Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2012.art04d
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Die Abwertung von Menschen mit Behinderung - eine Folge der Ökonomisierung der Lebenswelt in der deutschen Gesellschaft
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Kirsten Endrikat
Unter Rückgriff auf die repräsentativen Erhebungen der Studie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF-Survey) wird über Ausmaß, Intensität und Bedingungen von Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung in der deutschen Bevölkerung berichtet. Ökonomistische Orientierungen und autoritäre Haltungen erweisen sich als wichtige Bedingungen für solche Vorurteile. Die Ergebnisse unterstützen die Annahme, dass angesichts krisenhafter Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft zunehmend ökonomistische Kriterien auf die soziale Lebenswelt übertragen und dort als „autoritärer“ Maßstab für die Beurteilung von Personengruppen herangezogen werden. Die Untersuchung zeigt dementsprechend, dass die Ökonomisierung der Lebenswelt ein starker Erklärungsfaktor für die Abwertung von Menschen mit Behinderung ist. Zudem kann belegt werden, dass dieser Effekt durch autoritäre Unterwürfigkeit mediiert wird.
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47 VHN, 81. Jg., S. 47 -59 (2012) DOI 10.2378/ vhn2012.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Fachbeitrag Die Abwertung von Menschen mit Behinderung - eine Folge der Ökonomisierung der Lebenswelt in der deutschen Gesellschaft Kirsten endrikat Pädagogische hochschule heidelberg Zusammenfassung: Unter Rückgriff auf die repräsentativen Erhebungen der Studie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF-Survey) wird über Ausmaß, Intensität und Bedingungen von Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung in der deutschen Bevölkerung berichtet. Ökonomistische Orientierungen und autoritäre Haltungen erweisen sich als wichtige Bedingungen für solche Vorurteile. Die Ergebnisse unterstützen die Annahme, dass angesichts krisenhafter Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft zunehmend ökonomistische Kriterien auf die soziale Lebenswelt übertragen und dort als „autoritärer“ Maßstab für die Beurteilung von Personengruppen herangezogen werden. Die Untersuchung zeigt dementsprechend, dass die Ökonomisierung der Lebenswelt ein starker Erklärungsfaktor für die Abwertung von Menschen mit Behinderung ist. Zudem kann belegt werden, dass dieser Effekt durch autoritäre Unterwürfigkeit mediiert wird. Schlüsselbegriffe: Vorurteile, ökonomistische Orientierungen, Abwertung von Menschen mit Behinderung, Kontakthypothese the Devaluation of individuals With Disabilities - a consequence of the economisation of the environment in germany’s Society Summary: Based on the representative survey of the study on Group-focused Enmity (GMF-Survey), the article deals with the extent, the intensity and the conditions of prejudices against individuals with disabilities in the German population. Economistic orientations and authoritarian attitudes are important conditions for such prejudices. The results confirm the presumption that on the evidence of critical developments in Germany’s society, economistic criteria are more and more spread to the social environment, where they are used as an “authoritarian” criterion for the appraisal of social groups. Consequently the survey shows that the economisation of the social environment is a potent explanatory factor for the devaluation of individuals with disabilities. The results also demonstrate that this effect is mediated by authoritarian submissiveness. Keywords: Prejudices, economistic orientations, devaluation of individuals with disabilities, contact hypothesis 1 Der rahmen der Untersuchung: Die gMF-Studie D er Umgang mit „schwachen“ Gruppen gilt bekanntlich als ein wesentliches Qualitätsmerkmal einer Gesellschaft. Daher hat sich die GMF-Studie 1 zur Aufgabe gemacht, das Ausmaß von feindseligen Einstellungen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen in Deutschland jährlich zu analysieren, zu erklären und im Hinblick auf präventive Maßnahmen publik zu machen 2 . VHN 1 | 2012 48 KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung Fachbeitrag Die vorliegende Untersuchung geht davon aus, dass gesellschaftliche Wandlungsprozesse und daraus resultierende Verschärfungen sozialer Ungleichheitslagen sowie die Labilisierung sozialer Beziehungen und die damit einhergehenden Gefühle von Verunsicherung den Nährboden für eine Ideologie der Ungleichwertigkeit schaffen. Diese Ideologie begünstigt