eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 81/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Älter werdende Eltern und erwachsene Kinder mit Behinderung zu Hause

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2012
Reinhard Burtscher
Der Artikel stellt ausgewählte Ergebnisse einer schriftlichen Fragebogenerhebung bei älteren Eltern von erwachsenen Kindern mit Behinderung vor. Im Mittelpunkt der Befragung steht das Zusammenleben von Eltern und deren erwachsenen Kindern im Elternhaus. Die Fragen beziehen sich auf die Lebenssituation der Eltern und die Zufriedenheit mit dem Angebot der Behindertenhilfe in Berlin. Die vorliegenden Daten belegen, dass die Familien gute Gründe für das Zusammenleben haben. Insbesondere die Unzufriedenheit mit der Beratungssituation, die Anerkennung der Familien- und Betreuungsarbeit durch die Familie und ein zusätzlicher finanzieller Beitrag zum Haushaltseinkommen durch die erwachsenen Kinder stabilisieren das bestehende Familiensystem.
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312 VHN, 81. Jg., S. 312 -324 (2012) DOI 10.2378/ vhn2012.art17d © Ernst Reinhardt Verlag Fachbeitrag Älter werdende Eltern und erwachsene Kinder mit Behinderung zu Hause reinhard burtscher Kath. hochschule für Sozialwesen berlin (KhSb) Zusammenfassung: Der Artikel stellt ausgewählte Ergebnisse einer schriftlichen Fragebogenerhebung bei älteren Eltern von erwachsenen Kindern mit Behinderung vor. Im Mittelpunkt der Befragung steht das Zusammenleben von Eltern und deren erwachsenen Kindern im Elternhaus. Die Fragen beziehen sich auf die Lebenssituation der Eltern und die Zufriedenheit mit dem Angebot der Behindertenhilfe in Berlin. Die vorliegenden Daten belegen, dass die Familien gute Gründe für das Zusammenleben haben. Insbesondere die Unzufriedenheit mit der Beratungssituation, die Anerkennung der Familien- und Betreuungsarbeit durch die Familie und ein zusätzlicher finanzieller Beitrag zum Haushaltseinkommen durch die erwachsenen Kinder stabilisieren das bestehende Familiensystem. Schlüsselbegriffe: Ablösung, Prävention, Elternhaus, erwachsene Kinder mit Behinderung, Lebensqualität ageing Parents and adult children With Disabilities at home Summary: The article presents selected results of a questionnaire survey of older parents of adult children with disabilities. The survey focuses on the living-together of parents and their adult children at home. The questions refer to the living conditions of the parents and their satisfaction with the offers for disabled persons in Berlin. The present data show that the families have good reasons for living together. The dissatisfaction with the consulting situation, the recognition of the personal care by the family, and an additional financial contribution to the family budget by the adult children stabilize the existing family system. Keywords: Detachment, prevention, parental home, adult children with disability, quality of life 1 ausgangspunkt Im Rahmen der Förderlinie SILQUA-FH (Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter - Fachhochschulen forschen) wird in Berlin das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt „Älter werdende Eltern und erwachsene Familienmitglieder mit Behinderung zu Hause - Innovative Beratungs- und Unterstützungsangebote im Ablösungsprozess“ (ElFamBe) durchgeführt. Das primäre Ziel des Projektes 1 besteht darin, älter werdende Eltern in Berlin zu unterstützen, damit zufriedenes Altern für alle Familienmitglieder gelingen kann. Die soziale Innovation für Lebensqualität im Alter beinhaltet in diesem Zusammenhang drei Handlungsebenen, die eng miteinander verknüpft sind. Die erste Ebene fokussiert die älter werdenden Eltern von erwachsenen Söhnen und Töchtern mit Behinderung zu Hause. Wir erheben die Lebenssituation und die Bedarfslage der Familien und erproben ein Beratungs- und Unterstützungsangebot im Sinne einer partizipativen Projektentwicklung. Die zweite Ebene beleuchtet die Situation der zu Hause leben- VHN 4 | 2012 313 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag den Söhne und Töchter mit Behinderung in ihrem Prozess der Ablösung. Diesen Ablösungsprozess verstehen wir als eine entwicklungspsychologische Aufgabe des Lebensalters. Die dritte Handlungsebene beinhaltet eine infrastrukturelle Fokussierung im Rahmen einer Sozialraumorientierung. Ziel ist es, den Familien bestehende Ressourcen zugänglich zu machen. Im vorliegenden Beitrag stelle ich ausgewählte Ergebnisse einer schriftlichen Befragung von Eltern (N = 482) vor. 