Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2012.art02d
11
2012
811
Der Beitrag des Leistungsprinzips zur Rechtfertigung sozialer Ungerechtigkeit
11
2012
Helmut Heid
Das Leistungsprinzip gilt als das Prinzip sozialer Verteilungsgerechtigkeit. Verteilt werden knappe Güter (darunter Lerngelegenheiten) auf Menschen und Menschen auf erstrebenswerte Positionen im Bildungs- und Beschäftigungssystem. Der vorliegende Beitrag geht von der These aus, dass es Leistung gar nicht gibt. Ganz unterschiedliche Verhaltensweisen können mit Bezug auf ein dafür unentbehrliches Beurteilungskriterium als Leistung bewertet werden. Das führt zu der Frage: Welche Verhaltensweise wird unter welchen Bedingungen - von wem - mit Bezug auf welches Kriterium - als Leistung anerkannt. Mit Antworten auf jede dieser Teilfragen lässt sich zeigen, dass das Leistungsprinzip ungeeignet ist, soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Definitionsmächtige Nutznießer jeweiliger Ungleichheitsstrukturen verwenden das von ihnen selbst konkretisierte Prinzip, um ihre eigenen Vorteile als leistungsgerecht zu legitimieren. Die Erziehung zur Leistungsbereitschaft trägt dazu bei, diese Funktion des Leistungsprinzips im Bewusstsein unterschiedlich davon Betroffener zu verankern.
5_081_2012_1_0003
22 VHN, 81. Jg., S. 22 -34 (2012) DOI 10.2378/ vhn2012.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Der Beitrag des Leistungsprinzips zur Rechtfertigung sozialer Ungerechtigkeit Helmut Heid Universität Regensburg Zusammenfassung: Das Leistungsprinzip gilt als das Prinzip sozialer Verteilungsgerechtigkeit. Verteilt werden knappe Güter (darunter Lerngelegenheiten) auf Menschen und Menschen auf erstrebenswerte Positionen im Bildungs- und Beschäftigungssystem. Der vorliegende Beitrag geht von der These aus, dass es Leistung gar nicht gibt. Ganz unterschiedliche Verhaltensweisen können mit Bezug auf ein dafür unentbehrliches Beurteilungskriterium als Leistung bewertet werden. Das führt zu der Frage: Welche Verhaltensweise wird unter welchen Bedingungen - von wem - mit Bezug auf welches Kriterium - als Leistung anerkannt. Mit Antworten auf jede dieser Teilfragen lässt sich zeigen, dass das Leistungsprinzip ungeeignet ist, soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Definitionsmächtige Nutznießer jeweiliger Ungleichheitsstrukturen verwenden das von ihnen selbst konkretisierte Prinzip, um ihre eigenen Vorteile als leistungsgerecht zu legitimieren. Die Erziehung zur Leistungsbereitschaft trägt dazu bei, diese Funktion des Leistungsprinzips im Bewusstsein unterschiedlich davon Betroffener zu verankern. Schlüsselbegriffe: Leistung und Leistungsprinzip, Gerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit The Contribution of the Merit Principle to Justify Social Injustice Summary: The merit principle is the primary principle of distributive justice. Scarce goods (including learning opportunities) are distributed among people and people among desirable positions in the educational and the employment system. This article defends the thesis that performance by itself does not exist. Completely different behaviours can be assessed as performances with respect to a particular set of criteria. This raises the following questions: Which behaviour is approved as a performance? On what conditions? By whom? With reference to which criterion? The answers to each of these questions reveal that the merit principle is not appropriate to ensure social justice. Definatory powerful beneficiaries of the inequality structures use their self-concretised principle to legitimise their own benefits as being fair and equitable. To teach achievement potential and performance capability contributes to entrench this quality of the merit principle in the minds of differently concerned persons. Keywords: Performance and merit principle, justice and distributive justice, educational equality FaCHbeITR ag 1 Zur Problemstellung D as Leistungsprinzip gilt als das am wenigsten in Zweifel gezogene Prinzip zur Gewährleistung sozialer Verteilungsgerechtigkeit 1 . Es soll alle zuvor akzeptierten und praktizierten Prinzipien der Verteilung materieller und immaterieller Güter ersetzen - beispielsweise die als ungerecht bewerteten Prinzipien der sozialen Herkunft, des Glaubensbekenntnisses oder der Parteizugehörigkeit (z. B. Blankenburg 1980, Sp. 220f; Joerges 1980, Sp. 215; Roth 2008). Als ungerecht wird jede Güterverteilung beurteilt, die nicht durch Leistungen gerechtfertigt werden kann (Wolter u. a. 2010, 32f). Reformpädagogisch ambitionierte Kritik VHN 1 | 2012 23 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit am sogenannten Leistungsdruck (z. B. Klafki 1983) hängt nur sehr indirekt mit der Gerechtigkeitsproblematik zusammen. Wenn das Leistungsprinzip als das Prinzip zur Gewährleistung sozialer Verteilungsgerechtigkeit anerkannt ist und wenn die Auffassung zutrifft, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, dann müssen alle vorfindlichen Modalitäten sozialer Ungleichheit mit dem Gerechtigkeitspostulat vereinbar sein. Ungerecht können einzelne Ungleichheitskonstellationen demnach nur insofern sein, als bei ihrer Entstehung das Leistungsprinzip vernachlässigt worden ist. Die Kritik an Defiziten der Anwendung dieses Prinzips lässt jedoch die Frage unberührt, ob das Prinzip als solches unter den realen Bedingungen seiner Geltung und Anwendung überhaupt geeignet ist, die ihm zugeschriebene Funktion zu erfüllen, nämlich: soziale Gerechtigkeit zu verbürgen. Diese Frage interessiert mich. Deshalb richte ich mein Augenmerk auf die Darlegung der Gründe, die mich zu meinem fundamentalen Zweifel an der propagierten Funktion des Leistungsprinzips veranlassen. Die Probleme beginnen schon bei der Frage: 2 Was „ist“ 2 Leistung eigentlich? L eistung - so meine knappe und entschiedene Antwort: - existiert nicht. Wer Leistung abstrakt fordert oder kritisiert, der sagt nichts