Machtdemonstrationen vonseiten der gesellschaftlichen Majorität, indem das Eigene aufgewertet und das Fremde (meistens Merkmale schwacher Gruppen) abgewertet wird. Diese Abwertungsprozesse werden in mittlerweile zehn thematischen Varianten untersucht (Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Etabliertenvorrechte, Islamophobie, Abwertung von Menschen mit Behinderung, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Homosexuellen, klassischer Sexismus, Antisemitismus, Abwertung von Langzeitarbeitslosen), die sich zu einem Syndrom Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verbinden und sich letztlich auch in ausgrenzendem und diskriminierendem Verhalten sowie in Gewaltbilligung und eigener Gewaltbereitschaft niederschlagen können (vgl. Heitmeyer 2002). Die Daten, die den hier vorgestellten Analysen zugrunde liegen, entstammen überwiegend der im Jahr 2007 3 durchgeführten sechsten Erhebungswelle des Projektes Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit 4 . 2 Problemstellung D er vorliegenden Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass sich Wandlungsprozesse innerhalb der Gesellschaft, wie z. B. die Entwicklung von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft, in der Abwertung von spezifischen Teilgruppen äußern können (vgl. Sennett 2005). Nach dieser Hypothese führen gesellschaftlich bedingte ökonomistische Orientierungen dazu, dass soziale Einstellungen innerhalb der Bevölkerung an Gewicht verlieren und stattdessen rein auf Kosten/ Nutzen ausgelegte Kriterien favorisiert werden, wobei dies negative Folgen für „schwache“ Gruppen dieser Gesellschaft hat (vgl. Heitmeyer/ Endrikat 2008; Mansel/ Endrikat 2007) 5 . Darüber hinaus wird angenommen, dass autoritäre Einstellungen Abwertungstendenzen verstärken. Anscheinend können hierarchische Weltbilder in „unsicheren Zeiten“ mehr Sicherheit vermitteln. Vor diesem Hintergrund soll hier die Abwertung von Menschen mit Behinderung durch Teile der Bevölkerung untersucht werden, um das Problembewusstsein für bestehende Vorstellungen von Ungleichwertigkeiten zu schärfen, die wir als Grundlage der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit verstehen. Die Abwertung von Menschen mit Behinderung hat in der deutschen Gesellschaft eine lange Tradition, die in den Verbrechen des Nationalsozialismus den extremsten Ausdruck fand. Diese Vergangenheit wird auch damit in Verbindung gebracht, dass Deutschland bezüglich der Integration von Menschen mit Behinderung im Vergleich mit europäischen Nachbarländern weit zurückliegt. Deutschland legte mehr Wert auf die Einführung von Sondereinrichtungen und tat sich lange schwer mit einer konsequenten Integrationspolitik (vgl. Rommelspacher 1999). Dies scheint sich angesichts des aktuellen Diskurses unter der Thematik „Inklusion“ zu verändern. Nach wie vor lässt sich jedoch die Abwertung, Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung auf der gesellschaftlichen Ebene verorten. Durch vielfältige Gegebenheiten, Maßnahmen, Vorschriften und Konventionen werden sie von der Mehrheitsgesellschaft isoliert, z. B. durch Zuweisung in Sonderschulen und Behindertenwerkstätten, durch Mobilitätshindernisse für Rollstuhlfahrer/ innen oder durch fehlende Kommunika- VHN 1 | 2012 49 Fachbeitrag KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung tionsmittel wie Gebärdensprache bzw. Blindenschrift. Zudem findet Ausgrenzung auf einer personalen Ebene statt. Viele Menschen meiden den Kontakt mit Menschen mit Behinderung, haben kein Interesse an ihnen und wissen wenig über sie. Sie fühlen sich verunsichert, weil sie den Umgang nicht gelernt haben (vgl. Rommelspacher 1999). Die von Menschen geschaffenen Umwelten sind auf ganz bestimmte Persongruppen zugeschnitten, die z. B. durchschnittlich groß sind, gehen, sehen, hören, lesen sowie Informationen schnell verarbeiten können und insofern einer statistischen Norm entsprechen. Solche an der „Normalität“ ausgerichteten Lebensbedingungen beeinflussen wiederum die Integrationschancen in diese Gesellschaft (vgl. von Bracken 1976; Waldschmidt 1998). Zudem wird das Phänomen Behinderung sozial konstruiert, denn nicht die faktische Beeinträchtigung ist das entscheidende Problem, vielmehr ist es die Konstruktion von Normalität, die nur für bestimmte Menschen zu gelten scheint und andere dadurch ausgrenzt (vgl. Cloerkes 2003). Unterschiede in der Wertigkeit lassen sich auch innerhalb der Gruppe der Menschen mit Behinderung finden. Demnach werden z. B. Menschen mit geistiger Behinderung stärker benachteiligt als Menschen mit Körperbehinderung, da intellektuelle Fähigkeiten in unserer Gesellschaft höher rangieren als körperliche Fertigkeiten (vgl. Cloerkes 2001). Folglich haben wir im GMF-Projekt negative Einstellungen ausgemacht, die sich gegen die „Normalitätsabweichung“ und die daraus abgeleiteten Unterstützungsforderungen wenden. In dieser Variante richtet sich die Abwertung gegen Menschen mit Behinderung. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen zielt die vorliegende Arbeit auf die Untersuchung von drei Fragenkomplexen ab: a) Wie stellen sich Ausmaße und Intensität der Abwertung von Menschen mit Behinderung in der Bevölkerung dar? b) Welche Zusammenhänge zeigen sich zwischen Kontakthäufigkeiten zu Menschen mit Behinderung, Lebensalter und weiteren soziodemografischen Variablen und der Intensität der Ablehnung von Menschen mit Behinderung? c) Kann die Abwertung von Menschen mit Behinderung durch ökonomistische Orientierungen und autoritäre Haltungen erklärt werden? Bei der Durchsicht der sonderpädagogischen Fachliteratur zeigt sich, dass der hier vorgestellte Ansatz Ähnlichkeiten zu älteren Ideen wie z. B. zu denen von Jantzen (1976) aufweist, der Behinderung über die wirtschaftlich verwertbare Arbeitskraft definiert 6 . Auch Erklärungsansätze wie der Autoritarismus und die Kontakthypothese haben in der Sonderpädagogik eine lange Tradition und werden kontrovers diskutiert (vgl. Cloerkes 2001). Darüber hinaus findet man ebenso neuere Veröffentlichungen zur Thematik Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung (vgl. Cloerkes 2003; Waldschmidt 2004; Pauly/ Schlüter 2010). Es ist also relativ gut erforscht, was es bedeutet, Behinderungserfahrungen zu haben. Die vorliegende Arbeit fokussiert jedoch nicht die Perspektive der Betroffenen. Vielmehr soll die Perspektive oder Sichtweise der „Normalbevölkerung“ auf die Gruppe der Menschen mit Behinderung wiedergegeben werden. Auch hierzu gibt es einige Veröffentlichungen (vgl. Forster 2002). Insbesondere Hensle (1994) fasst Studienergebnisse zu negativen Einstellungen in der Bevölkerung gegenüber Menschen mit Behinderung zusammen. Hinsichtlich des aktuellen Forschungsstandes lässt sich zusammenfassend sagen, dass es an repräsentativen Befunden zur Abwertungsthematik aus Sicht der Bevölkerung mangelt. VHN 1 | 2012 50 Fachbeitrag KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung So ist die Beantwortung der genannten Forschungsfragen insbesondere für die wissenschaftliche Diskussion in der Sonderpädagogik relevant. Zudem gewinnt das Thema mit Blick auf die erwartungsgemäß ansteigende Behindertenquote (auf weit über 10 %) eine gesamtgesellschaftliche Brisanz (vgl. Cloerkes 2001). 3 Methode A lle bisherigen GMF-Surveys beinhalten Daten, die mittels standardisierter Erhebungsinstrumente erfasst wurden. Dabei wurden die telefonischen Befragungen 7 von per Zufallsprinzip ausgewählten Personen im Alter von über 16 Jahren durchgeführt. Die Privathaushalte bildeten dabei die Grundgesamtheit der Zufallsstichprobe. Die Stichproben wurden jeweils disproportional zugunsten der Bevölkerung in den neuen Bundesländern geschichtet (zwei Drittel West, ein Drittel Ost). Die Auswahl der Haushalte erfolgte auf der Basis eines Telefon-Master-Samples, das zu verzerrungsfreien Stichproben ohne Klumpeneffekte führt 8 . Insgesamt nahmen an der Jahresbefragung 2007 2000 Personen (vollständige und auswertbare Interviews) teil. Die hier vorgelegten Auswertungen beschränken sich auf deutsche Personen ohne Migrationshintergrund (Befragte, deren Eltern und Großeltern in Deutschland geboren wurden). Die Stichprobe reduziert sich dadurch auf N = 1760 Personen. Die Erhebung als Telefonbefragung setzte der Interviewdauer ein klares Limit 9 . Um dennoch eine Vielzahl von Variablen zu erheben und unterschiedliche Erklärungsansätze zu testen, wurde die Stichprobe in zwei (repräsentative) Splits aufgeteilt, in denen jeweils über den gemeinsamen Datenpool hinaus Fragenblöcke zu Spezialfragen zum Einsatz kamen. Die Anzahl der Personen, bei denen der Fragenblock zu ökonomistischen Orientierungen enthalten war, lag bei N = 866 Personen. Der andere Block beinhaltete Items, die im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen. Für eine effiziente Operationalisierung konnten weitgehend Kurzskalen (mit in der Regel zwei bis fünf Statements pro Konstrukt bzw. Subdimension) eingesetzt werden. Diese wurden meist in Anlehnung an bewährte Instrumente entwickelt bzw. selbst konstruiert und in mehreren Pretests erprobt sowie faktorenanalytisch getestet. Als Antwortvorgaben dienten zumeist vierstufige Likert-Skalierungen 10 . 