2 Stand der Forschung Vergleicht man die letzten zwei Behindertenberichte der Bundesregierung, dann fällt die unterschiedliche inhaltliche Gestaltung auf. Im Behindertenbericht 2004 zur 15. Legislaturperiode ist ein ausführliches Kapitel dem Thema Behinderung und Familie gewidmet. „Die Lebensprobleme behinderter Menschen sind nicht allein Privatangelegenheit der Familien, sondern müssen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden. Die Gefahr besteht, dass die Familien durch die Belastungen der Betreuung physisch, psychisch und finanziell überfordert werden. Anhaltende Überbeanspruchung eines oder beider Partner in der häuslichen Betreuung von Angehörigen mit Behinderungen ist oft mit negativen Folgen für die Gesundheit der Betreuungsperson, für die Partnerbeziehung, für die Entwicklung der Geschwisterkinder sowie für die Stabilität der Gesamtfamilie verbunden.“ (Deutscher Bundestag 2004, 135) Im aktuellen Behindertenbericht 2009 ergibt die Volltextsuche „Familie“ oder „Eltern“ keinen inhaltlichen Treffer. Das Stichwort „Angehörige“ wird lediglich im Zusammenhang mit der Reform der Pflegeversicherung verwendet: „Das Reformgesetz enthält konkrete Verbesserungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, die gerade auch behinderten Menschen zu Gute kommen.“ (BMAS 2009, 74) Die alltäglichen Herausforderungen von Familien mit behinderten Familienangehörigen finden keine ausdrückliche Nennung mehr. Ist das Zufall oder wird der Bedarf nicht gesehen oder wurden die Herausforderungen aus dem Behindertenbericht 2004 bewältigt? Der Familienreport 2009 verdeutlicht ein gutes Verhältnis zwischen den Generationen. „Der Zusammenhalt der Familien bewährt sich in gegenseitigen Hilfs- und Unterstützungsleistungen von Jung und Alt. (…) Die Bereitschaft von Eltern, zugunsten der Chancen ihrer Kinder Opfer zu bringen, ist quer durch alle Schichten groß. 80 Prozent der Eltern aus der Unterschicht, 77 aus der Mittelschicht sind bereit, für ihre Kinder auf vieles zu verzichten, um ihnen möglichst viele Chancen zu eröffnen.“ (BMFSFJ 2009, 32) Die hohe Bedeutung der Familie zeigt sich in besonderer Weise auch in Familien mit behinderten Kindern und drückt sich dort u. a. in einer speziell engen Beziehung zueinander aus. Das zu Hause Wohnen kann das subjektiv erlebte Wohlbefinden stärken und ist aus verschiedenen Gründen (z. B. finanzieller Art) nachvollziehbar. Wenn die Frage der Ablösung ansteht, dann kommt es zu Herausforderungen, die in Familien ohne Behinderungserfahrung weniger stark präsent sind. Exemplarische Publikationstitel verdeutlichen die besondere Situation: „Glanz und Schatten in den Augen der Eltern: Behinderungsverarbeitung und Ablösung in der Arbeit mit Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen“ (Michels 2005) - „Wenn Anforderungen zur Überforderung werden: Ablösung vom Elternhaus - im Interesse des behinderten Kindes“ (Seifert 2004). Ute Fischer erwähnt in ihrer Dissertation die folgenden acht erschwerenden Bedingungen im Ablösungsprozess bei Menschen, die als schwer geistig behindert gelten. 1. Die Bindung, 2. der Schweregrad der Behinderung, 3. die sogenannte „Permanente Elternschaft“, 4. spezifische familiäre Beziehungsmuster (z. B. das „Sorgenkind“, das die Eltern zusam- VHN 4 | 2012 314 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag menhält, oder das „letzte“ Kind, das auszieht und eine Lücke hinterlässt), 5. Schuldgefühle, 6. mangelnde Wohnalternativen, 7. belastende Vorerfahrungen, 8. vielfältige Bedenken (z. B. gesellschaftliche Tendenzen, finanzielle Hindernisse) (Fischer 2008, 200ff). Neben dem Thema „Ablösung“ gibt es einige wenige Studien und Projekte, die auch das Zusammenleben innerhalb der Familie untersuchen. In dem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebenen Forschungsprojekt „Perspektiven alternder Menschen mit schwerster Behinderung in der Familie“ aus dem Jahr 2007 wird die Lebenssituation von Menschen mit schwersten Behinderungen 2 ab dem 40. Lebensjahr und ihren Familien erhoben. Einbezogen wurden Familien mit Kindern, die in der Regel seit ihrer Geburt bzw. frühester Kindheit von schwersten Behinderungen betroffen sind und primär in ihrer Herkunftsfamilie betreut werden. Im Zentrum der Untersuchung stand das Erkenntnisinteresse, die Lebenswirklichkeit und -gestaltung dieser Familien nachzuvollziehen und zu verstehen. 