Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Trend: Das Leiden am Unvermögen, moralisch zu sein
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Fritz Oser
Entscheidende moralische Situationen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht auf¬lösbar sind. Es gibt drei Formen dieser Unauflösbarkeit, einmal a) wenn die sogenannten Verpflichtungsaspekte Gerechtigkeit, Fürsorglichkeit und Wahrhaftigkeit einander widersprechen, b) wenn das kleinere Übel gewählt wird, im Wissen, dass es ein Übel ist, und c) wenn Moralität die Effektivität des Handelns einschränkt.
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247 VHN, 81. Jg., S. 247 -250 (2012) DOI 10.2378/ vhn2012.art11d © Ernst Reinhardt Verlag Das Leiden am Unvermögen, moralisch zu sein Fritz Oser Universität Freiburg (Schweiz) Trend Entscheidende moralische Situationen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht auflösbar sind. Es gibt drei Formen dieser Unauflösbarkeit, einmal a) wenn die sogenannten Verpflichtungsaspekte Gerechtigkeit, Fürsorglichkeit und Wahrhaftigkeit einander widersprechen, b) wenn das kleinere Übel gewählt wird, im Wissen, dass es ein Übel ist, und c) wenn Moralität die Effektivität des Handelns einschränkt. Zuerst einige Gedanken zu b). An einem Beispiel lässt sich das Problem kurz darstellen: Wenn deutsche Politiker Steuergelder verwenden, um Diebe von Bankdaten millionenschwer zu belohnen, und dies damit begründen, dass dadurch viele Steuerhinterzieher/ innen gefasst würden, so wissen wir, dass hier der alte Grundsatz, dass der Zweck die Mittel heiligt, zur Anwendung kommt. Darf der Zweck die Mittel heiligen? Dürfen wir jemanden foltern, um eventuell andere Leben zu retten? Dürfen wir in den Krieg ziehen, um das Leben unserer Kinder zu schützen? Dürfen wir lügen, wenn dadurch ein Mensch vor einer erschreckenden Wahrheit bewahrt wird? Dürfen wir Diebe belohnen, um dadurch „größere“ Steuer-Übeltäter zu ermitteln? Diese Fragen zeigen, dass die Moralität nicht hilft, eine Situation aufzulösen, sondern nur sie zu durchdringen, und dass sie zugleich stets einen Rest unbewältigter Konflikthaftigkeit enthält. Bei der Bankgeschichte heben die ökonomischen Moralisten den Gewinn durch die nun endlich offengelegten Bankkonten und die an den Pranger gestellten Steuersünder hervor; sie betonen, wie viele Millionen die Staatskasse dadurch einnehmen könne. Die andere Seite argumentiert mit dem verfassungsmäßig garantierten Schutz der Privatsphäre, in deren Namen man keine Kriminellen mit Steuergeldern belohnen dürfe. Der Staat müsse den Bürgern auch Vertrauen schenken, ohne sie in allem kontrollieren zu wollen. Das Problem ist, dass beide recht haben. Für jede Seite kann man Gründe finden, die überzeugen, und auf jeder Seite gibt es Grenzwerte, deren Überschreitung nicht möglich ist. Große Politiker und Politikerinnen haben dies stets gewusst und sich nicht hinter dem einen oder andern zu verstecken versucht. Sie wissen, dass solcherweise gefärbte Entscheidungen im Leben von Menschen so ablaufen, dass das geglaubte kleinere Übel gewählt wird. Das Bewusstsein sensibler Menschen führt dann dazu, diese Entscheidung mit moralischem Bedauern, ja oft mit moralischer Traurigkeit, sicher aber mit moralischem Leiden zur Kenntnis zu bringen. Es wird etwa gesagt: Wir tun Unrecht, wir sollten es nicht tun, aber wir sind betroffen und getroffen. Dieses moralische Bedauern ist wie ein Schmerz, der sich gegen den Protagonisten oder die Protagonistin richtet. Um Beispiele zu nennen: Als Bundeskanzler Helmut Schmidt der Roten-Armee- Fraktion nicht nachgab, was zur Ermordung von Hanns Martin Schleyer führte, war das nicht eine leichtfertige Entscheidung. Nebst einer intensiven Abwägung und Versuchen, die Terroristen zum Einlenken zu bewegen, behielt er seine Haltung bei, und dies mit dem VHN 3 | 2012 248 FRItz OSER Das Leiden am Unvermögen, moralisch zu sein Trend Schmerz, nicht wirklich moralisch sein zu können. Oder um dies nun auf die Situation der Bankkunden anzuwenden: Wenn Frau Merkel und Herr Schäuble gesagt