4 ergebnisse 4.1 ausmaß und intensität der Vorurteile T abelle 1 beinhaltet die jeweiligen Items sowie die Zustimmungen der Befragten der GMF-Studie im Jahresvergleich. Zum Teil enthalten die Formulierungen der Items nur implizite Abwertungen, die nicht direkt als solche zu erkennen sind. Dadurch sollte möglichen Verfälschungen durch sozial erwünschte Antworttendenzen begegnet werden 11 . Denn Menschen mit Behinderung werden bereits dadurch abgewertet, dass man sie als „Behinderte“ bezeichnet. Dies signalisiert nämlich fälschlicherweise, dass sie in jedem Fall weniger gleichwertig sind bzw. einer Sonderbehandlung bedürfen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass eine Behinderung im Sinne der Definition der WHO auf komplexen Prozessen beruht und Einschränkungen durch Unterstützungsmaßnahmen kompensiert werden können 12 . Werden nun Menschen mit Behinderung diese Kompensationsmöglichkeiten vorenthalten, bedeutet dies eine eindeutige Abwertung der Gruppe. An dieser Stelle unterscheidet sich die Abwertung von Menschen mit Behin- VHN 1 | 2012 51 Fachbeitrag KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung derungen von den restlichen Syndromvariablen der GMF. So ist es z. B. nicht abwertend, wenn Homosexuelle als Homosexuelle oder Muslime als Muslime bezeichnet werden. Menschen mit Behinderungserfahrungen als „Behinderte“ zu etikettieren, ist jedoch bereits eine Abwertung. Darüber hinaus lösen Begegnungen mit behinderten Menschen zumeist Irritationen aus und aktivieren Ängste, was die eigene „Normalität“ und „Unversehrtheit“ betrifft. Diese Ängste führen in erster Linie zu Distanzierung. Die Marginalisierung drückt sich auf der kognitiven Ebene als Unsicherheit und Desinteresse, auf der emotionalen Ebene in der Abwehr von Gefühlen und auf der Verhaltensebene durch Kontaktvermeidung aus (vgl. Rommelspacher 1999). Welche Verteilungen zeigen sich in der deutschen Bevölkerung? Zunächst wird deutlich, dass insgesamt und erwartungsgemäß keine sehr hohen Ausmaße von Abwertungen auszumachen sind. Aber dennoch sind Abwertungstendenzen in der Bevölkerung in bemer- Stimme … … überhaupt nicht zu … eher nicht zu … eher zu … voll und ganz zu Signifikanz der Veränderung indirekte abwertung von Menschen mit behinderung 1) In der Gegenwart von Behinderten fühlt man sich manchmal unwohl. 43,9 34,6 16,6 4,9 2002* 45,1 36,1 15,6 3,2 2005 2) Manchmal ist man unsicher, wie man sich gegenüber Behinderten verhalten soll. 19,8 15,7 39,4 25,0 2002** 20,5 19,8 37,7 22,0 2004 Direkte abwertung von Menschen mit behinderung 3) Für Behinderte wird in Deutschland zu viel aufwand betrieben. 44,4 47,3 5,4 2,9 2005** 55,5 36,9 4,3 3,4 2007 4) Viele Forderungen von Behinderten finde ich überzogen. 35,1 49,7 10,1 5,1 2005** 46,0 41,3 7,3 5,4 2007 5) Behinderte erhalten zu viele Vergünstigungen. 42,8 49,7 4,7 2,8 2005** 49,8 42,2 5,5 2,5 2007 Diskriminierung von Menschen mit behinderung 6) Ich versuche, mich von Behinderten fernzuhalten. 67,1 28,8 3,1 1,0 2002* 63,1 34,8 1,8 0,3 2005 tab. 1 Indikatoren der Ablehnung von Menschen mit Behinderung Angaben in Prozent. Werte, die auf abwertende Einstellungen hindeuten, sind grau unterlegt. Die jeweils erste Zeile bezieht sich auf die Erhebung in 2002 oder 2005, die zweite jeweils auf 2005, 2004 oder 2007. Anmerkung: Unterschiede zwischen den Jahren 2002 -2005 oder 2005 -2007 sind auf Basis des Mittelwertvergleichs ** signifikant bei 1 %-Irrtumswahrscheinlichkeit bzw. * signifikant bei 5 %-Irrtumswahrscheinlichkeit. Die Items sind faktorenanalytisch überprüft worden: Es zeigte sich die abgebildete 3-Faktorenlösung (2005). VHN 1 | 2012 52 Fachbeitrag KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung kenswerter Häufigkeit vorhanden 13 . Es fällt auf, dass die Zustimmungen steigen, wenn die Items subtiler formuliert werden. Dabei sind die Antworten über die Vergleichsjahre hinweg recht stabil. Die Befunde belegen hinsichtlich der subtilen bzw. indirekten Abwertungen, dass sich etwa ein Fünftel der Deutschen (21,5 %) „in der Gegenwart von Behinderten unwohl“ fühlt. Etwa drei Fünftel (62 %) geben an, dass sie „unsicher sind, wie sie sich gegenüber Behinderten verhalten sollen“. Und bezüglich der direkten Abwertung zeigt sich, dass etwa ein Zehntel (8 %) der Interviewten meint, dass „in Deutschland zu viel Aufwand betrieben wird“ und „Behinderte auch zu viele Vergünstigungen erhalten“. Ein Achtel (13 %) meint, dass „viele Forderungen von Behinderten überzogen“ sind. Hinsichtlich der Diskriminierung betonen lediglich 3 %, dass sie sich „möglichst von Behinderten fern halten“. Ergänzend belegen weitere Berechnungen, dass subtile Abwertungen mit eindeutigeren Abwertungen verbunden sind (s. Tab. 2). Die Korrelationen liegen auf mittlerem Niveau. Es zeigt sich, dass Abwertungstendenzen mit dem Unwohlsein in Gegenwart von Menschen mit Behinderung verknüpft sein können. Dieses Missbehagen kann somit einen Teilaspekt der Abwertung darstellen. 