27 Familien wurden interviewt. Die Autoren entwickelten die folgenden zehn Empfehlungen „1. Familien, in denen schwerstbehinderte Angehörige leben, brauchen Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen. 2. Die Rahmenbedingungen sollten möglichst verlässlich gestaltet sein. Notwendige Veränderungen sind aktiv zu kommunizieren, um den Familien die Zukunftsgestaltung zu ermöglichen. 3. Die Schnittstelle zwischen Behindertenhilfe und Altenhilfe muss gestaltet und strukturiert werden. 4. Schwerstbehinderte Menschen und ihre Eltern benötigen ein differenziertes Netz von aufeinander abgestimmten und koordinierten Unterstützungsangeboten. 5. Die Menschen mit schwersten Behinderungen und ihre Familien müssen aktiv in das soziale und gesellschaftliche Leben integriert werden. 6. Die barrierefreie und behindertengerechte Gestaltung der Wohnsituation muss verbessert werden. 7. Gemeinsame Betreuungs- und Unterstützungsangebote für Eltern und ihre erwachsenen schwerstbehinderten Kinder sind zu erproben. 8. Die Unterschiedlichkeit der Familiensituationen, insbesondere die unterschiedliche Offenheit der Familiennetze macht unterschiedliche Strategien notwendig. 9. Um angemessene, zukunftsfähige Konzepte und Maßnahmen entwickeln zu können, muss die Lebenssituation der alternden Menschen mit schwersten Behinderungen stärker in den Blick der Öffentlichkeit geholt werden. 10. Weitere Kenntnisse über die Situation der Menschen mit schwersten Behinderungen und ihre Familien können einen Beitrag zu ihrer Lebensgestaltung leisten.“ (Hellmann u. a. 2007, 184ff) Stamm führte eine Studie durch mit dem Titel: „Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung im Elternhaus. Zur Situation von Familien, in denen erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung leben - eine empirische Studie im Kreis Minden-Lübbecke“. In dieser 2007 durchgeführten Studie lautete die Hauptfrage: „Wie gestaltet sich im Kreis Minden-Lübbecke aus Sicht der Hauptbetreuungspersonen die Lebens- und Bedarfssituation von Familien, in denen erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung leben? Inwiefern spielt dabei die Perspektive eines möglichen Auszugs aus dem Elternhaus eine Rolle? “ (Stamm 2009, 23) Die Untersuchungsergebnisse machen u. a. deutlich, dass Eltern bzw. Familien nach wie vor kaum Informationen über familienunterstützende Hilfen haben, häufig Skepsis vor der Nutzung professioneller Unterstützungsangebote zeigen und ein Auszug des erwachsenen Sohnes bzw. der Tochter mit Behinderung vielfach mit Schuldgefühlen einhergeht (ebd., 104). Der Autor regt daher eine Weiterentwicklung der Infrastruktur sozialer Dienste an, um diese Familien besser erreichen zu können (ebd., 106). Diese Weiterentwicklung der Infrastruktur bewerkstelligt etwa der aufsuchende familien- VHN 4 | 2012 315 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag beratende Dienst KOMPASS in Karlsruhe, Ettlingen und Umgebung. Neben einer Bedarfserhebung im Bereich des Wohnens werden dort niederschwellige Beratungen durchgeführt bis hin zu längerfristigen Begleitungen (vgl. Feurer/ Lindmeier 2011, 125). KOMPASS gilt als neuer „wichtiger Baustein im Hilfesystem der Eingliederungshilfe für erwachsene Menschen mit geistiger und/ oder mehrfacher Behinderung und ihre Familien“ (ebd., 129). Der Blick in die Fachliteratur zeigt, dass sich Familien mit erwachsenen Kindern mit Behinderung im Vergleich zu Familien ohne behinderte Kinder in einer besonderen Lebenslage befinden. Sie haben einen Hilfebedarf, der bisher von der Behindertenhilfe zu wenig berücksichtigt wird. An dieser Stelle setzt das Projekt ElFamBe an. Wir zielen darauf ab, mehr Wissen über die Lebenssituation der betroffenen Familien zu sammeln und mögliche neue Unterstützungsangebote mit den Familien zu erproben. 3 Die Datenbasis: Schwer erfassbare Familien und große Offenheit Zu Beginn des Projekts ElFamBe stellte sich uns die Frage, wie wir Familien erreichen können, in denen erwachsene Söhne und Töchter mit Behinderung leben. Wir vermuteten, dass diese Familien irgendwo im System der Behindertenhilfe vorzufinden seien. Dafür sprach die bereits ausgedehnte Lebensspanne der erwachsenen Kinder mit Behinderung. Ob über Leistungen der Krankenversicherung oder bei Pflegebedürftigkeit, bei Nachteilsausgleichen oder Steuererleichterungen, Leistungen zum Lebensunterhalt oder Eingliederungshilfe - das Sozialsystem in Deutschland führt, gewünscht oder nicht, zu Berührungspunkten mit dem System der Behindertenhilfe. In der Analyse der verschiedenen Subsysteme mussten wir jedoch erkennen, dass eine statistische Gesamterfassung der betroffenen Familien derzeit nicht möglich ist. In Berlin befragten wir Fallmanagerinnen