Interesse gilt systematischen Übersichten, die folgende Kriterien erfüllen: n Publikationszeitraum und -typ: Zwischen 1. 1. 1990 und 31. 12. 2010 als Print- oder Online-Beitrag in englischer oder deutscher Sprache. n Intervention: Der Review-Fokus liegt auf Effekten von direkten, sprachspezifischen, pädagogisch-therapeutischen Interventionen. Das Kriterium der sprachlichen Spezifität VHN 3 | 2012 194 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag gibt vor, dass die Intervention lautsprachlicher Natur ist und auf die Verbesserung von verbalen Fähigkeiten abzielt, speziell auf Sprechen/ Aussprache, Wortschatz, Grammatik, Diskurs, Redefluss und Stimme. Sofern Reviews zusätzliche Arbeiten zu anderweitigen Therapien einschließen, müssen die sprachspezifischen Studien separat dargestellt und ausgewertet sein, um einbezogen zu werden. n Zielgruppen: Adressaten der Interventionen sind Kinder oder Jugendliche mit Sprach-, Sprech-, Redefluss- oder Stimm(klang)störungen. Unerheblich ist, ob es sich um spezifische oder unspezifische Störungsbilder handelt. Reviews, die auch Studien mit anderen klinischen Populationen bzw. Probanden (z. B. Erwachsene) auswerten, werden berücksichtigt, falls für den hier interessierenden Personenkreis separate Analysen und Befunde präsentiert werden. Entsprechend diesen Kriterien bleiben Übersichten zu nicht-sprachspezifischen Therapien (z. B. Mundmotorikübungen), zu indirekten Interventionen (z. B. Eltern- oder Peer-Training) und zur alternativen Kommunikation (AAC) ebenso ausgeklammert wie Forschungssynthesen psychotherapeutischer, medizinischer oder pharmakologischer Studien. Aus Platzgründen gehen auch keine Arbeiten zum Bereich der Metasprache (z. B. phonologische Bewusstheit) und zum Lesen- und Schreibenlernen in diese Synopse ein. Dasselbe gilt für Reviews zur Frühförderung von late talkers, zumal diese Thematik einem späteren Beitrag des VHN-Themenstrangs „Evidenzbasierte Logopädie/ Sprachheilpädagogik“ vorbehalten ist. 3.2.2 Literaturrecherchen und Review-Selektion Zum Auffinden von relevanten Arbeiten wurden elektronische Recherchen in mehreren Review-Datenbanken durchgeführt: Cochrane Reviews, Database of Abstracts of Reviews of Effects, The Campbell Collaboration Library of Systematic Reviews. Dabei kamen Kombinationen von folgenden Suchbegriffen zur Anwendung: 1. Intervention: Intervention OR therapy OR training OR treatment; 2. Diagnose/ Störungsbild: a) (speech OR articulation OR phonological OR phonetic) AND (disorder OR impairment OR disability OR delay); b) (language OR lexical OR grammatical OR semantic) AND (disorder OR impairment OR disability OR delay); c) (fluency disorder OR impairment OR disability OR delay) OR (stuttering OR cluttering OR mutism); d) communication AND (disorder OR impairment OR disability OR delay); e) (voice disorder OR impairment OR disability) OR (rhinophonia OR rhinolalia OR cleft palate). Diese Termini kamen ebenfalls zur Anwendung bei der Durchsicht des Compendium of EBP Guidelines & Systematic Reviews (ASHA) und der ASHA/ N-CEP Evidence-Based Systematic Reviews sowie bei Suchen von Reviews in ERIC und SpeechBITE. Um gezielt auch die deutschsprachige Literatur abzudecken, erfolgten digitale Recherchen mit deutschen Suchbegriffen in PSYNDEX, SoLi und in der SZH-Literaturdatenbank. Diese Suchstrategien ergaben 376 Treffer, die der Autor sorgfältig sichtete, um anhand der Datenbankinformationen und ggf. der Lektüre der Originalarbeit zunächst alle Beiträge auszusondern, die für diese Synopse klar nicht infrage kamen. Nach Bereinigung des verbleibenden Pools um doppelt oder mehrfach identifizierte Titel resultierten 36 potenzielle Reviews, wovon eine nicht auffindbar VHN 3 | 2012 195 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag war. Die verfügbaren Arbeiten wurden rigoros auf alle Selektionskriterien hin überprüft. 15 Übersichten fielen dabei noch weg, womit definitiv 20 Reviews in die Synopse einflossen. Alle Arbeiten datieren nach 2000 (2002 - 2010). Fünf Beiträge sind Cochrane- Reviews, neun Übersichten erschienen in wissenschaftlichen Zeitschriften, und sechs Arbeiten sind Online-Publikationen (Journal, Datenbank). Die Autorenschaft stammt fast ausnahmslos aus dem englischsprachigen Forschungsraum, wobei die USA mit 14 Übersichten am besten vertreten ist, gefolgt von Großbritannien (N = 3), Australien (N =2) und Holland (N = 1). 3.2.3 Kodierung, auswertung und bewertung Die Komponenten einer Übersicht strukturierten die Kodierung dieser Arbeiten zwecks Extraktion von Informationen zu folgenden Kategorien: a) Ziel/ Fragestellung; b) Review-Methodik; c) Anzahl/ Merkmale von Primärstudien; d) Probandeninformationen; e) Interventionscharakteristika; f) Ergebnisse; g) Implikationen. Die gewonnenen Daten dienten der Analyse und einer verdichteten Darstellung inhaltlicher und methodischer Merkmale sowie der Befunde von Reviews. Es wurden nur Studien aus Übersichten berücksichtigt, welche die oben definierten Einschlusskriterien erfüllen. Dies führt dazu, dass gewisse Angaben dieser Synopse (z. B. Anzahl Primärstudien, Versuchspersonen) von den Informationen in den Übersichten abweichen können. Die extrahierten effektspezifischen (Teil-)Befunde werden deskriptiv präsentiert, wobei wenn immer möglich quantitative Daten ausgewiesen sind (z. B. Effektstärken, PND). Eine statistische Aggregierung von Review-Befunden war weder sinnvoll noch möglich in Anbetracht heterogener Inhalte, Methoden, Ergebnisse und Qualität der Sekundärstudien. Zur Beurteilung der Evidenzbasierung von Aussagen zur Therapiewirksamkeit wurde eine Taxonomie entwickelt, die dem spezifischen Datenmaterial der Synopse Rechnung tragen sollte. Gestützt auf die Literatur über Evidenzhierarchien in der logopädischen Interventionsforschung (z. B. Dollaghan 2007; Haynes/ Johnson 2008) kommt dem Kriterium des Studiendesigns eine zentrale Bedeutung zu. RCT’s werden prinzipiell am höchsten eingestuft (A), gefolgt von nicht-randomisierten a++ a+ a metaanalyse von ≥ 2 Rct Deskriptive Synthese