4.2 Zusammenhang von Kontakthäufigkeit, Lebensalter und weiteren soziodemografischen Variablen und abwertung von Menschen mit behinderung Entsprechend der Kontakthypothese, die sich auf die Reduzierung von Fremdenfeindlichkeit bei Kontakten zu Mitgliedern fremder ethnischer Gruppen bezieht (vgl. Pettigrew 1997; Pettigrew/ Tropp 2000), können hier Berechnungen Folgendes belegen: Sozialer Kontakt mit Menschen mit Behinderung wirkt gegen das Unwohlgefühl in Gegenwart von behinderten Menschen. So zeigt sich hier eine negative Korrelation von r = -.19 (N = 2667), d. h. wer in seinem Freundes- und Bekanntenkreis Menschen mit Behinderungen hat, gibt an, sich im Umgang mit ihnen weniger unwohl zu fühlen. Ähnlich verhält es sich bei der Verhaltensunsicherheit gegenüber Menschen mit Behinderung; hier liegt der Korrelationskoeffizient bei r = -.17 (N = 2671) 14 . 1) 3) 4) 5) 6) 1) In der Gegenwart von Behinderten fühlt man sich manchmal unwohl. 1 .20 .18 .30 .35 2) Manchmal ist man unsicher, wie man sich gegenüber Behinderten verhalten soll. - - - - - 3) Für Behinderte wird in Deutschland zu viel aufwand betrieben. 1 .58 .55 .29 4) Viele Forderungen von Behinderten finde ich überzogen. 1 .52 .28 5) Behinderte erhalten zu viele Vergünstigungen. 1 .32 6) Ich versuche mich von Behinderten möglichst fern zu halten. 1 Anmerkung: alle Korr. p < .001, gewichtete Daten tab. 2 Zusammenhänge zwischen den Items zur Abwertung von Menschen mit Behinderungen (GMF-Survey 2005; Korrelationen, N =1755) VHN 1 | 2012 53 Fachbeitrag KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung Doch hat nicht jede Person Kontaktmöglichkeiten (s. Abb. 1), denn 43,8 % geben an, keine Menschen mit Behinderung im Freundes- und Bekanntenkreis zu haben. Immerhin sagen 49,5 %, dass sie wenige Kontakte vorweisen können. Nur 6,7 % der Befragten weisen viele oder sogar sehr viele Kontakte auf 15 . Dies deutet auf die Relevanz von Alltagserfahrungen mit Kontakten zu Menschen mit Behinderung (vgl. dazu auch Cloerkes 2001). Hinsichtlich soziodemografischer Variablen ergibt sich folgendes Bild: Bei differenzierten Analysen nach Geschlecht und Region zeigen sich erwartungsgemäß keine relevanten und signifikanten Gruppenunterschiede. Somit unterscheiden sich Männer und Frauen sowie Menschen in Ost- und Westdeutschland nicht in ihren Vorbehalten gegenüber Menschen mit Behinderung. Wenn man jedoch unterschiedliche Altersgruppen analysiert, so zeigt sich, dass ältere Befragte (ab 65 Jahren) deutlich höhere Abwertungstendenzen zeigen als jüngere (s. Tab. 3) 16 . Die Frage, ob es sich dabei um einen Alters- oder Generationeneffekt handelt, muss jedoch offen bleiben. Dass es sich bei der Gruppe der über 65-Jährigen um eine „abwertungsfreudige“ Gruppe handelt, zeigt sich auch bei anderen Elementen des Syndroms der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und ist bereits in anderen Beiträgen analysiert worden (vgl. z. B. Endrikat 2006). Dieses Ergebnis stellt somit keinen Einzelfall dar. Zudem belegen aktuelle GMF- Analysen, dass Befragte über 65 Jahre den stärksten Autoritarismus zeigen (Zick/ Henry 2009). Wie viele Ihrer Freunde und guten Bekannten sind Behinderte? 0 10 20 30 40 50 60 gar keine eher wenige eher viele sehr viele 43,8 49,5 5,8 0,9 abb. 1 Kontaktmöglichkeit aller Befragten (GMF-Survey-2002; N = 2704) altersgruppen N Mittelwert 16 -21 Jahre 22 -34 Jahre 35 -49 Jahre 50 -64 Jahre ab 65 Jahre Gesamt 120 291 492 383 466 1752 1,56 1,56 1,54 1,54 1,86 1,63 tab. 3 Ablehnung von Menschen mit Behinderung differenziert nach Alter (GMF-Survey 2007) VHN 1 | 2012 54 KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung Fachbeitrag 4.3 Ökonomistische Orientierungen, autoritäre haltungen und abwertung von Menschen mit behinderung Für die Erklärung der Abwertung von Menschen mit Behinderung wird hier der Ansatz der Ökonomisierung des Sozialen verfolgt. In Anlehnung an Sennett (1998; 2005) wird die Übertragung von wirtschaftlich funktionalen Kriterien wie Nützlichkeit, Effizienz, Funktionalität, Verwertbarkeit usw. auf die Wertigkeit von Menschen oder Vorgängen dieser Gesellschaft verstanden. Damit geht auch eine Vernachlässigung bzw. Ablehnung moralischer Kriterien einher (vgl. Heitmeyer/ Endrikat 2008; Mansel/ Endrikat 2007). Dem folgend werden Personen, die