in den Sozialämtern (Eingliederungshilfe SGB XII), das statistische Landesamt Berlin sowie die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit 3 . Die erhaltenen Antworten führten zu keiner gesicherten Grundgesamtheit. Aufgrund der fehlenden Basis entschieden wir uns für eine explorative Datenerhebung mittels eines schriftlichen Fragebogens. Mit Hilfe dieses schriftlichen Fragebogens verfolgten wir zwei Ziele: 1. Quantitative Erfassung von Grunddaten über Familien und 2. Sammlung von Kontaktdaten zu Familien für ein qualitatives Interview (freiwillige Angabe). In Berlin verteilten wir von August 2010 bis Februar 2011 insgesamt 2’134 Elternfragebögen in Elternvereinen, Beratungsstellen, auf Weihnachtsmärkten und in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Zudem veröffentlichten wir Artikel zum Projekt und stellten den Fragebogen Online zur Verfügung. Der gesamte Rücklauf betrug 495 Elternfragebögen 4 (23 %). Der Zugang zu den Familien war schwierig und wäre ohne die Beteiligung von 12 Werkstätten-Trägern in Berlin nahezu aussichtslos gewesen. Laut Auskunft des Begleitenden Dienstes gab es 7’899 Beschäftigte mit Behinderung in den beteiligten Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Davon lebten 1’942 (25 %) bei den Eltern. Wir erhielten 488 ausgefüllte Fragebögen (99 % des gesamten Rücklaufs) aus den WfbM zurück. 208 Familien (42 %) führten in unserem primär anonymen Fragebogen ihre Adresse an und zeigten sich offen für ein persönliches Gespräch. Familien, in denen erwachsene Kinder mit Behinderung leben, sind - mit Ausnahme der Werkstattbeschäftigten - schwer erreichbar. Möglicherweise benötigen die Familien keine zusätzliche Hilfe, vielleicht gehen sie bewusst VHN 4 | 2012 316 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag auf Distanz zu institutionellen Leistungen, manche kennen das Angebot nicht oder zu wenig und andere sehen Zugangshemmnisse (z. B. den bürokratischen Aufwand), die zu überwinden sich nicht lohnt. Wir gehen davon aus, dass diese Familien gute Gründe haben, warum sie eigenständig und ohne professionelle Hilfe im Alltag zusammenleben. Diese Gründe werden in den Antworten der Eltern sichtbar und nachfolgend exemplarisch dargestellt. 4 alter und behinderungsarten Die Verteilung des Alters der Eltern zeigt, dass wir im Projekt älter werdende Eltern erreichten. Das Durchschnittsalter der Eltern lag bei 57 Jahren. Insgesamt antworteten 74 % Mütter (358) und 22 % Väter (105). In 4 % der Fragebögen (19) gab es keinen Eintrag zum Geschlecht des Elternteils. Auffällig ist der hohe Anteil an Eltern, die keine Angabe zum Alter machten. 27 % (128) verzichteten auf einen Eintrag. Dieser hohe fehlende Wert irritiert. Eine Diskussion im Projektbeirat von ElFamBe führte zur Vermutung, dass dieses Antwortverhalten unmittelbar mit dem Thema des Projekts zusammenhänge. Manche Mitglieder vermuteten, dass die fehlende Altersangabe mit Unsicherheit und Zukunftsängsten zu tun haben könnte. Diese Hypothese gilt es noch zu überprüfen. Bei den erwachsenen Kindern liegt das Durchschnittsalter bei 30 Jahren. häufigkeit Prozent gültig unter 50 97 20 50 -59 130 27 60 -69 69 14 70 -79 46 10 80 und älter 12 2 kein Eintrag 128 27 gesamt 482 100 tab. 1 Alter der Eltern häufigkeit Prozent gültig unter 20 35 7 20 -29 204 42 30 -39 87 18 40 -49 55 12 50 und älter 16 3 kein Eintrag 85 18 gesamt 482 100 tab. 2 Alter der erwachsenen Kinder mit Behinderung VHN 4 | 2012 317 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag Die größte Gruppe der erwachsenen Kinder in dieser Untersuchung ist 20 - 29 Jahre alt (42 %). Es folgt die Gruppe der 30 - 39-Jährigen mit 18 %, die Gruppe der 40 - 49-Jährigen (12 %) und die Gruppe der 50-Jährigen und älter (3 %). Insgesamt sind 42 % Frauen (203) und 54 % Männer (258) erfasst. 4 % der Fragebögen (21) hatten keinen Eintrag. Bei den Behinderungsarten überwiegen die Gruppen „geistige Behinderung“ und „Mehrfachbehinderung“. Zu Hause bei den Eltern wohnen vor allem Menschen mit geistiger Behinderung (40 %) und Mehrfachbehinderung (34 %). Zudem geben 65 % der Familien (314) an, dass sie Pflegegeld beziehen, 32 % der Familien (153) verneinen dies. Bei 3 % der Familien (15) fehlt eine Antwort. Die Verteilung auf die drei Pflegestufen ist etwa ausgeglichen. 