über den Inhalt, ohne den es Leistung aber gar nicht gibt. Wer erklären wollte, was Leistung „ist“, der könnte beispielsweise sagen, dass von Leistung dort die Rede sei, wo jemand sich besonders anstrengt oder wo jemand etwas besonders erfolgreich tut. Damit sind drei Probleme verbunden: Erstens handelt es sich dabei um Anstrengung und Erfolg und nicht auch schon um Leistung. Zweitens gibt es weder eine Anstrengung noch einen Tätigkeitserfolg an und für sich. Anstrengen kann man sich nur bei einer inhaltlich bestimmbaren Tätigkeit. Und erfolgreich kann man ebenfalls nur bei einer inhaltlich bestimmten Aktivität sein. Drittens: Wenn besonderer Fleiß und herausragende Erfolge als Leistungen gelten, dann muss alles Leistung „sein“, was mit Fleiß und Erfolg getan wird - der Versicherungsbetrug nicht weniger als die Schmerzlinderung. Denn Versicherungsbetrüger wie Krankenschwestern strengen sich an - um so mehr, je weiter sie es in ihrem jeweiligen Metier bringen möchten 3 . Ein Beispiel, in dem die (negative) Wertigkeit des Aktivitätsinhalts vielleicht weniger Probleme bereitet: Leistet derjenige mehr 4 , der einen Arbeitsauftrag erfüllt, oder leistet derjenige mehr, der die Erfüllung dieses Arbeitsauftrags ablehnt? In der gesellschaftlichen und pädagogischen Praxis hat derjenige größere Aussicht, als leistungsstark anerkannt und belohnt zu werden, der tut, was der jeweils als anordnungsbefugt Anerkannte von ihm erwartet. Aktivitäten haben geringere Chancen, als Leistung gewürdigt zu werden, wenn ihnen die Anerkennung derer versagt bleibt, die das Leistungsprinzip zur Legitimierung ihres Verteilungsvorteils verwenden, denn ohne Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Vorteils in strittigen Ungleichheits- oder Herrschaftsverhältnissen wäre Leistung gar kein Thema. Aber gerade die Kritik an der Begünstigung definitionsmächtiger Nutznießer einer Ungleichverteilung kann (kriterienbezogen) eine größere Leistung sein als ein (ökonomisch ertragreiches) Mitläufertum und ein unkritisches Ja-Sagen 5 . Wer in Erwägung zöge, dass nur mit Bezug auf inhaltlich positiv bewertete Aktivität von Leistung gesprochen werden dürfe, der verkennt, dass die damit postulierte Bewertung des Aktivitätsinhalts n ein entscheidungsabhängiges Bewertungskriterium voraussetzt, das nicht aus der zu bewertenden Aktivität abgeleitet werden kann, VHN 1 | 2012 24 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit n dass wir in einer wertpluralistischen Welt leben, in der viele sogar fürs Töten belohnt und befördert werden (können), n und dass die Subjekte der Kriterienbestimmung sehr ungleiche Interessen, Macht und Mittel haben, ihre Wertungen geltend zu machen und durchzusetzen. n Schließlich geht es im (auch schulischen) Alltag der Bestimmung dessen, was als „wertvolle“ Leistung anerkannt wird, nur selten um so fundamentale Wertungsdifferenzen, wie ich sie zur Verdeutlichung in meinen Beispielen kontrastiere. Aber die unspektakulären und als legal geltenden Differenzen in der Leistungsattribuierung haben im Hinblick auf die Rechtfertigung sozioökonomischer Ungleichheit das größere Gewicht. Mit diesen Vorüberlegungen ist die Frage nach der Bestimmung dessen nur sehr indirekt beantwortet, was Leistung „ist“: Leistung ist kein beobachtbares Verhalten, keine (allein) aus diesem Verhalten ableitbare Größe und auch keine Eigenschaft eines Verhaltens, sondern das Resultat der Beurteilung eines Verhaltens. Zu Leistungen „werden“ konkrete Handlungen (rechnen, schreiben, sägen, heilen, töten, demonstrieren usw.) dadurch, dass sie als Leistungen bewertet und anerkannt werden. 3 Zur Funktion des Leistungsprinzips I n der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hatte das Leistungsprinzip eine herausragende Funktion 6 . Darauf gehe ich hier nicht ein, wohl aber auf die Tatsache, dass es dem Bürgertum gelungen ist, dieses Prinzip unter „Nutzung“ der realen Bedingungen seiner Geltung und Anwendung in das Gegenteil seiner ursprünglichen Funktion zu verkehren und für die Durchsetzung und Rechtfertigung des Interesses an der Ungleichheit unter den Menschen (z. B. Mattern/ Weißhuhn 1980, 157ff; Lutz 1991) zu instrumentalisieren (dazu auch Fischer 1973; Dreitzel 1974; Helfert 1974; Fetscher 1976; Hartfiel 1977; Heid 1992). Denn das Leistungsprinzip ist geeignet, zwei entgegengesetzte Funktionen gleichzeitig zu erfüllen: 1. Eine als Leistung beurteilte, definierte und anerkannte Aktivität begründet nach weithin anerkannter Funktionsbestimmung den (Rechts-)Anspruch auf eine „entsprechende“ soziale Platzierung und Honorierung. Danach wäre der soziale Status oder die gesellschaftliche Position einer Person im Bildungs- und im Beschäftigungssystem eine von ihrer Leistung abhängige Größe und in diesem Sinn gerecht 7 . 2. Gleichzeitig ist die für die Anwendung des Leistungsprinzips vorausgesetzte Inhaltsbestimmung dessen, was als Leistung gelten soll, eine von den Interessen ihrer definitionsmächtigen Nutznießer abhängige „Größe“, die sich hervorragend eignet, die jeweils erwünschte Ungleichheit und die darin begründeten Privilegien zu legitimieren. Die Beantwortung der Frage, welche Aktivitäten oder Aktivitätseffekte als Leistung anerkannt werden (sollen), das entscheiden nämlich maßgeblich diejenigen, die sich bei der Rechtfertigung ihrer Privilegien auf die von ihnen selbst definierten Leistungen berufen (können). Damit sind Fragen angesprochen, auf die ich im Folgenden eingehe: 1. Die Frage nach dem Inhalt einer als Leistung beurteilten Tätigkeit; 2. die Frage nach dem Kriterium, das unentbehrlich ist, um beurteilen zu können, worin die Qualität einer als Leistung bewerteten Verhaltensweise besteht; 3. die Frage nach dem Subjekt der Kriterienbestimmung und -anwendung sowie VHN 1 | 2012 25 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit 4. die Frage nach dem Prinzip, nach dem die als Leistung gewürdigte Aktivität belohnt und gefördert wird. 5. Abschließend möchte ich auch noch auf die Frage eingehen, worin Zweck und Effekt einer Erziehung zur Leistungsbereitschaft bestehen (können). Diese Fragen beziehen sich auf kategorial, nicht aber auch real voneinander Unterscheidbares. 