hätten, wir haben unter den zwei Übeln wählen müssen, und wir finden diese Entscheidung nicht die beste; wir „leiden“ darunter, und wir bedauern zutiefst, dass wir keine bessere Lösung gefunden haben. Stattdessen hört man sie sagen, dass rechtlich nichts dagegen spreche, dass das Bundesgericht grünes Licht gegeben habe oder dass die Mehrheit im Bundestag diesem Handeln zustimme. Hier werden die „kleinen Unterschiede“ deutlich. Denn dieses nicht verstehbare Leiden am Unvermögen, moralisch zu sein, ist der Kern aller Moralität. Wir finden Ähnliches im Leben von Lehrpersonen, Heilpädagoginnen oder Sozialarbeitern. Wir sprechen uns aus für eine Integration im Wissen, dass die Zustände und Bedingungen nicht optimal sind, aber wir tun es und leiden darunter, es tun zu müssen. Oder wir strafen das Kollektiv einer Klasse, die ein wichtiges Faktum aus Solidarität mit einem Täter nicht preisgibt, und wir wissen, dass es nicht die beste Lösung ist. Oder es ereignet sich, dass wir einem Arbeitslosen eine Arbeit aufzwingen, für die er überqualifiziert ist, aber wir tun es, weil die Alternative der Absturz in die Depression wäre. Wir „bedauern“ dies, und Bedauern meint hier ein Leiden für andere und darüber, dass es nichts Optimales gibt. Das Verhängnis ist stets dasselbe: Es ist ein Bewusstsein da, dass das, was wir tun, nicht gut und richtig ist, aber wir tun es, weil es von den schlechten Möglichkeiten die beste ist; wir akzeptieren es nicht - und wir wollen auch nicht -, dass die Maxime unseres Tuns zu einem allgemeinen Gesetz wird. Nein, wir leiden unter dem, was wir verpflichtet sind zu tun. Das moralische Debakel besteht also darin, dass in vielen Bereichen und Fällen nicht nur keine Lösung möglich ist, sondern höchstens eine Überwindung von Oberflächlichkeit. Man ist betroffen, und man drückt Betroffenheit aus. Dies gilt in beiden Fällen, also dort, wo die schlechtere Wahl nur gegenüber einer weniger schlechten abgelehnt wird, aber auch dort, wo sich die Verpflichtungsaspekte Gerechtigkeit, Fürsorglichkeit und Wahrhaftigkeit ins Gehege geraten. Darauf will ich jetzt zu sprechen kommen. Bei der oben erwähnten Variante a) geht es nicht um eine unmoralische Alternative, sondern das Moralische selber manifestiert sich gegensätzlich. An anderer Stelle (vgl. Oser 1998) habe ich ausführlich dargestellt, dass sich die großen Verpflichtungsaspekte Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Fürsorglichkeit in vielen Fällen widersprechen. Wenn ich einen sehr schwierigen und nicht engagierten Schüler für eine Lehrstelle empfehlen muss, so kann ich dies nur tun, indem ich gewisse Informationen verschweige und eigentlich passiv lüge. Würde ich „Wahrhaftigkeit praktizieren“, hätte der Schüler keine Chance; da ich aber fürsorglich bin, setze ich das Prinzip der Wahrhaftigkeit bewusst außer Kraft, und ich tue dies mit einer gewissen Traurigkeit, denn ich will ja unter pädagogischem Gesichtspunkt, dass er auf dem heiß umkämpften Stellenmarkt eine - wenn auch nur geringe - Chance hat. Aber ich möchte auch wahrhaftig sein. Ich kann dann immer noch mir selbst gegenüber darlegen, dass andere ihn vielleicht besser verstehen würden, dass dies nur eine Phase im Jugendalter darstelle, dass er im Grunde einen guten Kern habe usw.; unbestritten muss ich vieles, was für den Lehrmeister wichtig wäre, verschweigen. Ich verletzte die Wahrheit, um fürsorglich zu sein. Das dritte Element c) besteht darin, dass Menschen unglücklich sind, weil sie moralisch entscheiden „müssen“. Wir nennen dies den „Unhappy Moralist Effect“ (vgl. Oser/ Reichenbach 2000). Die Basisidee besteht darin, dass z. B. Ehrlichkeit dazu führt, dass man weniger erfolgreich ist. Wir haben u. a. Untersuchungen darüber gemacht, wie sich Adoleszente VHN 3 | 2012 249 FRItz OSER Das Leiden am Unvermögen, moralisch zu sein Trend fühlen, wenn sie beim Verkauf eines kleinen Motorrads, das wie neu aussieht, in Wirklichkeit aber eine Unfallmaschine ist, dem Käufer die Wahrheit sagen bzw. nicht sagen. Überdurchschnittlich viele Jugendliche meinen, dass man nur