von ≥ 2 Rct 1 Rct b++ b+ b metaanalyse von ≥ 2 Nicht-Rct Deskriptive Synthese von ≥ 2 Nicht-Rct 1 Nicht-Rct C++ C+ C metaanalyse von ≥ 2 ScS Deskriptive Synthese von ≥ 2 ScS 1 ScS D++ D+ D metaanalyse von ≥ 2 nicht-kontrollierten Studien Deskriptive Synthese von ≥ 2 nicht-kontrollierten Studien 1 nicht-kontrollierte Studie Tab. 1 Bewertung der Evidenzbasierung von Review-Befunden VHN 3 | 2012 196 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag kontrollierten Gruppenstudien (Nicht-RCT) (B), kontrollierten Einzelfallstudien (SCS) (C) und schließlich deskriptiven Therapiestudien (D). Ein weiterer Bewertungsaspekt betrifft die Art der Synthese von Befunden. Eine statistische Zusammenfassung (Metaanalyse) von Daten aus mindestens zwei Studien wird höher eingestuft als deskriptiv-qualitative Ergebnissynthesen. Wirksamkeitsaussagen aufgrund einer einzigen Originalarbeit sind am schwächsten bewertet. Obgleich mit diesem Klassifikationssystem - aber auch mit anderen Evidenzhierarchien - nicht alle qualitätsrelevanten Aspekte von Studien erfasst werden (z. B. Anzahl VP, Instrumente, Blinding), sollte seine Anwendung auf das vorliegende Material eine ausreichend differenzierte Einschätzung der empirischen Absicherung von Review-Ergebnissen ermöglichen. Alle Übersichten wurden einer qualitativen Bewertung anhand AMSTAR unterzogen. Der Einsatz dieses reliablen und validen Instruments (Shea u. a. 2009) schien angemessen, praktikabel und ökonomisch. AMSTAR beinhaltet elf Fragen zu methodischen Merkmalen von Übersichten, die mit JA, NEIN, WEISS NICHT oder NICHT ANWENDBAR beantwortet werden. Als Entscheidungshilfe sind jeweils Kriterien für JA-Kodierungen expliziert. In dieser Arbeit wurde im positiven Fall ein Punkt vergeben, alle anderen Bewertungen erhielten den Wert 0. Der AMSTAR-Gesamtscore als Indikator für die Review-Qualität kann somit 0 bis 11 betragen. Zur Interpretation werden die folgenden, arbiträr festgelegten Kategorien herangezogen: a) Schwache Qualität (0 - 3 Pkt.), b) mäßige Qualität (4 - 7 Pkt.) und c) hohe Qualität (8 - 11 Pkt.). 3.3 Ergebnisse 3.3.1 Thematisches interesse der Reviews Die Analyse von Zielsetzungen/ Fragestellungen und Einschlusskriterien der Übersichten lässt ein recht breites Spektrum an potenziellen Adressaten von sprachtherapeutischen Interventionen erkennen. Am häufigsten interessiert der Personenkreis mit spezifischen (primären) bzw. unspezifischen (sekundären) Störungen der Sprache (spezifische Sprachentwicklungsstörung, Autismus, geistige Behinderung) (Law u. a. 2003; Goldstein 2002; Mc- Ginty/ Justice 2006; Cirrin/ Gillam 2008; Cirrin u. a. 2010; Kane u. a. 2010; Petersen 2010; Schooling u. a. 2010; van Kleeck u. a. 2010), gefolgt von Kindern mit diversen Sprechstörungen (Artikulations-/ Aussprachestörung, Dysarthrie, Apraxie, Rhinolalie bei Spaltbildung) (Law u. a. 2003; Roper 2003; Morgan/ Vogel 2008 a und 2008 b; Pennington u. a. 2009; Hargrove u. a. 2009; Hassink/ Wendt 2010). Drei weitere Reviews widmen sich Personen mit Redeflussstörungen (Bothe u. a. 2006; Herder u. a. 2006; Frymark u. a. 2010), während Kinder (und Erwachsene) mit Stimmstörungen im Mittelpunkt des verbleibenden Reviews stehen (Speyer 2008). Die definierte Altersspanne der Interventionsadressaten ist je nach Übersicht weiter (z. B. „Vorschul- und Schulkinder“) oder enger (z. B. „nur Vorschulkinder“, „Grundschulkinder“) gefasst (vgl. Tab. 2 - 5). In Anbetracht dieser Zielgruppen erstaunt es nicht, dass die Reviews mehrheitlich auf logopädische Ansätze, Methoden oder Techniken zur Verbesserung von Sprach- und Sprechfähigkeiten fokussieren. Darüber hinaus beschäftigen sich einige Arbeiten mit Stottertherapien, ein Review evaluiert außerdem Effekte von Interventionen bei Stimmstörungen. Bestimmte oder singuläre Therapien (z. B. „zyklisch-phonologische Therapie“, „Melodische Intonationstherapie“) sind selten Gegenstand von Reviews. In den meisten Fällen sind die interventionsspezifischen Einschlusskriterien breiter bzw. vager formuliert (z. B. „Sprechtherapien“, „Phonologie-Therapien“, „direkte Therapien“, „logopädische Stimmtherapie“). Demzufolge werten die meisten Übersichten empirische Studien zu diversen sprachthera- VHN 3 | 2012 197 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag peutischen Verfahren für spezifische logopädisch-sprachheilpädagogische Problembereiche aus. Anzumerken bleibt, dass die evaluierten Interventionen nur ausnahmsweise theoretisch begründet und näher beschrieben werden. Drei Reviews unterscheiden sich von den übrigen darin, dass sie primär Effekte von übergeordneten logopädischen Implementationsmodellen (z. B. pull out vs. klassenintegrierte Therapie, Einzelvs. Gruppentherapie) bzw. von Therapiemodalitäten (z. B. Dosierung) evaluieren - also keine therapeutischen Interventionen im engen Sinn. Für eine Übersicht über die in den einzelnen Reviews untersuchten Interventionen und deren Adressaten wird auf den Ergebnisteil verwiesen (Tab. 2 - 5). 3.3.2 Qualität und empirische basis der Übersichtsarbeiten Die Feststellung in der Literatur, dass Reviews in qualitativer Hinsicht beachtlich variieren können, trifft auf die ausgewerteten Arbeiten zu. Die AMSTAR-Bewertungen fielen heterogen aus: Vier Übersichten können als qualitativ gut gelten (Law u. a. 2003; Bothe u. a. 2006; Lee u. a. 2009; Cirrin u. a. 2010), 13 Reviews sind von mäßiger Qualität (Roper 2003; Pennington u. a. 2009; Herder u. a. 2006; McGinty/ Justice 2006; Cirrin/ Gillam 2008; Morgan/ Vogel 2008 a und 2008 b; Frymark u. a. 2010; Hargrove u. a. 2009; Hassink/ Wendt 2010; Petersen 2010; Schooling u. a. 2010; van Kleeck u. a. 2010), und drei Übersichten lassen eine schwache Methodik erkennen (Goldstein 2002; Speyer 2008; Kane u. a. 2010). Wie aus den Bewertungen weiter hervorgeht, kommen metaanalytische Verfahren nur bei Law u. a. (2003), Herder u. a. (2006), van Kleeck u. a. (2010) (Gruppenstudien) und bei Kane u. a. (2010) (Einzelfallstudien) zum Einsatz. Die übrigen Reviews präsentieren und synthetisieren die Studienergebnisse