35 % der erwachsenen Kinder (111) sind in der Pflegestufe I, 31 % (96) in der Pflegestufe II und 31 % (97) in der Pflegestufe III. Die Verteilung auf die Pflegestufen weicht stark von der Verteilung in der Gesamtbevölkerung ab: Laut Statistischem Bundesamt wurden im Jahr 2009 in der Pflegestufe I 64 % der Pflegebedürftigen zu Hause von Angehörigen versorgt, in der Pflegestufe II waren es 28 % und in der Pflegestufe III 8 % (Statistisches Bundesamt 2011 b, 8). Die Ergebnisse im Projekt ElFamBe machen deutlich, dass Familien mit erwachsenen Kindern mit Behinderung außergewöhnlich viel an Pflege in der Pflegestufe III übernehmen. 5 gesundheit und behinderung der eltern Die befragten Eltern fühlten sich subjektiv betrachtet zu 71 % (319 Antworten) gesund, 29 % (129) verneinten die Frage, 7 % (34) gaben keine Auskunft. Mit dem Alter nimmt das positive Gesundheitsgefühl ab. Im Projekt El- FamBe antworten von den 65-jährigen Eltern 64 % mit ja (56 Personen) und 36 % (32 Personen) mit nein. Geschlechtsspezifisch gibt es in dieser Frage keinen empirischen Unterschied zwischen Müttern und Vätern. Ein exemplarischer Vergleich zwischen ElFamBe und Forsa (2009) zeigt folgendes Bild (s. Tab. 4). Sind Eltern, die sich um ihr erwachsenes behindertes Kind kümmern und es pflegen, stärker gefährdet, krank zu werden? Ergänzend zur Gesundheit stellten wir die Frage nach der eigenen Schwerbehinderung. 18 % der Eltern gaben eine eigene Schwerbehinderung an. Laut Statistischem Bundesamt (2010) lebten am 31. 12. 2009 7,1 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland, was einer Quote von 9 % der Gesamtbevölkerung entspricht. Ein selektiver Blick auf die Altersgruppe der 55 - 60-jährigen Eltern ergibt im häufigkeit Prozent gültig Lernbehinderung 24 5 geistige Behinderung 191 40 körperliche Behinderung 40 8 psychische Behinderung 4 1 Mehrfachbehinderung 166 34 kein Eintrag 57 12 gesamt 482 100 tab. 3 Behinderungsarten VHN 4 | 2012 318 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag Projekt ElFamBe einen Wert von 28 % bzw. 19 Personen (N = 68). Die Quote in der Gesamtbevölkerung in dieser Altersgruppe beträgt 12 %. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen Eltern im Projekt ElFamBe und der Gesamtbevölkerung. Warner verweist auf eine These im Kontext von Ehrenamtlichkeit: „Wenn ältere Menschen selbst Hilfe leisten, wird das jedoch häufig als zusätzliche Belastung und Einschränkung ihrer Ressourcen betrachtet. Dieser traditionellen Sichtweise widersprechen neuere Befunde, die auch im Leisten von Hilfe positive Effekte auf die geistige und körperliche Gesundheit Helfender zusprechen.“ (Warner 2009, 2) Auf Eltern von erwachsenen Kindern mit Behinderung zu Hause treffen diese Befunde nicht zu. Die Antworten der Eltern zeigen deutlich das erhöhte Risiko einer gesundheitlichen Belastungssituation. 6 Nachholbedarf in beratung und Freizeit Im ElFamBe-Fragebogen fragten wir: „Wie zufrieden sind Sie mit den bestehenden Angeboten der Behindertenhilfe im Allgemeinen? “ Die Eltern konnten ihre Meinung zu den Bereichen Wohnen, Arbeit (Beschäftigung), Freizeit, Pflege und Beratung abgeben. Für Berlin wird deutlich, dass das Beratungs- und Freizeitangebot am schlechtesten bewertet wird: 42 % (210) aller Eltern sind wenig bzw. nicht zufrieden mit der allgemeinen Beratung, 35 % (141) sind mit den Freizeitangeboten wenig oder nicht zufrieden. Die folgende Tabelle 5 differenziert zwischen der Elterngruppe bis einschließlich 64 Jahre (280) und der Elterngruppe im Alter von 65 Jahren und älter (94). Die Werte sind in Prozentangaben dargestellt. elFambe: gesundheitsgefühl, Frauen, Jahr 2010 Forsa: einschätzung gesundheitszustand, Frauen, Jahr 2009 ja 70 % sehr gut 22 % gut 58 % weniger gut 16 % nein 30 % schlecht 4 % gesamt N = 358 gesamt N = 1002 tab. 4 Meinung zur Gesundheit, Frauen Wohnen arbeit beschäftigung Freizeit Pflege beratung -64 65+ -64 65+ -64 65+ -64 65+ -64 65+ sehr zufrieden 12 20 32 35 11 16 11 13 10 17 zufrieden 38 40 50 53 37 39 36 41 29 43 weniger zufrieden 14 9 11 8 23 22 15 10 27 10 nicht zufrieden 12 7 3 - 15 12 4 9 21 19 keine angabe 24 24 4 4 14 11 34 27 13 11 gesamt % 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 tab. 5 Zufriedenheit mit dem Angebot der Behindertenhilfe (in %) VHN 4 | 2012 319 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag Das Antwortverhalten der jüngeren Eltern (bis 64) unterscheidet sich von dem der älteren Eltern (ab 65). Ältere Eltern sind durchwegs deutlich zufriedener als jüngere. In qualitativen Interviews wollen wir nun herausfinden, warum es zu diesen Unterschieden kommt. Zudem gilt es die allgemeinen Fragen aus dem Fragebogen zu spezifizieren. Beispielsweise könnte die Frage nach der Zufriedenheit mit der Beratung von den Eltern unterschiedlich verstanden worden sein. Eltern könnten unzufrieden sein, weil keine entsprechende Anlaufstelle bekannt ist, weil der Zugang erschwert ist (Öffnungszeiten, Fachsprachbarriere, Bürokratie) oder weil Erwartungen nicht erfüllt wurden. Auch der hohe negative Wert im Bereich Freizeit überrascht und muss weiter geklärt werden. 