nicht zur Produktivität der Gesellschaft beitragen, lediglich als Kosten- und Störfaktor verstanden. Im Gegensatz zu Stehr (2007), der eine Moralisierung des Marktes betont, wird die Position vertreten, dass eine Dominanz der Kosten-Nutzen-Orientierung moralreduzierend wirkt. Es ist dann eine empirische Frage, inwieweit kapitalistische Prinzipien das soziale Miteinander durchdrungen und zu ökonomistischen Orientierungen der Befragten geführt haben. Werden wirtschaftliche Effizienzkalküle tatsächlich rücksichtslos auf soziale Zusammenhänge übertragen? Um entsprechende Orientierungen in der Bevölkerung zu messen, sind im GMF-Survey 2007 17 Items aufgenommen worden, die auf die Bewertung von Personen auf der Basis von Funktionsfähigkeit und Nützlichkeit im Sinne wirtschaftlicher Effizienzkalküle abzielen. Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich keine Gesellschaft leisten Menschliche Fehler können wir uns nicht mehr leisten Wir nehmen in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Versager Wir können uns in dieser Gesellschaft nicht zu viel Nachsicht leisten Moralisches Verhalten ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr erlauben können 14,418,9 36,6 30 15,119,7 33,6 31,6 16,6 23,7 42,9 16,9 15,4 28,5 42,2 14 10,515,3 36,1 38,1 0 10 20 30 40 50 trifft voll u. ganz zu trifft eher zu trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht zu abb. 2 Ökonomistische Orientierungen in der deutschen Bevölkerung (GMF-Survey 2007, Angaben in %) VHN 1 | 2012 55 Fachbeitrag KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung Die Daten zeigen, dass etwa ein Drittel der Befragten den Aussagen zustimmen, dass sich eine Gesellschaft „wenig nützliche Menschen“ (33,3 %) sowie „menschliche Fehler“ nicht leisten kann (34,8 %). Etwa 40 % sind der Ansicht, dass in unserer Gesellschaft zu viel „Rücksicht auf Versager“ genommen wird und zu viel „Nachsicht unangebracht“ ist (43,9 %). 25,8 % stimmen der Aussage zu, dass „moralisches Verhalten ein Luxus“ ist, den wir uns nicht mehr erlauben können (vgl. Abb. 2). Somit geben die Befunde Hinweise darauf, dass ökonomistisches Kalkül bei vielen Befragten das soziale Miteinander durchdringt. Die entsprechenden Korrelationen belegen, dass ein überzufällig hoher Zusammenhang mit der Abwertung von behinderten Menschen besteht (r = .37; p < .001). Ein weiterer Ansatz der GMF-Studie bezieht sich auf autoritäre Haltungen. Autoritarismus wird in der Sozialpsychologie eher als eine Einstellung denn als eine stabile Persönlichkeitseigenschaft verstanden und beinhaltet zwei gegensätzliche Facetten: aggressiv-dominante und unterwürfig-gehorsame Haltungen 18 . Der vorliegende Ansatz bezieht sich in erster Linie auf die Bereitschaft zur Unterwerfung unter Ranghöhere, d. h. eine unkritische Unterordnung und den Wunsch nach Führung. Umfangreiche empirische Studienergebnisse können in diesem Zusammenhang belegen, dass Autoritarismus einerseits mit Orientierungslosigkeit (vgl. Herrmann/ Schmidt 1995) sowie andererseits mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit korreliert (vgl. Heitmeyer/ Heyder 2002). Hier bildet vermutlich das Sicherheitsbedürfnis, das durch eine hierarchische Ordnung befriedigt wird, den Hintergrund. So können autoritäre Vorstellungen (d. h. die Bereitschaft, sich Autoritäten zu unterwerfen) eigene Unsicherheiten, die durch gesellschaftlich bedingte Unübersichtlichkeiten entstanden sind, reduzieren. Demnach ist Autoritarismus eine erlernte „Strategie“ gegen Angstreaktionen, um in Zeiten gesellschaftlicher Krisen Schutz und Sicherheit zu finden (vgl. Oesterreich 1996). abb. 3 Autoritäre Haltungen in der deutschen Bevölkerung (GMF-Survey 2007, Angaben in %) Wir sollten dankbar sein für führende Köpfe, die uns sagen, was wir tun sollen Zu den wichtigsten Eigenschaften, die jemand haben sollte gehören Gehorsam und Respekt vor den Vorgesetzten 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 stimme voll und ganz zu stimme eher zu stimme eher nicht zu stimme überhaupt nicht zu 12,7 23,7 43,8 19,8 31,8 37,9 25,1 5,2 VHN 1 | 2012 56 KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung Fachbeitrag Was zeigen die GMF-Ergebnisse hinsichtlich autoritärer Haltungen 19 ? Zunächst fallen recht hohe Zustimmungen auf (vgl. Abb.3). Immerhin geben 36 % der Befragten an, dass wir für „führende Köpfe dankbar sein“ sollten, die uns sagen, was wir tun sollen. Und sogar 70 % stimmen der Aussage zu, dass „Gehorsam und Respekt vor dem Vorgesetzten zu den wichtigsten Eigenschaften gehören“, die man haben sollte. Im Folgenden gilt es zu prüfen, inwieweit die