deskriptiv. Immerhin weisen mehrere Übersichten ohne Metaanalyse teilweise Effektstärken (mit oder ohne Vertrauensintervalle) oder Signifikanzangaben für einzelne Studien resp. Outcome-Variablen aus. Neben der methodischen Qualität interessiert die empirische Basis der Übersichten. Diesbezügliche Auswertungen zeigen zunächst, dass insgesamt vier Arbeiten zur Therapie von Sprechapraxie (Morgan/ Vogel 2008 b), Dysarthrie (Morgan/ Vogel 2008 a; Pennington u. a. 2009) und Redeflussstörungen (Frymark u. a. 2010) leer sind; die Forschenden fanden also keine Studien, die ihren Einschlusskriterien entsprochen hätten. Die anderen Reviews waren mehr oder weniger erfolgreich, wobei die Zahl der hier eingeschlossenen Originalarbeiten zwischen N = 1 (Min.) und N = 23 (Max.) liegt (Total: N = 133). Entsprechend heterogen sind auch die Totale der Versuchspersonen pro Review, die n = 6 (Min.) bis n = 491 (Max.) betragen (Total: n = 2410) (s. Abb. 1 S. 198). Unberücksichtigt bleibt in dieser Darstellung, dass fünf Studien mehr als einmal ausgewertet wurden. So gingen vier Originalarbeiten in zwei Übersichten ein, eine weitere Untersuchung in drei Reviews. Die obigen Angaben (Totale) sind daher um diese geringen Überschneidungen zu bereinigen bzw. etwas nach unten zu korrigieren: N = 127 und n = 2238. Law u. a. (2003), Herder u. a. (2006) und Lee u. a. (2009) analysierten nur RCT-Studien. Untersuchungen desselben Designs finden sich auch in den Reviews von Bothe u. a. (2006), McGinty/ Justice (2006), Petersen (2010), van Kleeck u. a. (2010), Hassink/ Wendt (2010), Cirrin u. a. (2010) und Schooling u. a. (2010), die darüber hinaus Studien mit schwächeren Untersuchungsanlagen beinhalten. Demgegenüber evaluierten Goldstein (2002), Hargro- VHN 3 | 2012 198 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag ve u. a. (2009) und Kane u.a. (2010) nur einzelfallanalytische Arbeiten, Roper (2003) und Speyer (2008) hingegen ausschließlich unkontrollierte Therapiestudien. 20 % aller Primärstudien verfügen über ein RCT-Design. Etwas höher fällt der Anteil an nicht-randomisierten Gruppenstudien (24 %) aus. Kontrollierte Einzelfallstudien (SCS) sind im Datenmaterial am häufigsten vertreten (40 %), wozu besonders die Arbeiten zur Autismus-Therapie beitragen. Der Prozentsatz nicht kontrollierter Therapiestudien fällt mit 16 % am geringsten aus. Die Analyse der Primärarbeiten ergab schließlich, dass nur sechs Reviews (Goldstein 2002; Law u. a. 2003; Bothe u. a. 2006; Cirrin u. a. 2010; Kane u.a. 2010; Petersen 2010) mindestens eine Studie mit einer Follow-up-Erhebung enthalten (N = 26; 21 %), wobei in mehreren Fällen unklar bleibt, wann die Nacherhebung stattfand. Im Rahmen dieser Forschungssynopse sind folglich keine breit abgestützten Aussagen über mittel- oder langfristige Sprachtherapieeffekte zu erwarten. 3.3.3 befunde zur Wirksamkeit Zur Strukturierung der Ergebnisse werden zunächst Reviews zur Frage der Effektivität von sprachtherapeutischen Ansätzen oder Methoden erörtert, und zwar gesondert nach Zielbereichen von Interventionen (Sprache, Sprechen, Redefluss, Stimme). Im Anschluss daran interessieren Erkenntnisse aus Übersichten zum Einfluss von logopädischen Implementationsmodellen auf lautsprachliche Fähigkeiten von kommunikativ beeinträchtigten Personen. 3.3.3.1 therapien bei Sprachstörungen Drei Arbeiten geben Auskunft über den Forschungsstand in Bezug auf Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen. Law u. a. (2003) gelangen in ihrer qualitativ guten Metaanalyse von RCT-Studien zu einer positiven Einschätzung der Wirksamkeit von sprachtherapeutischen Maßnahmen bei jüngeren sprachgestörten Kindern. Eine nähere Betrachtung der (Teil-)Befunde für direkte logopädische Grammatik- und Wortschatz-Therapien lässt indes keine praktisch bedeutsamen abb. 1 Anzahl und Designs von Primärstudien in gefüllten Übersichten VHN 3 | 2012 199 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag Effektstärken erkennen, zumal alle Vertrauensintervalle den 0-Wert enthalten. Die Auswertung nur von Studien von mehr als 8 Wochen Dauer ergab etwas höhere, aber ebenfalls nicht praktisch bedeutsame Effektstärken. Eine einzige Studie untersuchte Langzeiteffekte und berichtet, dass „overall effects of language therapy had largely worn off at six months post intervention“ (Law u. a. 2003, 27). Ein Vergleich von direkten (Logopäden) und indirekten (Eltern) Interventionen zeigte keinen bedeutsamen Unterschied zugunsten professioneller Therapien. Diesen Befunden liegen relativ wenige und teilweise ältere Studien zugrunde, weshalb keine voreiligen Schlüsse gezogen werden sollten. Die Autoren plädieren denn auch für mehr Forschung u. a. zur besseren Klärung von kurz- und mittelfristigen Effekten und von relevanten Faktoren, die den Therapieerfolg begünstigen. Cirrin und Gillam (2008) erarbeiteten eine systematische Übersicht von Therapiestudien mit jüngeren Schulkindern. Wie ihr Beitrag deutlich macht, gibt es bislang relativ wenig externe Evidenz, welche die in der Praxis eingesetzten Verfahren zur Verbesserung von sprachlich-kommunikativen Kompetenzen wissenschaftlich unterstützen könnte. Immerhin fanden sich Hinweise darauf, dass Modellieren oder Imitation kindliche grammatische Fähigkeiten positiv beeinflussen, wogegen sich keine Belege für den (zusätzlichen) Nutzen von computerbasierter Grammatiktherapie fanden. Mehrheitlich positive Befunde resultierten für semantisch-lexikalische Interventionen. Ferner scheinen direkte Instruktionen geeignet zu sein, pragmatischkommunikative Fähigkeiten von Schulkindern zu erweitern. Die Autoren betonen allerdings, dass ihre Befunde mit Vorsicht zu interpretieren seien wegen der geringen Zahl an Forschungsarbeiten, mangelhafter Untersuchungsdesigns, fehlender Langzeituntersuchungen und anderer qualitativer Probleme von Primärstudien. Dies unterstreicht die Notwendigkeit weiterführender Therapieforschung insbesondere auch mit älteren Schulkindern, über welche der Review kaum Aussagen erlaubt. Petersen (2010) fokussierte