99 % der erwachsenen Kinder mit Behinderung aus der Stichprobe nutzen die Tagesstruktur einer WfbM. In fast jeder Werkstatt wird ein umfangreiches Freizeitprogramm angeboten - und dennoch sind die Eltern unzufrieden. 7 Wertschätzung und hilfe durch Familie In der ElFamBe-Erhebung geben 65 % (288) der Eltern an, dass ihre Familienarbeit/ Betreuungsarbeit anerkannt (wertgeschätzt) wird. 35 % (156) verneinen die entsprechende Frage. Vor allem Angehörige geben Anerkennung (56 % bzw. 204 Nennungen), es folgen Freunde, Bekannte, Kollegen, Nachbarn mit 26 % (96), Fachleute mit 14 % (51) und Weitere mit 4 % (16). Anerkennung erfolgt primär aus der Familie und aus einem privaten Netzwerk, Fachpersonen spielen dabei eine weniger wichtige Rolle. Möglicherweise ist dies ein Indikator dafür, dass diese Familien keine Veränderung ihrer Situation vornehmen wollen. Spätestens seit Maslow (2008, Erstveröffentlichung 1954) wissen wir, dass Anerkennung zu den wichtigsten menschlichen Bedürfnissen zählt. Wenn die Betreuungsarbeit eines Tages wegfällt, dann könnte ein Anerkennungsverlust drohen. Die Bedeutung der Familie spiegelt sich zudem in den Antworten auf die Frage wider, von wem die Befragten im Familienalltag Hilfe erhalten. Die nachfolgende Tabelle 6 zeigt einen Unterschied zwischen den jüngeren und den älteren Eltern. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass das Hilfesystem in hohem Maße innerfamiliär und informell aufgebaut ist. Fachpersonen sind in den befragten Familien wenig präsent, die Unterstützung durch Selbsthilfevereine wird fast gar nicht erwähnt. Die hier antwortenden Familien scheinen kaum Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen - trotz der hohen Anzahl der pflegebedürftigen erwachsenen Kinder in- Unterstützung/ hilfe erhalte ich von antworten (Mehrfachnennung war möglich) -64 % häufigkeit 65+ % häufigkeit Partner/ Partnerin 64 165 55 52 weiteren Kindern/ angehörigen 49 126 48 45 Freunden, Bekannten, Nachbarn 16 41 26 24 Fachleuten 10 25 6 6 Selbsthilfeverein 4 9 4 4 anderen 4 11 3 3 erhalte keine unterstützung 13 33 14 13 tab. 6 Erhaltene Unterstützung VHN 4 | 2012 320 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag nerhalb der Stichprobe. Im höheren Alter gewinnen Hilfeleistungen von Freunden, Bekannten, Nachbarn an Bedeutung, während die Hilfe durch einen Partner bzw. eine Partnerin abnimmt. Dies liegt vor allem daran, dass in der Gruppe der jüngeren Eltern lediglich 7 % verwitwet sind, während in der Gruppe der älteren Eltern der Wert bei 29 % liegt. 8 Zusammenleben statt auszug Ein Auszug des Sohnes bzw. der Tochter mit Behinderung aus der gemeinsamen Wohnung innerhalb der nächsten fünf Jahre ist bei 68 % der Eltern (303) nicht geplant, 32 % (140) der Familien planen einen Auszug. Je älter die Eltern werden, umso weniger wird ein Auszug des erwachsenen Kindes in Betracht gezogen. In der Gruppe der älteren Eltern geben 73 % an, dass sie in den nächsten fünf Jahren keinen Auszug vorsehen. In der Gruppe der Eltern bis 64 Jahre beträgt der Wert 65 % (s. Tab. 7). Der Familienreport des BMFSFJ bestätigt, dass „die Familie für den allergrößten Teil der Bevölkerung das wichtigste Lebensfeld“ (BMFSFJ 2009, 28) darstellt. Einhergehend mit der Bedeutung der Familie hat sich auch das Auszugsverhalten in der deutschen Bevölkerung allgemein verändert. „Lebten 1972 noch 20 Prozent der 25-Jährigen bei den Eltern, waren es 2007 deutlich mehr, nämlich fast drei von zehn (29 Prozent).“ (ebd., 41) Trotz dieser Verschiebung zählt der Auszug aus dem Elternhaus als wichtiger Schritt im Ablösungsprozess und Erwachsenwerden. Aus Sicht erwachsener Kinder sind die individuellen Gründe für einen Auszug unterschiedlich. Papastefanou (2006, 29) beschreibt, dass „selbstverantwortliches Handeln“, „emotionale Autonomie“, „räumliche Trennung“, „finanzielle Unabhängigkeit“ und „feste Partnerschaft bzw. Familiengründung“ das subjektive Verständnis von Ablösung prägen. Erwachsene Kinder ziehen aus, weil sie sich von den Eltern emanzipieren und Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen wollen. Sie streben nach Unabhängigkeit und entziehen sich dem Gefühl des Kontrolliertseins, das durch das Zusammenleben mit den Eltern unter einem