3.1 Zum Inhalt der Leistung Ich habe bereits ausgeführt, dass es Leistung als eine extramental existierende Größe nicht gibt. Völlig unterschiedliche Handlungen können dadurch zu Leistungen „werden“, dass sie mit Bezug auf ein entscheidungsabhängiges Bewertungskriterium bzw. einen Gütemaßstab 8 als Leistungen beurteilt werden. Dennoch wird Leistung inhaltsleer gefordert oder kritisiert. Aber was soll jemand tun, von dem Leistung gefordert wird? Darüber gibt der abstrakte Leistungsappell keine Antwort. Dennoch ist diese Leistungsforderung nicht funktionslos (dazu Topitsch 1960). Denn sie appelliert an die Bereitschaft ihrer Adressaten, dasjenige engagiert und erfolgreich zu tun und selbst zu wollen, was sie in ihrer (Leistungs-) Sozialisation jeweils als Leistung zu „sehen“ und zu realisieren gelernt haben. Dadurch wird das Leistungsverständnis auf diejenigen Kriterien und Praktiken relativiert, deren Verteilungsrelevanz durch das Leistungsprinzip aber außer Kraft gesetzt werden sollte. Kinder soziokulturell niedrig eingestufter Herkunft lernen dasjenige als Leistung zu „sehen“, was für sie selbst funktional ist, aber vom Standpunkt höher eingestufter sozialer Positionen oft gering geschätzt und dort nicht als günstige Voraussetzung für eine höhere Platzierung im Bildungs- und Beschäftigungssystem gewürdigt wird. So wird im üblichen Zirkelschluss die sozialstrukturelle Gegebenheit des (sehr grob klassifiziert: ) sozialen Unten einerseits und des sozialen Oben andererseits als leistungsgerecht rationalisiert. Tendenziell gilt, dass Kinder niedrig eingestufter sozialer Herkunft genau das leisten, wodurch und wofür sie „bestimmt“ sind. Dabei erfahren und lernen die Betroffenen auch, dass die jeweils Vorgesetzten dafür zuständig sind zu bestimmen, was Leistung „ist“. Demgegenüber lernen Kinder aus gesellschaftlich hoch eingestuften Elternhäusern sehr viel eher, wie wichtig und ertragreich es ist, sich im Wettbewerb um erstrebenswerte Güter durchzusetzen. Verschieden ist diese Sozialisation nicht nur hinsichtlich des Kriteriums der Selbstversus Fremdbestimmung 9 , sondern auch hinsichtlich der Aktivitätsinhalte. Heranwachsende erfahren und lernen in ihrer Leistungssozialisation, was man (besonders gut) wissen, können und tun muss, um als leistungsstark beurteilt zu werden. Dasjenige, was Kinder wissen und können, die aus sozialen Kontexten stammen, die mit welchem Recht und zu welchem Zweck auch immer als bildungsfern bezeichnet werden, hat in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft vergleichsweise geringere Aussicht, von den in dieser Gesellschaft tonangebenden Personen oder Instanzen als Anzeichen für Leistung anerkannt zu werden, und zwar unabhängig davon, welche Bedeutung das für die Betroffenen selbst oder auch für die Gesellschaft hat, in der sie zugleich gebraucht und geringgeschätzt werden. Als Indikatoren für Leistung sehen Angehörige höher eingestufter sozialer Herkunft vor allem diejenigen Inhalte des Wissens, Wollens und Tuns an, die sich eignen, ihren eigenen sozialen Status zu rechtfertigen. Arbeiterkinder erlernen tendenziell eher die Bereitschaft, die am Sockel der Berufshierarchie anfallenden Arbeiten „ohne viel zu fragen“ (oder nachzudenken) gewissenhaft zu erfüllen und den dadurch definierten niedrigen (Sozial-) Status VHN 1 | 2012 26 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit als gerecht zu „erkennen“. Kinder aus gesellschaftlichen Führungsschichten lernen tendenziell eher das, was für die Übernahme von „Führungsaufgaben“ als unverzichtbar angesehen wird. Der abstrakte Leistungsappell impliziert oder bezweckt einerseits die Verschleierung 10 jener statusrelevanten Selektivität selektionseffektiver Inhalte, ohne die andererseits Leistung als statuslegitimierende Zuschreibung gar kein Thema wäre. 3.2 Zu den Leistungskriterien Um eine Verhaltensweise als Leistung bewerten zu können, benötigt man ein Bewertungskriterium. Was als Leistung gilt, das ergibt sich nicht aus irgendeiner Verhaltensweise an sich, etwa daraus, dass jemand „gut“ rechnet oder „schnell“ läuft oder „viele“ Menschen tötet, sondern das ergibt sich aus der interpersonal vergleichenden Bewertung konkreter Verhaltensweisen unter Bezugnahme auf ein Bewertungsbzw. Leistungskriterium. Dieses Kriterium hat zwei Komponenten: eine deskriptive, in der die Inhalte bestimmt werden, ohne die es Leistung gar nicht gibt, und eine wertende bzw. präskriptive, in der diese Inhalte als Leistung ausgezeichnet werden. Nun kann die häufig unterschlagene 11 normative Komponente eines Beurteilungskriteriums nicht wahr oder falsch sein, sie kann aber gelten oder nicht gelten. Die Geltung einer Wertung hängt letztlich nicht von der intersubjektiv prüfbaren Wahrheit eines Arguments, sondern von der sozialen Macht dessen ab, der bestimmen kann, was als Leistung beurteilt, gelten und realisiert werden soll 12 . Wo es nicht um die intersubjektiv prüfbare Wahrheit oder Falschheit eines Arguments, sondern um die Geltung einer Norm oder Bewertung geht, dort wird das Subjekt der Bewertung und dessen soziale Definitions- und Sanktionsmacht ausschlaggebend wichtig. Hinsichtlich der sozialen Macht, zu definieren und zu sanktionieren, welches Verhalten als Leistung anerkannt werden soll, sind die Menschen ungleich. Bei der Entstehung dieser Ungleichheit spielen diejenigen als nicht leistungsbezogen beurteilten (Sozialisations-) Faktoren die ausschlaggebende Rolle, die durch das Leistungsprinzip neutralisiert werden sollen. Diese Tatsache ist im Hinblick auf die Funktion des Leistungsprinzips fatal. Denn durch sie kommt sowohl in der inhaltlichen Konkretisierung als auch in der Anwendung des Leistungsprinzips genau diejenige soziale Ungleichheit zur Geltung, die mit der Programmatik dieses Prinzips unvereinbar ist. Das heißt: Unter den realen soziostrukturellen Voraussetzungen seiner Geltung und Anwendung hat das Leistungsprinzip selbst jene soziale Ungleichheit in sich aufgenommen, die es zu problematisieren, zu kritisieren und zu revidieren verspricht. 