auf Maßnahmen zur mündlichen Erzählfähigkeit von sprachgestörten Kindern. Die Auswertung von Studien unterschiedlichen Designs ergab, dass wiederholtes Nacherzählen und das Generieren von eigenen Geschichten (Mindestdauer der Intervention: 60 Min.) relevante kurzzeitige Verbesserungen im makrostrukturellen (Grobaufbau) wie im mikrostrukturellen (z. B. temporale, kausale Verknüpfungen) Bereich nach sich ziehen können. Der Einfluss von anderen Interventionskomponenten und spezifischen Materialien bleibt unklar. Auch die wenigen verfügbaren Befunde zu Generalisations- und Langzeiteffekten ermöglichen keine definitiven Aussagen. In Anbetracht diverser Schwächen der Studien ist die empirische Evidenz für den Nutzen von narrativen Fördermethoden kritisch zu interpretieren und ergänzungsbedürftig. Trotz des Bedarfs an zusätzlicher Forschung erscheint es den Autoren sinnvoll, in der Arbeit mit sprachgestörten Kindern auf das mündliche Erzählen zu fokussieren und unter Einsatz von Aktivitäten wie Nacherzählen, Geschichtengenerieren oder Modellieren die kindliche Diskursfähigkeit zu verbessern versuchen. Ergänzend untersuchten drei Reviews die Wirksamkeit von spezifischen Interventionen bei Kindern mit sekundären Beeinträchtigungen der Sprachentwicklung. Goldstein (2002) gelangte in seiner qualitativ schwachen Synthese von einzelfallanalytischen Arbeiten mit autistischen Kindern zu der Einschätzung, strukturierte behaviorale Sprachtrainings seien „largely effective“ im Hinblick auf das unmittelbare Lernen (Produktion) von Sprachformen und -inhalten. Die Befunde zur Generalisierung (Kontext, Personen u. a.) des Gelernten sind uneinheitlicher, in der Tendenz aber positiv. Zukünftige Forschung solle vermehrt umfassende Interventionen entwickeln und evaluieren, die das generalisierte und nachhaltige Sprachlernen von autistischen Kindern am besten unterstützen. VHN 3 | 2012 200 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag autoren Diagnosen/ alter Versuchspersonen interventionen befunde Evidenz Qualität Review Law u. a. (2003) Spezifische Sprachstörung (keine näheren angaben) 1 -7 J. (v. a. Kleinkinder) therapien für Grammatik und Wortschatz (u. a. fokussierte Stimulation) (kaum angaben) Keine signifikanten Effekte vs keine therapie: n Produktive Grammatik: ES = .28, n.s. n Rezeptive Grammatik: ES = .01, n.s. n Expressiver Wortschatz: ES = .13, n.s. Höhere Effekte für Studien von > 8 Wochen: ES = .19 bis .43, n.s. Keine Unterschiede indirekte vs direkte therapie: ES = -.11 bis .20, n.s. a++ a++ a++ a++ a++ H cirrin/ Gillam (2008) Spezifische Sprachstörung 5 -14 J. (v. a. Kindergarten und 1. Klasse) Grammatik: modellieren, modellieren + evozierte Produktion, Imitation, computertraining mit modifiziertem Input Semantik/ Wortschatz: Wortfindungsstrategien, vermitteltes Lernen, Brückenstrategien, interaktiv-konversationelle Strategie, kollaborative, klassenbasierte und Pull-out-therapie, Wortschatzarbeit mit diversen Präsentationsbedingungen (Prosodie, Gesten) Pragmatik/ Diskurs: Vermittlung sozial-kommunikativer Strategien für Gruppenzugang, Instruktion zur Erhöhung thematischer Initiationen in Konversationen Grammatik: n mäßige/ hohe Effekte für Imitation, modellieren, modellieren + evozierte Produktion: ES = .64 bis 1.0 bzw. ES = .5 bis 1.31 n Kein zusätzlicher Vorteil von computertrainings Semantik/ Wortschatz: n Vergleichbare Effekte für Elaborations- und abrufstrategien n Vergleichbare Effekte für semantische und phonologische Wortfindungstherapie: ES = .6 / .7 n Hohe Effekte für vermitteltes Lernen und Brückenstrategien: ES = 1.1 n moderate Effekte für Instruktion interaktiver Strategie: ES = .5 n Kleine bis hohe Effekte für lexikalische Präsentationsbedingungen: Langsam vs schnell (ES = 1.1; Verstehen/ Produktion), betont vs neutral (ES = .12/ Verstehen; ES = .74/ Produktion ), Geste vs ohne Geste (ES = .57/ Verstehen; ES = .33/ Produktion) n alle Implementationen sind effektiv: Kollaborativ (ES = 2.5), klassenbasiert (ES = 3.5), pull out (ES = 1.2) Pragmatik/ Diskurs: n Hohe Effekte für direkte Vermittlung sozial-kommunikativer Strategien: ES = 2.2 bis 4.5 n moderate/ hohe Effekte für Interventionen zu konversationellen Initiationen: ES = .6 bis 1.5 B/ c B B D B B B B c c m Petersen (2010) Spezifische Sprachstörung Vorschule bis 6. Klasse Narrative Interventionen: n Nacherzählen und eigene Geschichtenproduktion (alle Studien) n Fokussierte Stimulation, inzidentelles Lehren n Einsatz diverser visueller Stimuli Positive Befunde in 8/ 9 Studien mit therapiedauer > 60 min mäßige/ hohe Effekte auf makrostruktur: ES = .73 bis 1.57 mehrheitlich mäßige/ hohe Effekte auf mikrostruktur: ES = -.97 bis 1.33 aufrechterhaltung: positiv bei 2/ 3 der VP Generalisierung: 1. Studie n.s.; 2. Studie mehrheitlich positiv a/ B/ c+/ D+ a/ B/ c+/ D+ c c/ D m Goldstein (2002) autismus 2 -18 J. Operante Sprachtrainings mit modellieren, Verstärkung, Korrektur u. a. Generell positive Effekte auf unmittelbares Sprachlernen Weniger einheitliche und überzeugende Befunde für Generalisierung oder aufrechterhaltung c+ c+ S Kane u. a. (2010) autismus 2 - 13 J. n Hoch strukturierte, behaviorale therapien n Naturalistische Interventionen Lernen: Naturalistisch (PND = 83 %) > strukturiert (PND = 65 %) Generalisierung: strukturiert (PND = 87 %) > naturalistisch (PND = 72 %) aufrechterhaltung: naturalistisch (PND = 88 %) > strukturiert (PND = 82 %) c++ c++ c++ S van Kleeck u. a. (2010) Geistige Behinderung 3; 7 -15; 9 J. Verschiedene Formen des Sprachinputs: telegraphisch vs grammatisch Gemischte Befunde je nach modalität: Verstehen: telegraphisch vs grammatisch: ES = -.25, n.s. Produktion: telegraphisch vs grammatisch: ES = .79, sign. a++ a m ES: Effektstärke; H: hoch; m: mäßig; n.s.: nicht signifikant; PND: Prozentsatz nicht-überlappender Daten; S: schwach; sign.: signifikant; VP: Versuchsperson(en); vs: versus Tab. 2 Review-Befunde zu Interventionen bei Sprachstörungen VHN 3 | 2012 201 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag Drei bei