Dach entsteht. Es wird erwartet, dass die räumliche Trennung bestehende Beziehungskonflikte entspannt. Der Auszug bedeutet auch, dass ein bestimmter Grad an finanzieller Unabhängigkeit erreicht wurde. Dies, weil eine Ausbildung oder ein Studium erfolgreich geführt oder abgeschlossen wird und der Berufseinstieg mehr oder weniger gesichert erscheint. Last but not least ist die Entscheidung für eine Partnerschaft oder Familiengründung ein wichtiger Beweggrund für einen Auszug. Berger nennt dies in der LifE Studie „strukturelle, familiale und persönlichkeitsbezogene Bedingungsfaktoren“ (vgl. Berger 2009). Viele dieser Gründe kommen praktisch nicht oder nur kaum zum Tragen, wenn wir die Personengruppe der Menschen mit geistiger Behinderung oder Mehrfachbehinderung betrachten. Aus Sicht der erwachsenen Kinder mit Behinderung kann deshalb eine entsprechende Motivation fehlen. Aus Sicht der Eltern kann die Frage nach der Ablösung ebenfalls geplanter auszug des Kindes innerhalb von 5 Jahren eltern bis 64 Jahre 65 Jahre und älter % häufigkeit % häufigkeit ja 35 85 27 24 nein 65 159 73 65 tab. 7 Auszug innerhalb von fünf Jahren VHN 4 | 2012 321 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag ambivalente Gefühle hervorrufen. Seifert (2009) betitelt einen Vortrag: „Unser Sohn zieht aus - wie wird es ihm ohne uns gehen? “ Die Frage lässt sich genauso umdrehen: „Wie wird es uns ohne ihn gehen? “ (vgl. auch Fischer 2008; Schultz 2009) Auf jeden Fall entstehen mit einem Auszug des erwachsenen Kindes veränderte (neue) Rollen und Aufgaben für die Eltern. Born und Krüger (2001, 11ff) sprechen von einem Konzept der Verflechtung. Gemeint ist, dass der Auszug nicht nur ein bedeutsames Ereignis für die erwachsenen Kinder darstellen kann, sondern auch die Eltern in besonderer Weise betrifft. Positiv betrachtet gewinnen die Eltern neue Freiräume psychischer (die unmittelbare Nähe zum und die Verantwortung für das Kind fallen weg) und physischer Art („das Kinderzimmer wird frei“). Aber Eltern verlieren auch emotionale Verbundenheit, Sicherheit und Kontrolle. Vielleicht verlieren sie auch das Gefühl von Familiensolidarität. 9 Strukturproblem einkommen In der Planung des Fragebogens vermuteten wir im Projekt ElFamBe, dass der finanzielle Beitrag des erwachsenen Kindes mit Behinderung für das Haushaltseinkommen bedeutsam sein könnte. Kindergeld, Pflegegeld, Grundsicherung bei Erwerbsminderung und andere Geldleistungen verhindern möglicherweise einen Ablösungsprozess, weshalb wir mehrere Fragen zum Haushaltseinkommen stellten. 28 % der Familien im Projekt ElFam- Be (132 Familien) beschreiben ihre finanzielle Situation als „kaum ausreichend“, 60 % (276) als „ausreichend“ und 12 % (57) als „gut ausreichend“. Zur Orientierung kann eine Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK 2011) herangezogen werden: Ende 2009 äußerten sich von 2’000 Befragten in Deutschland 21 % negativ zu ihrer finanziellen Situation, 48 % wählten die Angabe „Im Großen und Ganzen komme ich zurecht“, und 31 % werteten ihre finanzielle Situation positiv. Auf die Frage, ob das Einkommen des Sohnes bzw. der Tochter mit Behinderung wichtig sei, antworten 65 % der Eltern (297) mit „Ja“, 23 % der Eltern (106) sagen „Nein“, und 12 % der Eltern (55) geben an, dass ihr Kind keine Einnahmen habe. Deutliche Unterschiede im Antwortverhalten zeigen sich, wenn die Eltern in die Altersgruppe bis 64 Jahre und in die Gruppe der über 65-Jährigen geteilt werden (s. Tab. 8). Mit diesen Angaben wird die strukturelle Barriere „Haushaltseinkommen“ im Kontext eines möglichen Auszuges des erwachsenen Kindes mit Behinderung bestätigt. Eltern, die einen Auszug unterstützten, laufen Gefahr, wichtige Haushaltseinkünfte zu verlieren. Möglicherweise setzen sie sogar den eigenen Wohnraum aufs Spiel, wenn sie einem Auszug zustimmen. Das finanzielle Problem verstärkt sich im Rentenalter. eltern bis 64 Jahre 65 Jahre und älter % häufigkeit % häufigkeit ja 63 156 76 69 nein 23 57 17 16 Sohn/ tochter hat keine Einnahmen 14 34 7 6 gesamt 100 247 100 91 tab. 8 Bedeutung der Einnahmen des Sohnes/ der Tochter mit Behinderung VHN 4 | 2012 322 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag 10 Prävention statt Drängen auf ablösung Das bisherige Ergebnis von ElFamBe belegt, dass es mehrere Gründe gibt, warum Eltern mit ihren erwachsenen Kindern zusammenleben. Vor allem die Unzufriedenheit mit der Beratungssituation, die Anerkennung durch die Familie und die Ergänzung des Haushaltseinkommens durch das erwachsene Kind werden als wichtige Faktoren empirisch nachgewiesen. Auf andere, hier nicht erhobene Einflussfaktoren, die das Zu-Hause-Leben stabilisieren, verweist Lindmeier. Sie spricht davon, dass sich Familien „gut mit der Situation [des Zusammenlebens] arrangiert“ haben: „Viele Eltern ziehen beispielsweise Befriedigung und Stolz aus der Tatsache, keine Hilfe annehmen zu müssen, allein zurechtzukommen und das ‚Kind‘ gut versorgt zu wissen.