3.3 Zu den Subjekten der Definition des Leistungskriteriums Im vorangehenden Kapitel bin ich bereits auf die Frage nach dem Subjekt der Kriterienbestimmung eingegangen, weil diese Bestimmung nicht unabhängig davon erfolgen kann, wer welchen Einfluss darauf hat. Denn was Leistung „ist“, das kann nicht aus der intersubjektiv prüfbaren Feststellung eines wahrnehmbaren Verhaltens oder Verhaltenseffektes abgeleitet werden. Was als Leistung angesehen werden soll, das kann nur von konkreten Personen mit Bezug auf ein dafür unentbehrliches Kriterium bestimmt werden. Dennoch ist es zweckmäßig, auf die Frage nach dem Subjekt der Kriterienbestimmung gesondert und nachdrücklich hinzuweisen. Denn in den Reden über Leistung wird der Eindruck erweckt, dass es sich dabei um einen subjektunabhängig existierenden Sachverhalt und nicht um das Resultat einer Stellungnahme zu Sachverhalten handelt. Die wertende Stellungnahme kann aus logischen Gründen VHN 1 | 2012 27 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit nicht aus dem Gegenstand der Stellungnahme, wohl aber aus den Interessen der Subjekte dieser Stellungnahmen abgeleitet werden. In dem, was im Allgemeinen mit empiristischem Anschein als Leistung bezeichnet wird, kommt stets das Interesse dessen zur Geltung, der sich nicht mit der Beschreibung eines Verhaltens begnügt - etwa dass jemand schneller läuft als ein anderer -, sondern der einen von Statusinteressen abhängigen Zweck damit verfolgt, dass er dieses Verhalten (auch noch) als Leistung qualifiziert. Diese Qualifizierung einer Verhaltensbesonderheit wird häufig nicht nur verschleiert, sondern in die Unbezweifelbarkeit einer Tatsachenfeststellung verwandelt, die der Statuslegitimation größeres Gewicht zu verleihen vermag 3.4 Zu den Prinzipien und Praktiken der Leistungsförderung Schulen sind in der Regel (grund-)rechtlich verpflichtet, leistungsfremde Ursachen der Lernerfolgsdifferenzierung (z. B. die soziale Herkunft) auszuschließen. Auf die bekannte Tatsache, dass ihnen das seit langer Zeit nur sehr unzureichend gelingt, gehe ich hier nicht ein 13 . Stattdessen interessiert mich die Frage, welchen Beitrag die „Anwendung“ des Leistungsprinzips bereits im organisierten Bildungswesen leistet, um die Erzeugung und vor allem die Rechtfertigung sozialer Ungleichheit bereits im Bildungssystem zu bewirken, und zwar ohne dass damit gegen geltendes Recht verstoßen wird. Dazu ein Beispiel: In der Lehr-Lern-Forschung ist die Geltung des sogenannten Matthäus-Prinzips gut bestätigt 14 . Das allein ist aufschlussreich. Aber damit nicht genug. In der bisherigen Diskussion dieses Befundes wird nur auf die erste Hälfte der Formulierung dieses Prinzips Bezug genommen. Die zweite, etwas rätselhafter formulierte Hälfte des Satzes besagt, dass denen, die nichts haben, dasjenige, was sie (offensichtlich doch noch) haben, genommen werde. Wie ist das zu verstehen? Zunächst ist festzustellen, dass auch die stets zitierte erste Satzhälfte keineswegs generell gilt. Sie bezieht sich erstens nur auf diejenigen Personen, die im etablierten Bildungssystem, also unter den dadurch definierten Bedingungen, selektiv 15 erfolgreich sind, und sie bezieht sich zweitens auf diejenigen Inhalte, die in der herrschenden pädagogischen Praxis und in der auf Statusdifferenz Wert legenden Gesellschaft als Bildung hoch bewertet und als Aufstiegsvoraussetzung anerkannt werden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob diese Inhalte für die betroffenen Bildungssubjekte oder für die gesellschaftliche Kultur (lebens-)wichtig sind. Diejenigen Inhalte aber, die Heranwachsende aus sogenannten bildungsfernen Schichten besonders interessieren, weil sie etwas mit dem zu tun haben, was sie dort gelernt haben und womit sie in ihrer Lebenswelt erfolgreich arbeiten können (dazu auch Becker 2000), die können auch dann als bildungsirrelevant bewertet oder ignoriert werden, wenn sie für die Betroffenen und deren Lebensgestaltung von herausragender Bedeutung sind. Der großen Anzahl dieser angeblich bildungsfernen Personen wird also keineswegs mehr von dem gegeben, was sie tatsächlich schon haben, sondern ihnen wird dasjenige, was sie an Kompetenzen und Ressourcen bereits mitbringen, vor allem im Bildungssystem 16 auch noch genommen. Ihnen wird wie indirekt auch immer mitgeteilt: Dasjenige, was ihr nicht habt, nicht wisst oder nicht könnt, das ist Leistung, und das wäre für eure Karriere im Bildungs- und Beschäftigungssystem unverzichtbar. Dasjenige, was ihr an Ressourcen und Kompetenzen mitbringt, das ist - zugespitzt formuliert: - nichts wert, das hat mit jener Leistung bzw. Bildung nichts zu tun, die als Zugangsvoraussetzung zu gehobenen Positionen im Bildungs- und Beschäftigungssystem als unverzichtbar angesetzt wird. Die Frage nach den Entwicklungspotenzialen vorhandener mentaler Aus- VHN 1 | 2012 28 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit gangslagen ist mit dem Interesse an (sozialer) Differenzerzeugung in Schule und Gesellschaft schwerlich vereinbar. Besonders bei Jugendlichen, die (nur mit Bezug auf ein von Entscheidungen und den dafür maßgeblichen Interessen abhängendes Kriterium) als lernbeeinträchtigt klassifiziert werden, wird dasjenige überbewertet, was sie nicht wissen und können, während dasjenige unterbewertet wird, was sie tatsächlich wissen und können. Freilich leben die als (bildungs-)benachteiligt Klassifizierten 17 in der gleichen Kultur wie die Bildungserfolgreichen, und man kann hier nicht mit dem Vergleichsbeispiel brasilianischer Straßenkinder operieren. Überdies gibt es gute Gründe, eine verbindliche