Goldstein ausgewertete Studien gingen auch in den als qualitativ schwach taxierten Review von Kane u. a. (2010) ein. Die Autoren werteten Einzelfallstudien zu hoch strukturierten 1 : 1-Interventionen und zu kindzentriert-interaktiven (naturalistischen) Sprachinstruktionen aus. Percentage of nonoverlapping data wurden statistisch zusammengefasst und deskriptiv verglichen. Demnach können beide Interventionstypen grundsätzlich wirksam sein. Naturalistische Ansätze scheinen etwas vorteilhafter als strukturierte zu sein, wenn es um das Lernen von Sprachformen und -inhalten und um deren Aufrechterhaltung geht. Möglicherweise besteht der Vorteil von kindzentrierten Verfahren darin, „that the naturally occurring contingencies used during intervention phases continue to be available within the environment over time“ (Kane u. a. 2010, 138). Bezüglich der Generalisierung verhielt es sich umgekehrt, strukturierte Verfahren schnitten günstiger ab als kindzentrierte. Für dieses unerwartete Resultat werden verschiedene Erklärungen in Betracht gezogen. Neben studienmethodischen Faktoren wird vermutet, spezifische Merkmale von strukturierten Interventionen (Wiederholung, Generalisierungsmaßnahmen) würden den Lerntransfer stärker unterstützen als naturalistische Instruktionen. Die Befunde legen nahe, kombinierte Sprachinterventionen seien für autistische Kinder am besten geeignet: Während naturalistische Verfahren für den Erwerb von sprachlichen Fähigkeiten nützlich sein können, dürften strukturierte Vorgehensweisen im weiteren Verlauf hilfreich zur Sicherung von Generalisierungseffekten beitragen. Die Klärung von Wirksamkeitsunterschieden zwischen beiden Interventionsarten bedarf zusätzlicher Studien. Diese sollten auch Variablen identifizieren, welche sich positiv auf sprachliche Fortschritte autistischer Kinder auswirken. Van Kleeck u. a. (2010) interessierten sich für Effekte von verschiedenen Typen des sprachlichen Inputs - telegraphisch (TI) versus grammatisch (GI) - auf rezeptive und expressive Kompetenzen von sprachretardierten Personen in den ersten Phasen der Sprachentwicklung. Sie fanden und metaanalysierten drei Interventionsstudien mit geistig behinderten Probanden. Während für das Sprachverstehen kein signifikanter Vorteil von TI gegenüber GI resultierte, war der Effekt des telegraphischen Sprachmodells bedeutsam für die Sprachproduktion. Die Autoren sahen sich nicht in der Lage, differenzielle Effekte beider Inputvarianten auf frühe Sprachfähigkeiten von sprachlich bzw. kognitiv retardierten Personen abschließend zu beurteilen. Der bevorzugte therapeutische Gebrauch des telegraphischen Sprachmodells bei diesen klinischen Populationen sei beim aktuellen Forschungsstand jedenfalls nicht zu begründen. 3.3.3.2 therapien bei Sprech- und Stimmstörungen Im Rahmen ihrer Metaanalyse synthetisierten Law u. a. (2003) RCT-Studien zu „Phonologie-Therapien“ hauptsächlich mit jüngeren Kindern. Laut dieser Subanalyse haben solche Therapien bedeutsame, mäßige Effekte auf expressive phonologische Fähigkeiten im Vergleich zu keiner Intervention. Aus einer Auswertung, die nur Therapiestudien von mehr als acht Wochen Dauer einschloss, resultierten etwas höhere Effektstärken. Eine einzige Studie erhob Follow-up-Daten und fand, dass die Sprechfortschritte vier Monate nach Therapieende aufrechterhalten werden konnten. Aussprachetherapien durch Fachleute schnitten nicht eindeutig besser ab als Elterntherapie. Wegen fehlender Beschreibungen der „Phonologie-Therapien“ ermöglicht die Metaanalyse keine Aussagen zur Wirksamkeit von spezifischen Behandlungsverfahren bei Aussprachestörungen. Hassink und Wendt (2010) analysierten Forschungsarbeiten zur zyklisch-phonologischen Therapie, die bei Law u. a. (2003) keine Erwäh- VHN 3 | 2012 202 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag autoren Diagnosen/ alter Versuchspersonen interventionen befunde Evidenz Qualität Review Law u. a. (2003) Spezifische Sprach- Sprechstörung 2 -7 J. (v. a. Kleinkinder) Phonologie-therapien (kaum angaben) mäßiger Effekt auf expressiv-phonologische Fähigkeiten: ES = .67, sign. Höherer Effekt in Studien > 8 Wochen Dauer: ES = .74, sign. Kein Unterschied indirekte vs direkte therapien: ES = .66, n.s. a++ a++ a++ H Hassink/ Wendt (2010) Phonologische Störung, z. t. kombiniert mit Sprachproblemen 2; 9 -5; 7 J. Zyklisch-phonologische aussprachetherapie Hoher Effekt vs keine therapie: ES = 1.42, sign. Kein klarer Vorteil vs alternativtreatment: ES = 1.51, n.s. Positiver trend in wenig aussagekräftigen Studien a B B/ D m Lee u. a. (2009) Spaltbildung (LKG) 4 -6 J. artikulationstherapie mit Elektropalatographie EPG (Varianten) anzahl Sitzungen bis zur Zielerreichung: EPG + visuelles Feedback < EPG-therapie < Standardbehandlung ohne Visualisierung a H Hargrove u. a. (2009) mutismus, Dysarthrie, Spezifische Sprachstörung 3 -18 J. Prosodie-Interventionen: n Shaping, Fading, Imitation, Generalisierung n Benennen, Fragetechniken, Sprechpraxis, modellieren, Imitation n Differenzierung, Sprechpraxis, modellieren n Sprechübung mit visuellem Feedback mehrheitlich positive auswirkungen (klinische Signifikanz, PND) Effekt je nach Kriterium fraglich bis sehr hoch c+ m Speyer (2008) Funktionelle und organische Stimmstörung „Kinder“ Logopädische Stimmtherapie (keine angaben) Studie 1: Stimmverbesserungen bei 2/ 3 der VP, Rückgang von Stimmknötchen Studie 2: „hoch effektiv“ bei allen 8 VP D+ S Tab. 3 Review-Befunde zu Interventionen bei Sprech- und Stimmstörungen VHN 3 | 2012 203 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag nung fand. Wie die Befunde aus zwei suggestive studies nahelegen, kann dieser Ansatz bei Kindern mit isolierten und kombinierten phonologischen Störungen effektiv zu einer verbesserten Sprechfähigkeit beitragen. Mehrere inconclusive studies weisen ebenfalls in eine positive Richtung. Die derzeitige Evidenz für die Wirksamkeit der zyklischen Therapie sei insgesamt beschränkt und ungeeignet, die logopädische Praxis produktiv zu informieren. In einer weiteren Übersicht