glücklich sein könne, wenn man es „durchziehe“. Die Wahrheit zu sagen bedeute Verlust an Geld, Verlust hinsichtlich dessen, wie man in der Gruppe dasteht und Verlust an Freude. Wer die Wahrheit sage, sei nachher doch unglücklich. Das drückt sich auch im Sprichwort „Any good deed has its punishment“ aus. Die Kernaussage dieses kleinen Essays ist, dass der moralische Mensch darüber empört und anschließend traurig ist, dass sein Verhalten zwiespältig oder sogar „wenig moralisch“ bleibt. Aber dieses Empören und diese Traurigkeit sind Moralität; es ist das, was sie konstituiert. Es ist moralische Sensibilität. Wenn Hirnforscher jetzt, nach 30 Jahren psychologischer Forschung auf dem Gebiet der Moral, entdecken, dass jede moralische Entscheidung eine emotionale Dimension als Teil der Moralität des Menschen mit enthält, und meinen, sie hätten entdeckt, dass der moralische Mensch auch ein emotionaler Mensch sei, so kommen sie viele Jahre zu spät. „Der biologischen Grundlage von Moral auf der Spur“ ist ein lächerliches Forschungspamphlet, denn wenn gesagt wird, dass gesunde Probanden bei der Diskussion moralischer Dilemmata „bedeutend öfter die rationalere Antwort“ gewählt hätten, „wenn ihr rechter dorsolateraler präfrontaler Kortex (rDLPC), ebenfalls ein Bereich des Vorderhirns, mittels TMS [transkranielle Magnetstimulation, F. O.] gehemmt wurde“ (Pfister Lipp 2011), so ist dies weder erstaunlich noch neu. Sie hätten mindestens einmal dem Konzept Gewissen von Platon bis Freud und seiner übrigen Geschichte nachgehen müssen, denn hier ist die Emotionalität seines Wirkens immer schon etabliert gewesen. Legt man doch der großen Philosophin Hannah Arendt den Satz in den Mund: „Gute Menschen haben ein schlechtes Gewissen; schlechte Menschen haben kein schlechtes Gewissen.“ Dies bedeutet, dass nicht bloß, wie die Neurowissenschaftler denken, Emotionen im Spiel sind, sondern moralische Entrüstung und moralische Traurigkeit, eben eine emotionale Inhaltlichkeit. Moralität ist gefühlte Unzulänglichkeit in Entscheidungssituationen, in denen zwei zur Auswahl stehende Möglichkeiten schlecht sind, eine moralische Dimension der andern in die Quere kommt oder Moral den Erfolg hemmt. Die Geschichte der Menschheit hat für solche Situationen immer Respekt gezeigt: Wenn z. B. jemand lügt, um das Leben eines Menschen zu retten, wenn jemand etwas verrät, um den andern das Überleben zu garantieren. Graf Stauffenberg hat 1944 mit tiefster Betroffenheit geschrieben, dass er Unrechtes tue und es gegen seinen Offiziersschwur auf den Führer tue, weil er damit Menschen ein Überleben ermögliche. Es gehört zu diesem moralischen Leiden, dass man eine Tat nicht belobigt, sondern sie erleidet. Für die Moralpsychologie bedeute dies allerdings, dass ein neues Maß gefunden werden muss, ein Maß, das weit über die moralische Angst, das moralische Urteil oder die moralische Einstellung hinausgeht. Dieses Maß müsste genau dieses moralische Leiden angesichts der Nichtauflösbarkeit wirklicher moralischer Konflikte erfassen. Es wäre dies ein Maß für den moralischen Kern einer Person (vgl. Tirri 2008). Literatur Oser, F. (1998): Ethos - die Vermenschlichung des Erfolgs. Opladen: Leske und Budrich Oser, F.; Reichenbach, R. (2000). Moralische Resilienz: Das Phänomen des „Unglücklichen Moralisten“. In: Edelstein, W.; Nunner-Winkler, G. (Hrsg.): Moral im sozialen Kontext. Frankfurt: Suhrkamp, 203 -233 VHN 3 | 2012 250 FRItz OSER Das Leiden am Unvermögen, moralisch zu sein Trend Pfister Lipp, E. (2011): Der biologischen Grundlage von Moral auf der Spur. Online unter: http: / / www.nzz.ch/ nachrichten/ hintergrund/ wissenschaft/ der_biologischen_grundlage_ von_moral_auf_der_spur_1.10929875.html, 11. 1. 2012 tirri, K. (2008): Ethical Sensitivity and Giftedness. In: Balchin, t. (Hrsg.): the Routledge Companion to Gifted Education. New York: Routledge Anschrift des Autors Prof. em. dr. dr. h. c. Fritz Oser Deutschsprachige Abteilung des Departements Erziehungswissenschaften Rue Faucigny 2 CH-1700 Freiburg Tel.: ++41 (0)26 3 00 75 59 E-Mail: fritz.oser@unifr.ch