Basiskompetenz für alle Angehörigen einer Kultur zu fordern. Aber empirisch bestätigt ist auch die Feststellung, dass es im etablierten Bildungssystem eine Tendenz gibt, die besonders selektionseffektiven Inhalte, Formen und Erfolgskriterien (auch innerhalb eines fundamentalen Sachgebiets) des Unterrichts zu monopolisieren oder zu standardisieren (Bergius 1969; Undeutsch 1969) - und die darin begründete Erzeugung interindividueller Lernerfolgsdifferenzen und sozialer Selektion zu legitimieren: Als gebildet und aufstiegsberechtigt wird anerkannt, wer die durch unendlich viele selektive Entscheidungen konkretisierte Bildung derer nachweisen kann, die unter Berufung auf eben diese Bildung ihren hohen sozialen Status und ihren darin begründeten Anspruch rechtfertigen, zu definieren, was Bildung und Leistung „sind“. Bei der Feststellung „des“ Bildungserfolgs geht es nie nur darum, ob man Erfolg hat oder nicht, sondern immer auch darum, mit welcher inhaltlich konkreten Aktivität man in Bezug auf welches Kriterium Erfolg haben muss, um im Bildungs- und im Beschäftigungssystem als jemand anerkannt zu werden, der etwas leistet und deshalb berechtigt ist, Karriere zu machen 18 . Nun sind die durch soziale Selektion Begünstigten häufig bestrebt, die Inhalte „ihres“ Leistungskriteriums dadurch zu legitimieren, dass sie ihm nicht nur besondere Relevanz für die Erfüllung anspruchsvoller gesellschaftlicher Arbeitsaufgaben, sondern auch besonderen Bildungswert zuschreiben. Dabei wird vernachlässigt, dass es nichts gibt, was Bildungswert an sich besitzt. Bildungswert kann (grob vereinfacht: ) alles haben, was konkrete Menschen veranlasst, sich kompetenzsteigernd damit zu beschäftigen 19 . Dennoch wird vor allem solchen Inhalten Bildungswert zugeschrieben, an denen erwünschte Leistungsdifferenzen deutlich werden - und das heißt, an der eine hinreichend große Anzahl von Lernenden scheitert, weil es doch um die „leistungsgerechte“ Güter- Verteilung geht 20 . Als bildungs- und leistungsbedeutsam werden vor allem diejenigen (selektionseffektiven) Inhalte 21 angesehen (Bergius 1969; Undeutsch 1969), an denen alle diejenigen scheitern, die von weiterführenden Lerngelegenheiten und vom sozialen Aufstieg ausgeschlossen werden müssen; und zwar „müssen“, weil es Aufstieg und ein gesellschaftlich-berufliches Oben rein logisch nur geben kann, wo nicht alle aufsteigen und wo es auch ein gesellschaftlich-berufliches Unten gibt (dazu bereits Schleiermacher 1826 22 und Spranger 1918/ 1928, 214) 23 . Der (umgekehrte) Einwand, dass es sich bei den selektionseffektiven Inhalten doch auch um solche handeln würde, die außer für „die Bildung“ auch für die kompetente Erfüllung gesellschaftlicher Führungsaufgaben unentbehrlich seien, ist in dieser Undifferenziertheit empirisch nicht haltbar. 3.5 Probleme einer erziehung zur Leistungsbereitschaft Thematisch aufschlussreich ist schließlich die Tatsache, dass Leistungsbereitschaft ein häufig postuliertes Ziel bildungs- und erziehungspraktischen Handelns ist. Leistungsbereitschaft wird zu den aktuell wichtigen Charak- VHN 1 | 2012 29 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit tereigenschaften Heranwachsender gerechnet. Wie lässt sich die Uninhaltlichkeit der Zielsetzung „Leistungsbereitschaft“ mit der Tatsache in Einklang bringen, dass es diese Uninhaltlichkeit real gar nicht geben kann? - In der Praxis dieser Erziehung wird der Lernende veranlasst, das, was ihm jeweils aufgetragen wird 24 , mit jenem Engagement und Eifer, mit jener Ausdauer und Gewissenhaftigkeit zu tun und zu wollen, wie das der (abstrakte) Leistungsbegriff „vorschreibt“. Sofern es um eine Erziehung zur Leistungsbereitschaft geht, steht der jeweilige Inhalt, ohne den es eine solche Erziehung gar nicht geben kann, ebenso wenig zur Diskussion wie dessen Qualitätsbeurteilung. Nur wenn dem Lernenden die Entwicklung der Kompetenz (Urteilskraft) vorenthalten wird, selbst zu begründen und zu beurteilen, wofür er sich engagieren will, muss er veranlasst werden, mit Eifer und Erfolg zu tun und zu wollen, was er nach externaler Maßgabe tun und wollen soll. Denn zu dem, was jemanden („wirklich“) interessiert 25 (Deci/ Ryan 1993), was ihn überzeugt, was er mit der Sinnbestimmung seines Lebens in Einklang bringen kann, wodurch er seine Kompetenz unter Beweis zu stellen vermag, dazu muss er nicht veranlasst oder gar gezwungen werden. Ist die Tatsache, dass Menschen zur Leistungsbereitschaft erzogen werden müssen, nicht der Beweis dafür, dass man ihnen die Gelegenheit vorenthält, an der Bestimmung und Begründung dessen wesentlich und folgenreich zu partizipieren, wofür sie sich aus eigenem Antrieb engagieren möchten, weil es ihnen selbst wichtig ist? Aber darauf scheint es in einer Erziehung zur Leistungsbereitschaft nicht anzukommen (Oerter 1981). Veranlasst oder gar (wie indirekt auch immer: ) gezwungen werden muss der Adressat einer Leistungserziehung vor allem zu dem, was ihn nicht interessiert, worin er keinen Sinn zu sehen vermag, was ihm inhaltlich völlig fremd ist und was für die Betroffenen so unproblematisch nicht sein kann. Anstatt Menschen zur Leistungsbereitschaft zu erziehen, könnte man ihnen Gelegenheit zur Entwicklung der Fähigkeit geben, den Sinn und die Qualität dessen zu beurteilen, wofür sie sich verantwortlich engagieren wollen. Die Konzentration auf die geforderte Anstrengung, Ausdauer und Gewissenhaftigkeit, mit der Lernende jeweilige Arbeitsaufträge zu erfüllen haben, läuft darauf hinaus, dass sie gleichzeitig lernen, diejenigen Inhalte der Arbeitsaufträge mit Leistung zu identifizieren, die dem jeweiligen Auftraggeber (in Schule, Betrieb und in jedwedem Abhängigkeitsverhältnis) wichtig oder nützlich sind. Die Adressaten der Leistungserziehung lernen also eine ganze Menge, und zwar: 1) zu tun und mit Leistung zu identifizieren, was sie in ihrer positionsrelativen Leistungssozialisation (als das zu Tuende und zu