zur Therapie kindlicher Sprechstörungen wollten Lee u. a. (2009) klären, ob Elektropalatographie (EPG) - ein computerbasiertes Instrument zur Visualisierung von Zungen-Gaumen-Kontakten - zur Behandlung artikulatorischer Probleme bei Kindern mit Spaltbildungen wirksam sei. In diesen Cochrane-Review floss nur eine randomisierte Studie mit wenigen japanischen Versuchspersonen ein. Die Ergebnisse dokumentieren, dass mit der herkömmlichen Artikulationstherapie mehr Sitzungen für die Zielerreichung nötig sind als mit der „EPG- Therapie“ und der „EPG-Therapie mit zusätzlicher Visualisierung von Reibelauten“, die von allen Varianten am besten abschnitt. Die Autoren bewerten die Evidenz zugunsten EPG-gestützter Therapie als nicht stark und betonen, der verbreitete Gebrauch von EPG bei Personen mit Spaltbildungen sei empirisch nicht zu begründen. Roper (2003) untersuchte den Nutzen der melodischen Intonationstherapie (MIT), bei der kurz intonierte Phrasen genutzt werden, um kindliche lautsprachliche Fähigkeiten zu verbessern. Drei Fallstudien mit sprechapraktischen Probanden berichten über positive Auswirkungen von MIT auf Sprechen und teilweise auch auf Sprachvariablen. Diverse Schwächen der Arbeiten lassen es aber als fraglich erscheinen, ob die Effekte ausschließlich durch MIT erklärbar sind. Die wissenschaftliche Basis für dieses Therapieverfahren sei im besten Fall als mager zu bezeichnen. Hargrove u. a. (2009) erforschten, inwieweit logopädische Interventionen zur Verbesserung von prosodischen Sprechmerkmalen (z. B. Betonung, Intonation, Lautstärke) nützlich sind. Neben Arbeiten mit Erwachsenen fanden sich nur einige wenige Einzelfallstudien mit Kindern, die heterogene logopädische Diagnosen aufwiesen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen gehen konform mit der generellen Schlussfolgerung des qualitativ mäßigen Reviews, dass prosodische Fähigkeiten von Personen mit Kommunikationsbeeinträchtigungen durch logopädische Behandlung verbessert werden können. Klare und differenzierte Aussagen zur Wirksamkeit von Prosodie-Interventionen seien aufgrund der geringen Anzahl von Studien/ Probanden und sonstiger methodischer Mängel nicht möglich. Dass auch auf dem Gebiet der Stimmtherapie weiterführender Forschungsbedarf besteht, verdeutlicht der Review von Speyer (2008). Von 47 ausgewerteten Studien thematisieren nur gerade zwei den Problembereich der kindlichen Stimmstörungen. In der ersten Untersuchung wies die Mehrheit der Behandelten nach Abschluss der logopädischen Therapie klinisch relevante Stimmverbesserungen auf. Bei Probanden mit Stimmknötchen normalisierten sich diese durchwegs. Laut der zweiten Studie war die Stimmtherapie bei allen Probanden hoch wirksam. Diese positiven Kurzzeiteffekte sind wegen der deskriptiven Natur der Primärarbeiten und der schwachen Review-Qualität zu relativieren. Es ist der Autorin zuzustimmen, wonach - auch mit Blick auf Erwachsene - noch viele Fragen zur Wirksamkeit von logopädischer Stimmtherapie offen bleiben. 3.3.3.3 Stottertherapien Bothe u. a. (2006, 336) evaluierten Forschungsarbeiten zu diversen Stottertherapien und gelangten insgesamt zu einer „ultimativ positiven“ Bilanz. Die Analysen von Studien mit Kindern legen nahe, dass verschiedene Interventionen die Stottersymptomatik (Rate VHN 3 | 2012 204 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag < 5 %) verbessern können, und zwar mehrheitlich kurz- und langfristig. Response-kontingente Therapien gehören nach diesem Review zu den bisher am besten untersuchten und zugleich zu den wirksamsten Interventionen insbesondere für jüngere stotternde Kinder. Da die Methodik der ausgewerteten Primärstudien nicht durchwegs geeignet ist für einen klaren Nachweis von Interventionseffekten, sind die Befunde zum Nutzen von Stottertherapien teilweise mit begründetem Vorbehalt zu bewerten. Evidenz für die Wirksamkeit von behavioralen bzw. operanten Stottertherapien fanden auch Herder u. a. (2006) in einer Metaanalyse von RCT-Studien, die bei Bothe u. a. (2006) unberücksichtigt bleiben. Es resultierten insgesamt hohe signifikante Effekte auf Redeflüssigkeit im Vergleich zu keiner Therapie, wobei diese Subanalyse keine Studien mit Kindern umfasst. Beim Vergleich von verschiedenen therapeutischen Verfahren (z. B. Varianten des Lidcombe Programms) fanden sich weder für Kinder noch für Jugendliche/ Erwachsene klare Vorteile zugunsten einer bestimmten Intervention. Die Autoren fordern mehr qualitativ gute Forschung, um den absoluten und relativen Effekt von diversen Stottertherapien noch besser bestimmen zu können. Zudem sollen Faktoren identifiziert werden, die für den Erfolg logopädischer Interventionen zur Verbesserung von kindlicher Redeflüssigkeit ausschlaggebend sind. 3.3.3.4 Sprachtherapeutische Implementationsmodelle Drei Reviews untersuchten Einflüsse von service delivery models auf sprachliche Outcomes von sprachlich-kommunikativ beeinträchtigten Kindern. McGinty und Justice (2006) fragten danach, ob klassenintegrierte Interventionen größere Fortschritte bewirken als traditionelle Pull-out- Therapien. Die gemischten Befunde einiger weniger Studien mit Vorschul- und jüngeren Schulkindern sprechen für einen tendenziellen Vorteil von klassenintegrierten Maßnahmen (Wortschatzförderung). Da keine praktisch bedeutsamen Effektstärken resultierten, sind die beiden Modelle als vergleichbar nützlich zu betrachten. Die Forscherinnen verzichten in Anbetracht der Datenlage auf explizite Praxisempfehlungen zugunsten einer spezifischen Implementationsform. Cirrin u. a. (2010) gelangen aufgrund von Studien mit sprachlich-kommunikativ beeinträchtigten Grundschulkindern zu analogen Schlussfolgerungen. Die verfügbare empirische Evidenz - hauptsächlich mit nicht signifikanten Befunden - erlaube keine klaren Aussagen darüber, ob und ggf. welche Implementationsmodelle geeigneter sind als andere. Immerhin verdichteten sich Hinweise darauf, dass klassenintegrierte Interventionen bei spezifischen Zielen (z. B. Wortschatzerweiterung) mindestens so erfolgreich