“ (Lindmeier 2011, 10) Lindmeier spricht von „interdependenten Beziehungen“: Der Sohn bzw. die Tochter mit Behinderung übernimmt Alltagsaufgaben für die Eltern wie z. B. Einkaufen oder andere Verrichtungen im Haushalt (ebd.). Für erwachsene Kinder mit Behinderung, die sich sicher und aufgehoben bei den Eltern fühlen, gibt es kaum einen Grund, ihre Lebenssituation zu verändern. Freunde, die selbstständig wohnen und als Vorbild wirken könnten, sind eher selten. Am ehesten zeigen noch Geschwister mit ihrem Lebensverlauf einen Weg in eine andere Wohnform außerhalb der Herkunftsfamilie. Eine Auszugsbarriere könnte darin liegen, dass es immer wieder widersprüchliche Botschaften zwischen Kindern und Eltern gibt. Wenn allmählich die Autonomieansprüche bei den Kindern wachsen, dann kann es schwerfallen, diese zu unterstützen. Eltern finden sich wieder zwischen Fürsorge und Förderung der Autonomieentwicklung. Sie haben das Bedürfnis, das Beste für ihr Kind zu tun, erleben vielleicht aber, dass das bestehende Angebot der Behindertenhilfe nicht ihren Vorstellungen entspricht. Oder Erwartungen an geeigneten Wohnraum oder Betreuungspersonal bleiben unerfüllt. Möglicherweise kommen negative reale Erfahrungen des Probewohnens hinzu und bestärken die Einsicht: „Zu Hause ist es am besten“. Auch normativ-ethische Verpflichtungen, die Eltern bewusst oder unbewusst übernehmen, können ergänzend auf das Familiensystem einwirken. Ein Vater formuliert es so: „Ich habe meine Tochter in die Welt gesetzt, nun bin ich für sie verantwortlich. Ich kann sie nicht einfach so der Gesellschaft zur Pflege übergeben.“ Durch die Erfahrungen der Eltern haben wir innerhalb des Projekts ElFamBe eine inhaltliche Themenverschiebung vorgenommen. Zu Beginn beschäftigten wir uns stärker mit dem Thema der Ablösung. Inzwischen wissen wir um die Bedarfslage der Eltern und um die Bedeutung des Zusammenlebens in der Herkunftsfamilie. Die Auseinandersetzung mit Ablösungsprozessen ist in den Hintergrund getreten, viel stärker geht es uns inzwischen um vorbeugende Maßnahmen für den Tag, an dem die Eltern nicht mehr für ihre Kinder sorgen können. Der Präventionsansatz - die präventive Zusammenarbeit mit den Eltern - bildet unseren zukünftigen Schwerpunkt (vgl. Lindmeier 2011, 11f, „Die allmähliche Überwindung des Ablösungspostulats“). 11 ausblick Im Projekt ElFamBe finden aktuell narrative und leitfadengestützte Interviews mit Eltern statt, um ergänzende Informationen zu ihrer Lebenssituation zu erhalten. Der eingesetzte Fragebogen hatte die Funktion einer explorativen Datenerhebung. Mündliche (Nach-) Fragen sind notwendig, um das Bild über die Lebenssituation der älteren Eltern zu komplettieren. Wir wollen erfahren, welche Unterstützungsangebote im Detail gewünscht werden. Wir suchen nach Gründen für die Unzufriedenheit im bestehenden Beratungs- und Freizeitangebot. Und nicht zuletzt wollen VHN 4 | 2012 323 REINHaRD BuRtScHER Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung Fachbeitrag wir Eltern bzw. die Familien ermutigen, sich vorbeugend mit dem Tag auseinanderzusetzen, an dem die bestehende Unterstützungsstruktur nicht mehr ausreicht. Eine Gesamtauswertung des Fragebogens finden Sie Online unter http: / / www.khsb-berlin. de/ forschung/ aktuelle-projekte/ elfambe anmerkungen 1 Im Projekt an der Hochschule arbeiten mit: Judith tröndle, thomas Schmidt, Julia Winkler. 2 Der Begriff der „schwersten Behinderung“ ist irreführend und entspricht nicht dem üblichen Verständnis in der Heil- und Sonderpädagogik, vgl. Fischer 2006. Die autoren der Studie definierten den Begriff mit einem Grad der Behinderung von mindestens 80 %. 3 Kindergeld gibt es in Deutschland für Kinder mit Behinderung auch nach dem 25. Lebensjahr. 4 In der vorliegenden auswertung werden Fragebögen von Geschwistern sowie Fragebögen aus Brandenburg nicht berücksichtigt. Die Größe der hier ausgewerteten Stichprobe beträgt N = 482 und bezieht sich auf Berlin. Literatur Berger, Fred (2009): auszug aus dem Elternhaus - Strukturelle, familiale und persönlichkeitsbezogene Bedingungsfaktoren. 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