Wollende) gelernt haben und 2) diejenigen Arbeiten eifrig und gewissenhaft zu erfüllen, deren Erledigung die jeweils dazu Befugten erwarten oder anordnen; 3) darüber hinaus lernen sie, selbst zu wollen 26 , was sie nach ungeprüfter externaler Maßgabe wollen sollen; 4) nicht nach der Qualität dessen zu fragen, was von ihnen erwartet oder verlangt wird, und schließlich 5) zu lernen, dass sie selbst weder für die Bestimmung der Zwecke noch für die Qualitätsbeurteilung dessen zuständig sind, was sie mit Eifer tun und wollen sollen. Da die Durchsetzung dessen, wozu die Adressaten fremdbestimmter Leistungsansprüche veranlasst und erzogen werden sollen, nicht ohne deren Mitwirkung möglich ist, wirken diese von externalen Leistungsanforderungen Betroffenen indirekt und effektiv an der Konstitution des skizzierten Domestizierungs-Mechanismus mit. Freilich müssen Heranwachsende auch lernen, „tote Punkte“ zu überwinden und „Durststrecken“ des Lernens und Arbeitens durchzustehen. Aber die schlichte Tatsache, dass alle von Menschen verursachten Katastrophen der VHN 1 | 2012 30 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit Menschheitsgeschichte - und es sind unendlich viele - völlig undenkbar wären ohne die riesige Masse derer, die systematisch gelernt haben, „etwas zu leisten“ ohne zu fragen, welche Qualität das hat, wofür sie sich einsetzen, sollte Anlass für die Frage sein, was von einer (scheinbar abstrakten) Erziehung zur Leistungsbereitschaft und von einer inhaltsleeren Leistungsforderung zu halten ist. 4 Resümee n Was Leistung „ist“, das hängt von Entscheidungen ab. n Diese Entscheidungen werden von denjenigen maßgeblich bestimmt, die ihr (unproblematisiertes) Recht, diese Entscheidung zu dominieren, mit Bezug auf „die“ von ihnen selbst definierte Leistung legitimieren. n Bei der Bestimmung und Anwendung des für diese Entscheidung unentbehrlichen Beurteilungskriteriums spielt das Status- Interesse der definitionsmächtigen Entscheidungssubjekte eine wichtige Rolle. n So lange die Nutznießer bestimmter Ungleichheitsverhältnisse sich zur Rechtfertigung dieser Verhältnisse erfolgreich auf jene Leistung berufen, die sie selbst definiert haben, trägt das Leistungsprinzip nicht nur nichts zur Änderung der durch dieses Prinzip zu überwindenden Verhältnisse bei. Es gibt kein anderes Prinzip, das sich so perfekt wie dieses eignet, genau diejenigen Verhältnisse zu rechtfertigen, ohne die dieses Prinzip völlig überflüssig wäre. Ich problematisiere das hoch angesehene Leistungsprinzip auch deshalb, n weil es die objektiven Bedingungen dafür nicht nur ignoriert, sondern (indirekt) auch legitimiert, dass es überhaupt gefordert werden muss, n weil es die programmatisch kritisierte soziale Selektion tatsächlich nicht abschafft oder reduziert, sondern effektiviert und vor allem legitimiert, n und zusammenfassend: weil das Leistungsprinzip sich unter den realen Bedingungen seiner Geltung und Anwendung zu einer jener Ideologien entwickelt hat, die „bis heute allen um ihre Erhaltung besorgten Gesellschaften dazu dient, sich der Gerechtigkeit ihres Unrechts zu versichern“ (Dahrendorf 1966, 7) 27 . anmerkungen 1 Zu verteilen sind materielle und immaterielle Güter. Zu den immateriellen Gütern gehören Zugangs- und Partizipations-Rechte - auch im Bildungswesen. Es werden knappe Güter auf menschen und menschen auf unterschiedlich bewertete Bildungswege und gesellschaftliche Positionen verteilt. 2 „Eines der wichtigsten Wörter unserer Sprache ist das Wort ‚ist‘. Es ist zugleich eines der philosophisch gefährlichsten.“ (Stegmüller 1969, 67) „Ist“ suggeriert die subjektunabhängige (objektive) Existenz des jeweils Bezeichneten und verdeckt die Entscheidungsabhängigkeit der Verwendung - hier: - des Wortes „leistung“. 3 Es gibt die Spitzen-leistung des taschendiebs und die Genialität des Erfinders immer brutalerer Foltermethoden. 4 Wo es um die (gerechte) Verteilung von Gütern geht, dort muss es um „mehr“ oder „weniger“ gehen. 5 Kritik oder Protest werden von ihren Befürwortern als leistung und von ihren Gegnern als leistungsverweigerung bewertet. 6 Dazu u. a. menze 1966; Blankertz 1969; Fischer 1973; Dreitzel 1974, 34ff; Joerges 1980; Neckel 2007. 7 Jörg Ruhloff verdanke ich den Hinweis auf eine Veröffentlichung, in der Wolfgang Fischer den Zweifel an dieser unterstellung außerordentlich material- und aspektreich begründet (Fischer 1973; vgl. auch Offe 1970). 8 Dazu Heckhausen 1974, 17 und 39ff und Kap. 5. VHN 1 | 2012 31 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit 9 Nicht alles, was menschen selbst bestimmen, ist schon deshalb wünschenswert, weil sie es selbst bestimmen. Damit ist ein komplexes Problem angesprochen, auf das ich hinweisen, hier aber nicht eingehen möchte. 10 Damit wird die Selektionsfunktion des leistungsprinzips der kritischen Reflexion entzogen. 11 „Die Normen […], die dabei zur Anwendung kommen, werden typischerweise undiskutiert als >natürlich< gegeben […] vorausgesetzt.“ (Joerges 1980, Sp. 216) 12 Stark vereinfacht: Über die Wahrheit eines Satzes kann man nicht per Abstimmung entscheiden; über die Geltung einer Norm muss man „abstimmen“. 13 Dazu grundlegend Heintz 1959; Fend 1981, Kapitel 2; Friedeburg 1989; lutz 1991; Kronig 2007; maaz u. a. 2008; Giesinger 2008; Haeberlin 2009 sowie den Überblick bei leschinsky/ Roeder 1981. Diese untersuchungen wären weiterzuführen: Welche (der unübersehbar vielen und bisher übersehenen) Faktoren des lehrens und der lernumgebung haben unter welchen Bedingungen und aus welchen Gründen welchen Selektionseffekt? 14 „Denn jedem, der hat, wird noch hinzu gegeben werden, und er wird Überfluss haben - wer aber nichts hat, dem wird auch das, was er hat, genommen werden.“ (matthäus 25, 29 -30, zit. in Karrer 1959, 100) Zu den Gründen für diesen Effekt vgl. beispielsweise Brophy/ Good 1976. 