sein können wie Pull-out-Therapien und dass sie die sprachliche Generalisierung begünstigen. Überdies können indirekte Interventionen durch angeleitete Eltern bzw. Therapieassistenten vergleichbare Effekte haben wie direkte logopädische Therapien. Auch Schooling u. a. (2010) werteten Studien aus zum Einfluss von verschiedenen sprachtherapeutischen Implementationstypen und -modalitäten auf sprachliche Fortschritte von Klein- und Vorschulkindern. Aus der Forschung zu dieser Altersstufe geht hervor: „Service delivery factors do not appear to have a significant effect on speech and language outcomes (…)“ (Schooling u. a. 2010, 24) In Übereinstimmung mit Law u. a. (2003) sprechen einige Befunde für einen Vorteil von höher dosierten bzw. längeren Interventionen im Vergleich zu kürzeren. Interpretation und praktische Implikationen dieser Befunde bleiben wegen methodischer Einschränkungen der ausgewerteten Arbeiten ungewiss. Im VHN 3 | 2012 205 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag autoren Diagnosen/ alter Versuchspersonen interventionen befunde Evidenz Qualität Review Bothe u. a. (2006) Stottern 3 -18 J. Diverse Stottertherapien: n therapie mit EmG-Biofeedback n Sprechübungen bei zunehmender Komplexität n Generelles Sprachtraining n Verlängertes, weiches Sprechen n atemtherapie n Response-kontingente therapien n Selbstmodellieren n Stottermodifikation Positive auswirkungen auf Stotter-Rate (< 5 %): n EmG-Biofeedback (Posttest, follow up) n Sprechpraxis bei zunehmender Komplexität (Posttest, follow up) n Verlängertes, weiches Sprechen (Posttest, follow up) n atemtherapie (Posttest) n Response-kontingente therapien (Posttest, follow up) n Stottermodifikation (Posttest) Erfolgskriterium nicht erreicht: n allgemeines Sprachtraining/ Selbstmodellieren B/ c B+ B+/ D a/ c a+/ B/ c+/ D+ B D/ c H Herder u. a. (2006) Stottern „Kinder“ Behaviorale Stottertherapien: Lidcombe-Programm (Varianten), Demands & capacity modell, aufbau von Flüssigkeit bei zunehmender Komplexität der Äußerung u. a. therapie vs keine therapie: hohe Effekte: ES = .91, sign. (keine Kinder-Studien) therapie vs therapie: kein bedeutsamer Unterschied: Kinder: ES = .11; Jugendliche/ Erwachsene: ES = .29 a++ a++ m Tab. 4 Review-Befunde zu Interventionen bei Redeflussstörungen autoren Diagnosen/ alter Versuchspersonen interventionen befunde Evidenz Qualität Review mcGinty/ Justice (2006) Spezifische Sprachstörung 2 -8 J. Klassenintegriert (team-teaching, Unterricht durch Logopädin) vs pull out (Einzel- oder Gruppe) Keine signifikanten Effekte zugunsten bestimmter modelle: n team-teaching > pull out (ES = 0.31, n.s.); Klassenintegriert (Logopädin) < pull out (ES = -0.76, n.s.) (Wortschatz) n Klassenintegriert (Logopädin) > pull out: ES = 0.2, n.s. (Wortschatz) n Pull out > klassenintegriert (Sprachverstehen); Pull out = klassenintegriert (Sprachproduktion) (ohne ES) B a a m cirrin u. a. (2010) Spezifische Sprachstörung, z. t. Sprechstörungen, autismus 6 -11 J. n Direkte (Logopädin) vs indirekte therapie (Eltern, assistenten) n Gruppenvs Einzeltherapie n Klassenintegriert vs pull out Keine signifikanten Effekte zugunsten bestimmter modelle: n Gruppe vs individuell: ES t2 = -0.15, n.s./ ES t3 = 0.01, n.s. n Direkt vs indirekt: ES t2 = -0.01, n.s./ ES t3 = 0.005, n.s. n Direkt vs indirekt: ES = -0.45 bis 0.08, n.s. n team-teaching > pull out (ES = 0.30); Klassenbasiert (Logopädin) < pull out (ES = - 0.76) (Wortschatz) a a B B H Schooling u. a. (2010) Spezifische Sprech- Sprachstörung, z. t. Entwicklungsretardierung, autismus 22 -66 mt. n Dosierung (Dauer, Intensität) n Direkte vs indirekte therapie n Gruppenvs Einzeltherapie Keine klaren Effekte zugunsten bestimmter modelle/ Bedingungen: n Dosierung: ES = -1.17 bis 1.77, mehrheitlich n.s.; 6 sign. Effekte für höhere Dosierung n Direkt vs indirekt: ES = -1.17 bis 1.24, mehrheitlich n.s. n Individuell vs Gruppe: ES = -1.17 bis 0.83, mehrheitlich n.s. n Pull out vs klassenintegriert: ES = 0.24 bis 0.56, n.s. a+/ B+/ c+ a/ B+ B+/ c+ a+ m Tab. 5 Review-Befunde zu logopädischen Implementationsmodellen VHN 3 | 2012 206 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag Hinblick auf eine bessere Klärung von Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Implementationsmodelle sowie von bedeutsamen Therapievariablen befürworten die Autoren mehr hochstehende Interventionsforschung. Die Ergebnisse der rezipierten Übersichten gehen konform mit den Teilbefunden von Law u. a. (2003), die in einer Metaanalyse von RCT-Studien ebenfalls keine Unterschiede fanden zwischen Gruppen- und Einzeltherapie resp. zwischen direkten und indirekten Interventionen für Kinder mit primären Sprachproblemen. 3.4 Fazit und Diskussion Aus dieser Synopse zur Wirksamkeit von Kindersprachtherapie resultiert eine zwiespältige Bilanz, die neben ermutigenden Befunden auch problematische Aspekte der logopädischen Interventionsforschung ausweist. Zu würdigen ist, dass 16 gefüllte Reviews identifiziert und ausgewertet werden konnten, die Auskunft geben über die verfügbare Evidenz zum Nutzen von sprachspezifischen Interventionen für Kinder mit diversen sprachlichkommunikativen Beeinträchtigungen. Diesen Arbeiten liegen gegen 130 Studien mit über 2000 Versuchspersonen zugrunde. Bemerkenswerterweise handelt es sich bei jeder fünften Studie um einen RCT, was die Aussage relativiert, dieses Design sei in der sprachtherapeutischen Forschung nur sehr selten anzutreffen (z. B. Beushausen/ Grötzbach 2011). Daneben werden zur Beurteilung von Therapieeffekten nicht-randomisierte Gruppenstudien und Einzelfallstudien herangezogen, vergleichsweise seltener auch nicht kontrollierte und daher wenig aussagekräftige Studien. Was nun die Frage der Wirksamkeit von Kindersprachtherapie angeht, lässt dieser Beitrag insgesamt einen positiven Grundtenor der ausgewerteten Übersichten erkennen. Folgt man deren Schlussfolgerungen, scheinen logopädische Interventionen kindliche Sprach-, Sprech-, Rede- und Stimmfähigkeiten grundsätzlich verbessern zu können. Soweit