Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2012
811
Aktuelle Forschungsprojekte 1/12
11
2012
Früherkennung und Prävention von Schriftspracherwerbsstörungen im inklusiven Unterricht
5_081_2012_1_0008
< rubrik > < rubrik > VHN 1 | 2012 68 Früherkennung und Prävention von Schriftspracherwerbsstörungen im inklusiven unterricht Hans-Joachim Motsch, Andreas Mayer universität zu köln Theoretischer Hintergrund Lese- und Rechtschreibstörungen gehören mit einer Prävalenz von ca. 6 - 8 % zu den häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter. Sie lassen sich durch Beeinträchtigungen im phonologischen Rekodieren (synthetisierendes Lesen) und/ oder der automatisierten Leseprozesse sowie beeinträchtigte Rechtschreibung charakterisieren, resultieren meist aus Defiziten der phonologischen Informationsverarbeitung in der Folge neurobiologischer Veränderungen und können sich negativ auf das Leseverständnis, die kognitive sowie die sozio-emotionale Entwicklung auswirken (Lyon u. a. 2003). Die Definition drückt aus, worüber in der wissenschaftlichen Forschung heute weitgehend Konsens herrscht: Defizite in der phonologischen Informationsverarbeitung stellen in den meisten Fällen problematischer Schriftspracherwerbsprozesse die grundlegenden sprachlich-kognitiven Beeinträchtigungen und damit das Bindeglied zwischen den angenommenen Ursachen im neuroanatomischen Bereich und der Oberflächensymptomatik einer Lese-Rechtschreibstörung dar. Die phonologische Bewusstheit und die Benennungsgeschwindigkeit sind zwei der Funktionen der phonologischen Informationsverarbeitung, die sich in zahlreichen empirischen Arbeiten als die zuverlässigsten Prädiktoren für den Schriftspracherwerb herausgestellt haben (Schatschneider/ Torgesen 2004). Während die phonologische Bewusstheit, also die bewusste Identifizierung, Analyse, Synthese und Manipulation sprachlicher Einheiten auf sublexikalischer Ebene vor allem mit dem Erlernen des phonologischen Rekodierens und der Rechtschreibung assoziiert ist, beeinflusst die Benennungsgeschwindigkeit, definiert als die Geschwindigkeit, mit der die phonologischen Repräsentationen zu visuell präsentierten Stimuli aktiviert werden können, primär die Ausbildung automatisierter Leseprozesse (z. B. Cornwall 1992; Kirby u. a. 2003). Die im deutschsprachigen Raum aktuell fokussierte Diagnose und Förderung der phonologischen Bewusstheit hat zu erfreulichen Erfolgen bei der Identifizierung von Risikokindern und der präventiven Förderung im schriftsprachlichen Anfangsunterricht geführt. Jedoch zeigen die Ergebnisse kontrollierter wissenschaftlicher Untersuchungen, dass sich eine phonologisch orientierte Förderung zwar positiv auf die ersten Schritte beim Schriftspracherwerb auswirkt, die Ausbildung automatisierter Leseprozesse aber weitgehend unbeeinflusst bleibt (Torgesen u. a. 1997). Insgesamt sollten die Auswirkungen einer isolierten Förderung der phonologischen Bewusstheit auf den Schriftspracherwerb nicht überschätzt werden. Obwohl die ein bzw. zwei Jahre nach Beendigung einer vorschulischen Förderung der phonologischen Bewusstheit durchgeführten Lese- und Rechtschreibüberprüfungen meist eine signifikante Überlegenheit der Trainingsgruppen im Vergleich zur Kontrollgruppe nachweisen können, fallen die Unterschiede häufig so marginal aus, dass kaum von einer praktischen Relevanz gesprochen werden kann. So gelang es den Kindern der Trainingsgruppe in einer der Würzburger Trainingsstudien, am Ende der ersten Klasse durchschnittlich ein Wort/ Minute mehr zu lesen als die Kinder der Kontrollgruppe (Schneider u. a. 1997; vgl. auch Lundberg u. a. 1988). Aufgrund der Tatsache, dass sich leseschwache Kinder, die eine relativ transparente Orthografie erwerben, primär durch eine beeinträchtigte automatisierte