15 In anderen Kulturen könnten bzw. würden diejenigen, die im hierzulande etablierten Bildungssystem erfolgreich sind, gnadenlos scheitern. Als Vergleichsbeispiel nenne ich (auch wenn das exotisch anmutet) die Genialität erfolgreicher brasilianischer Straßenkinder. Sie sind in Bezug auf andere lernziele, lerninhalte und Erfolgskriterien höchst erfolgreich. 16 Es wäre aufschlussreich, die gesellschaftlichkulturelle Erfolgskarriere von Schulversagern und Schulbzw. Studienabbrechern einmal aspektreich und repräsentativ zu untersuchen. 17 Von Behinderung kann nur mit Bezug auf ein entscheidungsabhängiges Beurteilungskriterium gesprochen werden. Übliche Bezugnahmen auf „Normalität“ oder „Funktionalität“ oder „Naturgemäßheit“ basieren auf interessenabhängigen Entscheidungen (dazu bereits Kelsen 1928/ 1964 und topitsch 1958/ 1961). 18 Ich habe Anlass zu der Erwägung, dass Bildungsforscher, die sich mit „der“ Qualität verschiedener Realisierungsformen konkreter Bildungsarbeit beschäftigen, sich darüber täuschen, dass in der überaus komplexen pädagogischen und gesellschaftlichen Praxis die (vor allem impliziten) Qualitätskriterien erheblich differieren. 19 Vertreter eines als klassisch geltenden Bildungsverständnisses sprechen in diesem Zusammenhang abwertend von Beliebigkeit und Vergleichgültigung (lübbe 1998, 18f). Bei aller Sympathie für Inhalte, die als klassisch qualifiziert werden, darf dreierlei nicht übersehen werden: 1. Kein noch so bildungsbedeutsam eingeschätzter Inhalt ist geeignet, das Entwicklungspotenzial eines menschen zu aktivieren, für den es im Bildungssubjekt nicht einen Anknüpfungspunkt gibt. 2. Jede Wertschätzung eines Wissens-, Erlebnis- oder Bildungsinhalts hängt von subjektiven (freilich in der kulturellen tradition „legitimierten“) Entscheidungen ab, in denen selektions-relevante Interessen eine Rolle spielen. Erinnert sei an die Auseinandersetzungen über die Bildungsbedeutsamkeit sogenannter Realien und aktuell über die unverzichtbarkeit sogenannter Schlüsselqualifikationen. 3. Die bildungspraktische Erschließung verborgener Potenziale lernender erfordert nicht etwa eine undifferenzierte Senkung, sondern zumindest auch eine inhaltliche Anreicherung der lerngelegenheiten und leistungsanforderungen. 20 „leistung ist zur Pflicht der Verlierer geworden.“ (Neckel 2007) 21 Der Zwang, sich im Bildungssystem mit dem zu beschäftigen, was inhaltlich und zeitlich bisweilen weit von dem entfernt ist, was für die kulturelle Partizipation (vor allem) Benachteiligter in der jeweiligen Bezugsgesellschaft unverzichtbar ist, begünstigt bei vielen lernenden die Entwicklung jener lernunlust, die zum einen keine günstige Erfolgsvoraussetzung ist und die zum anderen als vermeintliches Wesensmerkmal von leistung gelernt werden muss. lernlust gilt als leistungswidrig (dazu Joerges 1980, Sp. 215, und völlig unkritisch Kraus 1998). VHN 1 | 2012 32 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit 22 Schleiermacher 1826/ 1957, 39: „Es ist nicht zu leugnen, dass in sehr vielen Staaten […] eine große Neigung ist, nicht nur diese ungleichheit als angestammt anzusehen, sondern auch darauf zu achten, dass die einmal gesteckten Grenzen nicht überschritten werden. Es ist dies in vielen einzelnen Fällen schon so weit gegangen, dass man bestimmt verboten hat, der Jugend, die zu einer anderen Klasse gehört, gewisse Kenntnisse mitzuteilen, weil sie doch davon keinen Gebrauch machen könnte.“ 23 Die als destruktiv zu bewertende Komponente der leistungskonkurrenz zeigt sich übrigens dort, wo beispielsweise im sportlichen Wettkampf der bis dahin führende Athlet mit jeder Faser seiner mimik den Wunsch „äußert“, dass nachfolgende (konkurrierende) Athleten doch versagen mögen. 24 Definition von leistung bei Kluge (1963, 434): „Erfüllung einer gegebenen Anforderung“ - also ebenso inhaltsleer. 25 Es geht nicht darum, sich den jeweiligen Bedürfnissen und Interessen lernender kritiklos zu unterwerfen. Darin läge eine kränkende missachtung des Begründungsanspruchs Heranwachsender. Dennoch gilt prinzipiell, dass die Interessen und Überzeugungen jedes einzelnen lernenden unterrichtspraktisch unhintergehbar sind. Sie sind Anknüpfungspunkte und Realisierungsbedingungen einer Erfolg versprechenden unterrichtspraxis. 26 Dabei geht es um die Verwandlung fremdbestimmten Sollens in selbstbestimmtes Wollen. 27 Dahrendorf (1966) rekurriert bei der Begründung dieser these auf den prinzipiell auch für meine Argumentation bedeutsamen usus, die ungleichheit unter den menschen auf „die Natur“ zurückzuführen. Literatur Becker, R. (2000): Klassenlage und Bildungsentscheidungen: Eine empirische Anwendung der Wert-Erwartungstheorie. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 52, 450 -474 Bergius, R. (1969): Analyse der „Begabung“: Die Bedingungen des intelligenten Verhaltens. In: Roth, H. (Hrsg.): Begabung und lernen. Stuttgart: Klett, 229 -268 Blankenburg, W. (1980): leistungsprinzip. In: Ritter, J.; Gründer, K. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Basel: Schwabe, Sp. 220 -224 Blankertz, H. (1969): Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Hannover: Schroedel Brophy, J. E.; Good, t. l. (1976): Die lehrer-Schüler-Interaktion. münchen: urban & Schwarzenberg Dahrendorf, R. (1966): Über den ursprung der ungleichheit unter den menschen. 2. Aufl. tübingen: mohr Siebeck Deci, E. l.; Ryan, R. m. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 39, 223 -238 Ditton, H. (2005): Der Beitrag von Familie und Schule zur Reproduktion von Bildungsungleichheit. In: Becker, R.; lauterbach, W. (Hrsg.): Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 251 -279 Dreitzel, H. P. (1974): Soziologische Reflexionen über das Elend des leistungsprinzips. In: C. F. v. Siemens-Stiftung (Hrsg.): Sinn und unsinn des leistungsprinzips. münchen (Sonderdruck) Fend, H. (1981): theorie der Schule. 