Effektstärken ausgewiesen werden, fallen diese - je nach Studien bzw. Outcomes - mehrheitlich moderat bis hoch aus. Beim Vergleich von logopädischen Therapien oder Implementationsmodellen sind die Reviews in der Regel nicht in der Lage, klare Favoriten zu benennen. Dieses Befundmuster lässt vermuten, dass verschiedene therapeutische Interventionen nützlich sein können, solange sie sprachspezifisch und ausreichend hoch dosiert sind. Die soweit erfreuliche Bilanz wird getrübt durch das übereinstimmende Fazit der Übersichten, die empirische Befundlage für die Wirksamkeit von interessierenden Interventionen sei in mancher Hinsicht begrenzt oder defizitär. Kleine Studienund/ oder Probandenzahlen, wenig überzeugende Untersuchungsdesigns, fehlende Follow-up-Daten und andere häufig genannte methodische Probleme von Primärstudien - aber auch gewisse Schwächen der Sekundärstudien selbst - relativieren zumeist die Aussagekraft von Review-Befunden und erlauben keine definitiven Antworten auf die Frage, was Kindersprachtherapie zu leisten vermag. Dies gilt besonders im Hinblick auf sprachliche Langzeiteffekte, die in der bisherigen Forschung wenig Beachtung gefunden haben und, soweit untersucht, ein durchzogenes Bild hinterlassen. Diese Synopse erlaubt ebenfalls keine Aussagen über nicht-sprachliche Auswirkungen von Sprachtherapie (Ausnahme bei Bothe u. a. 2006) und über andere Aspekte von Interventionen wie das Kosten-Nutzen- Verhältnis oder die Klientenzufriedenheit. Zudem basiert die skizzierte Evidenz für den Nutzen von professioneller Sprachtherapie fast ausschließlich auf Arbeiten mit Englisch sprechenden Probanden, was offen lässt, inwieweit die rezipierten Ergebnisse auf andere Sprachräume übertragbar sind. Unbefriedigend ist VHN 3 | 2012 207 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag weiter der generelle Eindruck einer unzureichenden Beschreibung und Theoretisierung von untersuchten Interventionen, weshalb in den Reviews auch keine Rückbindung von empirischen Erkenntnissen an theoretische Hypothesen erfolgt. Schließlich bleiben die Übersichten im Allgemeinen sehr zurückhaltend, was Praxisempfehlungen angeht. Stattdessen werden bevorzugt mehr oder weniger differenzierte Forschungsimplikationen formuliert. Dies mag aus der Sicht der logopädisch-sprachheilpädagogischen Praxis unbefriedigend erscheinen, ist in wissenschaftlicher Hinsicht aber konsequent und begründet. 4 Forschungsausblick W elche wissenschaftlichen Implikationen resultieren aus dieser konstruktiv-kritischen Bilanz für die Logopädie? Zunächst besteht einhelliger Konsens über die Notwendigkeit, sprachtherapeutische Forschung auf der Ebene von Primärstudien zu intensivieren. Logopädische Ansätze, Methoden oder Implementationsmodelle verfügen derzeit über keine solide bzw. vollständige empirische Absicherung, weshalb auf breiter Basis weiterführende Evaluationsforschung angezeigt ist. Gefragt sind künftig nicht nur mehr Studien zur Wirksamkeit von verschiedensten sprachtherapeutischen Maßnahmen. Vielmehr müssen mehr qualitativ gute Studien erstellt werden, damit Effekte von spezifischen Sprach-, Sprech-, Redefluss- oder Stimmtherapien für Kinder oder Jugendliche noch besser wissenschaftlich untersucht, untermauert und verstanden werden können. Damit werden keinesfalls nur RCT-Studien gefordert, denn je nach Phase der Therapieevaluation können (auch) andere Designs angemessen sein. Wesentlich wird sein, dass man in empirischen Untersuchungen zusätzlichen Faktoren besondere Aufmerksamkeit schenkt, welche die interne und externe Validität von Befunden erhöhen. Die vorliegende Synopse legt nahe, dass künftige Kindersprachtherapieforschung mit Vorteil häufiger Langzeiteffekte evaluiert, einflussreiche Interventionsvariablen und kausale Mechanismen identifiziert, verfeinerte Methodenvergleiche anstellt, Wirksamkeit unter idealen versus alltäglichen Bedingungen exploriert und für bewährte Therapien im besten Fall noch die Kosten-Effizienz und die Klientenzufriedenheit untersucht. Systematische Reviews dürften vor diesem Hintergrund weiterhin eine wichtige Rolle spielen: Sie bilanzieren von Zeit zu Zeit die sich akkumulierende externe Evidenz zu spezifischen kindersprachtherapeutischen Fragen mit dem Ziel, Forschung und Praxis über unser aktuelles Wissen bezüglich erfolgversprechender Interventionen zu informieren und ggf. erforderliche wissenschaftliche Aktivitäten anzuregen. Angezeigt ist ferner das Erstellen von Reviews zu logopädischen Interventionen für Kinder mit Diagnosen, die in dieser Arbeit unerwähnt blieben, z. B. Mutismus, Aphasie, Poltern. Nicht weniger anspruchsvoll wird sich letztlich das Unterfangen gestalten, die sukzessiv gewonnenen Erkenntnisse der Kindersprachtherapieforschung nachhaltig in EBP umzusetzen - um sie so für praktizierende Sprachtherapeutinnen und ihre Klientel nutzbar machen zu können. Es wäre wünschenswert, dass vermehrt auch Forschende der deutschsprachigen Logopädie/ Sprachheilpädagogik all diese wissenschaftlichen Bürden mittragen könnten. Literatur Beushausen, U.; Grötzbach, H. (2011): Evidenzbasierte Sprachtherapie. Grundlagen und Praxis. münchen: Urban & Fischer Bothe, a. K.; Davidow, J. H.; Bramlett, R. E.; Ingham, R. J. (2006): Stuttering treatment Research 1970 -2005. I: Systematic Review Incorporating trial Quality assessment of Behavioral, cognitive, and Related approaches. In: ameri- VHN 3 | 2012 208 ERIcH HaRtmaNN Wirksamkeit von Kindersprachtherapie FaCHbE iTR ag can Journal of Speech-Language Pathology 15, 321 -341 cirrin, F. m.; Gillam, R. B. (2008): Language Intervention Practices for School-age children With Spoken Language Disorders: a Systematic Review. In: Language, Speech, and Hearing Services in Schools 39, 110 -137 cirrin, F. m.; Schooling, t. L.; Nelson, N. W.; Diehl, S. F.; Flynn, P. F.; Staskowski, m.; torrey, t. Z.; adamczyk, D. F. 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Erich Hartmann Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg Tel.: ++41 (0)26 3 00 77 38 erich.hartmann@unifr.ch