beschriebenen Ansätze das Phänomen erklären können. Die Hypothese der vorliegenden Arbeit lautet, dass die Auswirkungen von ökonomistischen Orientierungen auf die Abwertung von Menschen mit Behinderungen mit der Autoritätshörigkeit der betreffenden Personen zusammenhängen. Hierzu wurde eine Mediationsanalyse durchgeführt 20 . Die wichtigen Ergebnisse dazu sind in Abbildung 4 zusammengefasst 21 . Über den Pfaden stehen die beta-Gewichte. Je höher der beta-Wert, desto höher ist auch der Einfluss einer Variable auf eine andere in Richtung des Pfeils 22 . Die Ergebnisse der Analyse belegen einen Mediationseffekt, denn das beta-Gewicht bei gemeinsamer Vorhersage der Abwertung durch ökonomistische Haltungen und Mediator (Autoritarismus; Wert vor der Klammer) ist kleiner als bei alleiniger Vorhersage der Abwertung durch ökonomistische Orientierungen ohne Mediator (Wert in Klammern). Demnach urteilen Personen, die die Neigung haben, soziale Belange zu ökonomisieren, besonders abwertend. Dieser Zusammenhang wird z. T. durch autoritäre Haltungen bedingt. Somit kann die These bestätigt werden, dass ökonomistische Orientierungen und autoritäre Haltungen substanzielle Erklärungsfaktoren für die Abwertung von Menschen mit Behinderung sind. Die Befunde machen deutlich, dass Menschen mit Behinderungen ökonomistischen Bewertungskriterien zum Opfer fallen können, einem Meinungsklima also, das auf reinen Kosten-Nutzen-Erwägungen fußt und Menschen mit Behinderungen in erster Linie als „Kostenverursacher“ ansieht. Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass Menschen mit Behinderung kaum einen Beitrag zur Effizienzsteigerung der Marktgesellschaft leisten können. Auch wenn insbesondere in der Behindertenpädagogik und in der Rehabilitationspolitik Bemühungen der (Re)Integration dieser Bevölkerungsgruppe nicht zu leugnen sind, so werden diese immer wieder durch Ausgrenzungs- und Abwertungsbestrebungen konterkariert (Waldschmidt 1998), indem Menschen mit Behinderung z. B. vorgeworfen wird, ihre Forderungen seien überzogen und dass sie „Zusatzkosten“ für die Sozialgemeinschaft verursachen würden, da sie häufig einer besonderen Versorgung bedürften. 5 Fazit W enn Menschen ökonomistische Einstellungen vertreten und zudem autoritär unterwürfig sind, hat dies „Folgekosten“ für die Beurteilung von einer der schwächsten Gruppen dieser Gesellschaft: Menschen mit Behinderung werden folglich als defizitär einautoritäre Unterwürfigkeit Ökonomistische Haltungen b-abwertung r 2 = .16 .43*** .18*** .30*** (.37***) F = 83.31; df = 2; p < .001 Sobel-test: 5.24 p < .001 totaler Effekt: .30 + (.43 x .18) = .38 abb. 4 Mediationsmodell (GMF-Survey 2007; Beta-Koeffizienten und erklärte Varianzen) VHN 1 | 2012 57 Fachbeitrag KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung gestuft und abgewertet. Fatal ist, dass nicht berücksichtigt wird, dass viele von ihnen durchaus in der Lage sind, das Fehlen bestimmter Fähigkeiten (zumindest teilweise) zu kompensieren. Um die Einschränkungen ausgleichen zu können, müssen ausreichende Unterstützungsmaßnahmen angeboten werden. Denn nur dann können Menschen mit Behinderungen gleich wie Menschen ohne Behinderungen am gesellschaftlichen Leben teilhaben und ihre Rechte auf Partizipation und Mitentscheidung nutzen. Maßnahmen in diesem Bereich sollten daher immer zum Ziel haben, das Bild von Behinderungen in der Gesellschaft zu verändern. Von zentraler Bedeutung ist, dass Behinderung einen persönlichen Eigenwert besitzt und als Teil einer Individualität anzuerkennen ist. Zudem sollte angestrebt werden, dass Menschen mit Behinderungserfahrungen umfassende Teilhabe gewährleistet wird. Die Inklusionsdebatte des Bildungs- und Schulsystems bietet hier einige Chancen, wenn es etwa gelingt, positive Kontakterfahrungen zu arrangieren. Die vorliegenden Befunde weisen in diese Richtung. Die positiven Effekte der Intergruppenkontakte stellen sich allerdings nicht ganz bedingungslos ein (vgl. dazu Cloerkes 2001). Die sozialpsychologische Kontaktforschung zählt folgende förderlichen Bedingungen auf (Pettigrew/ Tropp 2000): Die Beteiligten sollten in der Kontaktsituation den gleichen Status einnehmen, dasselbe Ziel verfolgen, dieses Ziel kooperativ erreichen, und sie sollten durch Autoritäten unterstützt werden (z. B. durch Lehrkräfte). Diese Bedingungen sollten in weiterführenden Studien empirisch geprüft werden. Eine Erziehung zur Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und eine verstärkte Vermittlung von sozialen und demokratischen Orientierungen wären Versuche, dem Phänomen der Abwertung von Menschen mit Behinderung entgegenzuwirken. Aber davor steht derzeit (noch) die „Normalität“. anmerkungen 1 Die Studie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) wird von Wilhelm Heitmeyer (Universität Bielefeld) geleitet und von einem Stiftungskonsortium unter Federführung der VolkswagenStiftung finanziert. 