2. Aufl. münchen: urban & Schwarzenberg Fetscher, I. (1976): Was ist schlecht an der „leistungsgesellschaft“? Ein Beitrag zum Kampf um politische Begriffe. In: Frankfurter Rundschau Nr. 101 vom 30. April 1976, S. III (Vorabdruck) Fischer, W. (1973): Zur systematischen Problematik des Verhältnisses von Schule und leistung. In: Fischer, W.: Schule und kritische Pädagogik. Heidelberg: Quelle & meyer, 16 - 42 von Friedeburg, l. (1989): Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt a. m.: Suhrkamp Giesinger, J. (2008): Fairer Wettbewerb und demokratische Gleichheit. Zum Problem der Bildungsgerechtigkeit. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 104, 556 -572 VHN 1 | 2012 33 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit Haeberlin, u. (2009): Chancengleichheit als Kulturen verbindende Abwertung von Schwachen? In: melzer, W.; tippelt, R. (Hrsg.): Kulturen der Bildung. Beiträge zum 21. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen: Barbara Budrich, 139 - 154 Hartfiel, G. (1977): Das leistungsprinzip. Opladen: leske + Budrich Heckhausen, H. (1974): leistung und Chancengleichheit. Göttingen: Hogrefe Heid, H. (1992): Was „leistet“ das leistungsprinzip? In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 88, 91 -108 Heid, H. (2009): Aufstieg durch Bildung? Zu den Paradoxien einer traditionsreichen bildungspolitischen Parole. In: Pädagogische Korrespondenz 22, Heft 40 , 5 -24 Heintz, P. (Hrsg.) (1959): Soziologie der Schule. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen: Westdeutscher Verlag Helfert, m. (1974): Zur Kritik des leistungsprinzips. In: WSI mitteilungen 27, 2 -16 Joerges, B. (1980): leistung. In: Ritter, J.; Gründer, K. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Basel: Schwabe, Sp. 215 -220 Karrer, O. (1959): Neues testament. münchen: Ars Sacra (Josef müller) Kelsen, H. (1928/ 1964): Die Idee des Naturrechts. In: Kelsen, H.: Aufsätze zur Ideologiekritik. Neuwied/ Berlin: luchterhand, 73 -113 Klafki, W. (1983): leistung. In: lenzen, D. (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Bd. 1: theorien und Grundbegriffe der Erziehung und Bildung. Stuttgart: Klett-Cotta, 491 -495 Kluge, F. (1963): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 19. Aufl. Berlin: de Gruyter Kraus, J. (1998): Spaßpädagogik. Sackgassen deutscher Schulpolitik. münchen: universitas Kronig, W. (2007): Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Bern: Haupt leschinsky, A.; Roeder, P. m. (1981): Gesellschaftliche Funktionen der Schule. In: twellmann, W.: Handbuch Schule und unterricht. Bd. 3. Düsseldorf: Schwann, 107 -154 lübbe, H. (1998): „Sinn und Wert des lebens“ - Orientierungsprobleme in der zivilisierten Gesellschaft. In: Wissen und Werte für die Welt von morgen. Schulreport 1998, Nr. 2, 16 -19 lutz, B. (1982): Die gesellschaftliche Funktion des Gymnasiums. In: Gymnasiale Bildung und Industriegesellschaft. Dokumentation einer tagung im Wissenschaftszentrum Bonn. Hrsg. v. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. materialien zur Bildungspolitik 9. Essen: Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, 25 -36 lutz, B. (1991): mehr Chancen für die Schwachen. Nicht die Elite, sondern die breite masse muss stärker gefördert werden. In: DIE ZEIt Nr. 14 vom 29. märz 1991, 22 maaz, K.; Baumert, J.; Cortina, K. S. (2008): Soziale und regionale ungleichheit im deutschen Bildungswesen. In: Cortina, K. S.; Baumert, J.; leschinsky, A.; mayer, K.-u. (Hrsg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Reinbek: Rowohlt, 205 -243 mattern, C.; Weißhuhn, G. (1980): Einführung in die ökonomische theorie von Bildung, Arbeit und Produktion. Frankfurt a. m./ Aarau: Diesterweg & Sauerländer menze, C. (1966): Überlegungen zur Kritik am humanistischen Bildungsverständnis in unserer Zeit. In: Pädagogische Rundschau 20, 417 -434 Neckel, S. (2007): Die millionenfürsten. managergehälter und leistungsprinzip. In: Süddeutsche Zeitung vom 18. Dezember 2007, 14 Oerter, R. (1981): Gedanken zur Entwicklung des leistungshandelns. In: Schulreport 1981/ 5 Offe, C. (1970): leistungsprinzip und industrielle Arbeit. Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt Roth, S. (2008): Soziale Absicherung und leistungsgerechtigkeit - Belastbare Pfeiler der Sozialen marktwirtschaft. In: zur debatte 38 (7), 28 Rousseau, J.-J.: Abhandlung über den ursprung und die Grundlagen der ungleichheit unter den menschen (1755/ 1978). Schriften Band 1. Hrsg. v. Ritter, H. münchen/ Wien: Carl Hanser 1978 (Reprint) Schelsky, H. (1959): Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft. Würzburg: Werkbund-Verlag Schleiermacher, F. (1826): Pädagogische Schriften. Hrsg. v. Schulze, t., und Weniger, E. (1957). Düsseldorf: Küpper Spranger, E. (1918): Das Problem des Aufstiegs. In: Spranger, E. (1928): Kultur und Erziehung. Gesammelte Pädagogische Aufsätze. 4. Aufl. leipzig: Quelle & meyer, 205 -226 VHN 1 | 2012 34 FaCHbeITR ag HElmut HEID leistungsprinzip und soziale ungerechtigkeit Stamm, m. (2009): Begabte minoritäten. Kinder und Jugendliche jenseits unseres Bildungssystems. Wiesbaden: FS-Verlag Stegmüller, W. (1969): Der Phänomenalismus und seine Schwierigkeiten. Sprache und logik. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft topitsch, E. (1960): Über leerformeln. Zur Pragmatik des Sprachgebrauchs in Philosophie und politischer theorie. In: topitsch, E. (Hrsg.): Probleme der Wissenschaftstheorie. Wien: Springer, 233 -264. topitsch, E. (1958/ 1961): Restauration des Naturrechts? In: topitsch, E.: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft. Neuwied: luchterhand, 53 -70 undeutsch, u. (1969): Zum Problem der begabungsgerechten Auslese beim Eintritt in die Höhere Schule und während der Schulzeit. In: Roth, H. (Hrsg.): Begabung und lernen. Stuttgart: Klett, 377 -406 Wolter, S. C., u. a. (2010): Bildungsbericht Schweiz 2010. Aarau: Schweizerische Koordinierungsstelle für Bildungsforschung anschrift des autors Prof. em. Dr. Helmut Heid Machthildstr. 136 D-93053 Regensburg Tel.: ++49 (0)9 41 7 35 25 E-Mail: helmut.heid@paedagogik. uni-regensburg.de