Worterkennung charakterisieren lassen, sollte der Benennungsgeschwindigkeit als Prognoseindikator und der Förderung automatisierter Leseprozesse im deutschsprachigen Raum eine besondere Bedeutung zukommen (Brizzolara u. a. 2006; Holopainen u. a. 2001; Wimmer 1993). Der Landkreis Mettmann (NRW) hat in der Folge der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entschieden, möglichst vielen Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Chance zum Besuch einer allgemein bildenden Schule zu er- Ak Tuelle FOrSCHuNGSPrOJ ek Te VHN 1 | 2012 69 Ak Tuelle FOrSCHuNGSPrOJ ek Te möglichen und so einen konsequenten Weg bei der Umsetzung eines inklusiven Schulsystems zu gehen. Dies hat zur Folge, dass in den kommenden Jahren deutlich mehr Risikokinder für die Ausbildung von Schriftspracherwerbsstörungen Regelgrundschulen besuchen werden. Um insbesondere diesen Kindern gerecht zu werden und ihnen einen möglichst erfolgversprechenden Start in den Schriftspracherwerb zu ermöglichen, ist eine intensive und zielgerichtete Unterstützung der Grundschullehrkräfte unerlässlich. An diesem Punkt setzt das hier vorgestellte Projekt an. Es bezweckt, den schriftsprachlichen Anfangsunterricht an inklusiv ausgerichteten Grundschulen zu unterstützen und wissenschaftlich zu begleiten und verfolgt das Ziel, die diagnostischen Kompetenzen der Lehrkräfte und die inhaltliche und methodische Gestaltung des schriftsprachlichen Anfangsunterrichts für Risikokinder mit unterschiedlichen sprachlich-kognitiven Schwierigkeiten zu optimieren. Die Durchführung des Projektes geschieht in enger Kooperation mit der Schulaufsicht, den Schulträgern, den Kompetenzzentren Velbert/ Heiligenhaus und Erkrath und dem Studienseminar für das Lehramt für Sonderpädagogik Solingen. Methode Es handelt sich um eine randomisierte und kontrollierte Gruppenstudie, in der die Effekte eines phonologisch orientierten Förderprogramms (Forster/ Martschinke 2001) mit einer Förderung automatisierter Leseprozesse auf sublexikalischer Ebene (Mayer 2009) bei Kindern mit unterschiedlichen sprachlich-kognitiven Defiziten verglichen werden. Zu diesem Zweck werden ca. 1000 Kinder, die im September 2011 in die ersten Klassen von 21 Grundschulen der Städte Velbert, Heiligenhaus oder Erkrath eingeschult wurden, hinsichtlich der beiden Variablen „phonologische Bewusstheit“ und „Benennungsgeschwindigkeit“ überprüft, um Risikokinder für die Ausbildung von Schriftspracherwerbsstörungen identifizieren zu können. Dabei kommt das Testverfahren TE- PHOBE (Mayer 2011) zum Einsatz, das an der Universität zu Köln entwickelt und standardisiert wurde und das die beiden genannten Prädiktoren erfasst. Für den Beginn der ersten Klasse stehen mit TEPHOBE zuverlässige Normwerte zur Verfügung. Zusätzlich werden vor der Intervention weitere Parameter erhoben, um deren Einfluss varianzanalytisch zu kontrollieren. Alle Kinder mit einem T-Wert < 40 in mindestens einer der im TEPHOBE erfassten Variablen werden als Risikokinder klassifiziert und können aufgrund der Konzeption des Verfahrens der „double-deficit-Hypothese“ von Wolf/ Bowers (1999) folgend einer von drei Risikogruppen zugeordnet werden: n Gruppe 1: Kinder mit isoliertem Defizit in der phonologischen Bewusstheit („phonologicalawareness-deficit“ = pad) n Gruppe 2: Kinder mit isoliertem Defizit in der Benennungsgeschwindigkeit („naming-speeddeficit“ = nsd) n Gruppe 3: Kinder mit einem Defizit in der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit („double-deficit“ = dd). Um die Effektivität der eingesetzten Interventionsprogramme und eine eventuelle Abhängigkeit der Effekte vom sprachlich-kognitiven Profil der geförderten Risikokinder nachweisen zu können, werden die Risikokinder randomisiert auf unterschiedliche Förderbedingungen verteilt. n EG 1 (jeweils n = 20 Kinder mit pad, nsd, dd): Förderung der phonologischen Bewusstheit im ersten Schulhalbjahr 2011/ 2012 n EG 2 (jeweils n = 20 Kinder mit pad, nsd, dd): Förderung der phonologischen Bewusstheit im ersten Schulhalbjahr 2011/ 2012 und Förderung der automatisierten Worterkennung im zweiten Schulhalbjahr 2011/ 2012 n EG 3 (jeweils n = 20 Kinder mit pad, nsd, dd): Förderung der automatisierten Worterkennung im zweiten Schulhalbjahr 2011/ 2012 n Kontrollgruppe (jeweils n = 20 Kinder mit pad, nsd, dd): keine spezifische Förderung zusätzlich zum üblichen Unterricht n Vergleichsgruppe: „Nicht-Risikokinder“ mit unauffälligen Leistungen im TEPHOBE (n = 60) VHN 1 | 2012 70 Ak Tuelle FOrSCHuNGSPrOJ ek Te intervention Die in der EG 1 und EG 2 im ersten Schulhalbjahr 2011/ 2012 (September 2011 - Februar 2012) durchgeführte Förderung „Leichter Lesen- und Schreibenlernen mit der Hexe Susi“ (Forster/ Martschinke 2001) vermittelt den Kindern in spielerischer, motivierender Form die Fähigkeit zu reimen, Wörter in Silben zu segmentieren, Silben zu Wörtern zu synthetisieren, Wörter hinsichtlich ihrer Länge zu vergleichen, An- und Auslaute von Wörtern zu identifizieren, Laute zu Wörtern zu synthetisieren und Wörter in Laute zu segmentieren. In der EG 2 und EG 3 wird im zweiten Schulhalbjahr (Februar - Juni 2012) ein Training der automatisierten Worterkennung auf sublexikalischer Ebene durchgeführt (Mayer 2009). Dabei lernen die Kinder die in der deutschen Orthografie am häufigsten vorkommenden Buchstabenfolgen isoliert und im Wortkontext automatisiert zu erfassen. Die Förderung wird von den Klassenlehrkräften an den Grundschulen im Rahmen des Klassenunterrichts durchgeführt. ermittlung der Therapieeffekte Um die Effekte der beiden Programme auf den Schriftspracherwerb zu evaluieren, werden Mitte und Ende der ersten Klasse sowie Ende der zweiten Klasse die schriftsprachlichen Kompetenzen erfasst. Dabei werden die Lesegeschwindigkeit (Würzburger Leiseleseprobe, Küspert/ Schneider 2011), das Leseverständnis (ELFE 1 - 6, Lenhard/ Schneider 2006) und die orthografischen Kompetenzen (Deutscher Rechtschreibtest für die erste und zweite Klasse, Stock/ Schneider 2008) der Experimentalgruppen, der Kontrollgruppe und der Vergleichsgruppe erfasst. erwartungen Erwartet werden Antworten auf die folgenden Forschungsfragen: 1) Können Lese-Rechtschreibschwierigkeiten Ende der ersten/ zweiten Klasse durch die Erfassung der vorschulischen phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit mit Hilfe von TEPHOBE zuverlässig prognostiziert werden? 2) Lassen sich unterschiedliche Effekte der Interventionsbedingungen auf die Lese-Rechtschreibkompetenzen nachweisen? 3) Hängen die Effekte der unterschiedlichen Trainingsbedingungen vom sprachlich-kognitiven Profil der geförderten Risikokinder ab? Weitere informationen sowie genaue literaturangaben: j.motsch@uni-koeln.de Wechselwirkungen zwischen sozialen ungleichheitslagen: behinderung, Geschlecht, Alter/ lebensphasen - neuer Forschungskomplex an der Tu Dortmund i Überblick über die beteiligten Projekte Im Zuge der pädagogischen Inklusionsforschung und der sozialen Teilhabeforschung ist nicht nur die Entwicklung positiver, demokratisch orientierter Arbeitsansätze gefordert, sondern ebenfalls eine fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen Ungleichheitslagen, die Inklusions- und Teilhabeprozessen entgegenstehen (vgl. dazu Schildmann 2010). In einem neuen Forschungskomplex des Faches „Frauenforschung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung“ der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund werden - unter Leitung von Prof. Dr. Ulrike Schildmann - drei neue Forschungsprojekte durchgeführt: 1. „Umgang mit Heterogenität: Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht in der gesamten Lebensspanne“ Wiss. Mitarbeiter/ in: Dipl. Reha. Päd. Tina Mattenklodt; Wilhelm de Terra, M. Ed.; Drittmittelförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG); Laufzeit: 3 Jahre; 2. „Kinder mit Behinderungen im System der frühkindlichen Bildung“ Wiss. Mitarbeiterin: Dipl. Reha. Päd. Josefin Lotte; Drittmittelförderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF); Laufzeit: 3 Jahre; VHN 1 | 2012 71 Ak Tuelle FOrSCHuNGSPrOJ ek Te 3. „Behinderung und Inklusion in der Lebensspanne: Regionalstudie Dortmund (Behinderung, Geschlecht, kultureller Hintergrund)“ Wiss. Mitarbeiterin: Dipl. Reha. Päd. Sarah Saulheimer; Förderung als Qualifikationsstelle zum Zweck der Promotion durch die Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund; Laufzeit: 2 Jahre (mit Verlängerungsmöglichkeit). Das DFG-Projekt (Nr. 1) ist mit der Zielsetzung angetreten, eine grundlagenorientierte, makro-/ meso-perspektivische Erforschung der Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht in der gesamten Lebensspanne zu leisten und bedient sich deshalb methodisch statistischer Sekundäranalysen und Experten-Interviews. In zwei großen Untersuchungsabschnitten „Kindheit und Jugend“ sowie „frühes, mittleres und spätes Erwachsenenalter“ soll untersucht werden, n welche Mechanismen dazu führen, dass Behinderung in den einzelnen - stark institutionell geprägten - Lebensabschnitten je unterschiedliche Definitionen und Schwerpunktsetzungen erfährt und, nicht zuletzt dadurch, unterschiedliche quantitative und qualitative Geschlechterverhältnisse im Allgemeinen und innerhalb der Gruppen der Betroffenen (re-)produziert und n welche Wechselwirkungen zwischen Behinderung, Geschlecht und Alter dabei strukturell sichtbar werden. Flankiert wird das DFG-Projekt durch das BMBF- Projekt (Nr. 2), das, ähnlich wie Ersteres, eine „Sekundäranalyse auf der Grundlage amtlicher Statistiken und ausgewählter Surveydaten“ (Untertitel des Projektes) zum Inhalt hat und - ganz konzentriert auf einen kleinen, aber wichtigen Lebensabschnitt - das Vorschul- und Kindergartenalter untersucht: n Welche Formen von Behinderung treten im Vorschulalter auf? n Wie viele behinderte Kinder werden in welcher Form im System der frühkindlichen Bildung betreut bzw. von diesem ausgeschlossen? n Welche quantitativen Geschlechterverhältnisse werden unter den behinderten Kindern in diesem Lebensabschnitt sichtbar? Während also das BMBF-Projekt einen ausgewählten Altersausschnitt fokussiert und auf diese Weise Überschneidungen mit dem DFG-Projekt herstellt, fokussiert das dritte (Qualifikations-)Projekt, wie das DFG-Projekt, Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht in der gesamten Lebensspanne, allerdings nicht auf der übergreifenden gesamtgesellschaftlichen Ebene, sondern ist dezidiert als Regionalstudie angelegt. Denn: „Mit der Forderung nach Inklusion gewinnt die Teilhabeplanung auf der örtlichen Ebene eine neue Bedeutung.“ (Rohrmann 2009, 147) Überschneidungen methodischer Art ergeben sich hier im Bereich statistischer Analysen und Bestandsaufnahmen, aber besonders auch auf dem Gebiet von Experten-Interviews. Wenn es bei allen drei Projekten nicht nur um empirische Forschungsperspektiven gehen soll, sondern ebenso auch um theoretische Reflexionen und Grundlagenarbeit, dann sehen wir die bestehenden Ansätze der Intersektionalitätsforschung (vgl. exemplarisch Winker/ Degele 2009; Lutz u. a. 2010) als eine Herausforderung an, die darin besteht, den in der allgemeinen sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung geführten Diskurs über Intersektionalität um eine systematische Verortung der Verhältnisse zwischen den Strukturkategorien Geschlecht und Behinderung zu erweitern, die bislang noch einige Unklarheiten birgt. ii