2 Im Suhrkamp-Verlag erscheint ein jährlicher Sammelband „Deutsche Zustände“, in dem die wissenschaftlichen Befunde verbunden sind mit Essays, Reportagen, Interviews usw., um eine konzentrierte aufmerksamkeit auf die Gefährdung angst- und gewaltfreien Lebens in dieser Gesellschaft zu richten. Bisher wurden 8 Bände veröffentlicht. Zentrale Ergebnisse werden zeitgleich jeweils im Herbst eines jeden Jahres in der ZEIt veröffentlicht. 3 Dieser Survey des Jahres 2007 wurde ausgewählt, weil insbesondere in dieser Welle die ökonomistischen Orientierungen sehr differenziert erfasst wurden. 4 Es werden zum Vergleich auch Befunde der ersten und vierten GMF-Surveys dargestellt. 5 Selbstverständlich sind noch weitere Erklärungsansätze in diesem Zusammenhang denkbar. 6 Da der kapitalistische Produktionsbetrieb auf qualifizierte arbeitskräfte mit „normaler“ arbeitskraft angewiesen ist, werden Menschen mit Behinderung als arbeitskräfte minderer Güte bezeichnet (vgl. Jantzen 1976). 7 Durchführung: tns-Infratest München. 8 Eingetragene telefonnummern werden durch generierte Rufnummern ergänzt, um sicherzustellen, dass in den Stichproben auch solche Haushalte enthalten sind, die in keinem telefonverzeichnis eingetragen sind. In den Haushalten wird die Zielperson mittels des Schwedenschlüssels ermittelt. 9 Die durchschnittliche Interviewdauer lag bei etwa 30 Minuten. 10 Die genauen Itemformulierungen sind im Ergebnisteil des artikels zu finden. 11 Ziel war bei dieser Strategie, die Varianz der antworten zu erhöhen. 12 „Behinderung ist gekennzeichnet als das Ergebnis oder die Folge einer komplexen Beziehung zwischen dem Gesundheitsproblem eines Menschen und seinen personenbezogenen Faktoren einerseits und der externen Faktoren, welche die Umstände repräsentieren, unter denen Individuen leben, andererseits.“ (DIMDI, VHN 1 | 2012 58 KIRStEN ENDRIKat abwertung von Menschen mit Behinderung Fachbeitrag 2004, 22) Dies ist die Internationale „Classification of Impairments, Disability and Health“ (ICE), die im auftrage der WHO, mit Stand Oktober 2004, erarbeitet wurde. Es gilt somit nicht Menschen in die Kategorien „behindert“ oder „nicht behindert“ zu klassifizieren, sondern eine komplexe analyse vorzunehmen, die auch Kompensationsmöglichkeiten in Betracht zieht. Daher findet man auch in einigen neueren artikeln die Bezeichnung „Menschen mit Behinderungserfahrungen“. 13 In Folge der Heterogenität dieser Personengruppe sind die Ergebnisse nicht eindeutig zu interpretieren. Vorurteile dürften sich insbesondere auf geistig Behinderte sowie Lernbehinderte beziehen. 14 Um hier jedoch eindeutig die Kausalität zu prüfen, sind längsschnittliche analysen erforderlich. 15 Hinsichtlich der Kontaktqualität kann an dieser Stelle leider keine aussage gemacht werden, da dazu im GMF-Survey keine Items vorliegen. 16 Nach Scheffé-test besteht ein signifikanter Gruppenunterschied (p < .001) 17 In späteren GMF-Erhebungen wurde das Konstrukt der ökonomistischen Orientierungen nicht mehr in dieser ausführlichkeit erhoben. Die Items sind von der Forschergruppe selbst konstruiert, und die einfaktorielle Lösung ist analytisch überprüft worden. 18 Die Wurzeln des autoritarismuskonzepts finden sich bereits bei Fromm (1932) und später dann systematisch untersucht durch adorno (1973). 19 In anlehnung an altemeyer (1981) wurde das Konzept „autoritäre Unterwürfigkeit“ mit den abgebildeten Items erfasst. 20 Nach Baron und Kenny (1986) werden Moderatoreffekte von Mediatoreffekten eindeutig unterschieden. Um den mediierenden Einfluss einer Variable zu ermitteln, werden drei Regressionsmodelle zur Vorhersage der abhängigen Variable (aV) durchgeführt. Der Moderatoreffekt wird rechnerisch anders ermittelt. 21 alle aufgeführten Werte sind signifikant, sind also mit großer Sicherheit nicht zufällig. 22 Der Einfluss ist *** signifikant bei einer .01 %- Irrtumswahrscheinlichkeit. 23 Das 2. Item ist 2005 leider nicht mehr erhoben worden. Literatur adorno, th. W. (1973): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. 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M.: Suhrkamp, 190 -204 anschrift der autorin Dr. Kirsten endrikat Vertretungsprofessorin Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Sonderpädagogik Keplerstr. 87 D-69120 Heidelberg ++49 (0)62 21 47 71 84 endrikat@ph-heidelberg.de