Vorstellung einer Pilotstudie zum dargestellten Forschungskomplex Im Vorfeld des genannten DFG-Projektes wurde eine Pilotstudie durchgeführt. Dana-Kristin Marks (vgl. Marks 2011) untersuchte differenziert, wie und von wem bestimmte Jungen und Mädchen bereits vom Lebensanfang an als behinderte Kinder identifiziert, definiert und behandelt werden. Sie zeigt, dass die Konstruktionen von Behinderung in den ersten Lebensjahren eine rasante Dynamik enthalten: n Die mit den Konstruktionen von Behinderung befassten Professionen/ Berufsgruppen - Mediziner, Psychologen/ Therapeuten, Pädagogen - sind an den Definitionsprozessen in unterschiedlicher Weise und Reihenfolge be- VHN 1 | 2012 72 Ak Tuelle FOrSCHuNGSPrOJ ek Te teiligt; am Lebensanfang haben eindeutig Mediziner die Definitionsmacht, während mit zunehmender Relevanz der vorschulischen und schulischen Bildung die Definitionsmacht an Pädagogen/ Pädagoginnen übergeht, allerdings weiterhin unter Beteiligung von Medizinern. n In diesem Zusammenhang ist auch eine auffällige Dynamik in der Zusammensetzung der als behindert definierten Kinder nach gesundheitlichen Schädigungsbzw. sogenannten Behinderungsarten zu verzeichnen. Stellen am Lebensanfang sogenannte „übergreifende Behinderungen“ und „Körperbehinderungen“ die eindeutige Mehrheit aller Diagnosen dar, so ändert sich die Zusammensetzung der Behinderungskategorien bis zum Schuleintritt radikal: Geistige Behinderungen stellen am Lebensanfang weniger als 1 %, bei Schuleintritt 19 % aller diagnostizierten Behinderungen dar. Und Lernbehinderungen, mit denen im Wesentlichen die „Schulversager/ innen“ der allgemeinen Schulen bezeichnet werden, existieren als solche weder vor noch nach der Schulzeit, sondern dienen als schulimmanente Konstruktion. n Mit der beschriebenen Dynamik innerhalb des Konstruktionsprozesses von Behinderung (als Abweichungsform von der durchschnittlichen kindlichen Entwicklung) geht schließlich eine nicht zu übersehende Dynamik der Geschlechterkonstellationen unter den betreffenden Kindern einher: Wird am Lebensanfang bei Jungen nur eine leicht erhöhte Betroffenheit von Krankheit und gesundheitlichen Auffälligkeiten festgestellt (Jungen knapp 55 %, Mädchen etwa 45 %), so beträgt der Jungenanteil unter den Kindern, die im Kindergartenalter wegen einer Behinderung „soziale Eingliederungshilfe“ erhalten, bereits etwa 2/ 3 gegenüber 1/ 3 Mädchen. Die Analyse weist damit differenziert nach, dass das unausgewogene Geschlechterverhältnis unter den behinderten Jungen (2/ 3) und Mädchen (1/ 3) kein schulspezifisches Phänomen ist, sondern sich schon im Laufe der ersten sechs bis sieben Lebensjahre entwickelt. Weitere informationen und literaturangaben können eingeholt werden bei: ulrike.schildmann @tu-dortmund.de evaluation von vollzeitbetreuten Wohnhäusern als beitrag zur Qualitätsentwicklung Julia Gererstorfer, elfriede ederer, barbara Gasteiger klicpera karl-Franzens-universität Graz In einem Kooperationsprojekt mit der alpha nova Betriebsgesellschaft mbH werden in der Steiermark drei vollzeitbetreute Wohneinrichtungen für Menschen mit hohem und höchstem Hilfebedarf evaluiert. Die Zielsetzung der Untersuchung besteht in der Evaluation der individuellen Entwicklungsplanung, des Umgangs mit herausforderndem Verhalten sowie der Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner. Theoretischer Hintergrund Lebensqualität ist ein mehrdimensionales Konstrukt und umfasst physisches, emotionales und materielles Wohlbefinden, zwischenmenschliche Beziehungen, persönliche Entwicklung, soziale Inklusion, Selbstbestimmung und Rechte (Seifert 2008). Insbesondere Aspekte wie Entwicklungsplanung und Umgang mit herausforderndem Verhalten tragen zur Erhöhung der Lebensqualität bei. Die Entwicklungsplanung ist ein Instrument, mit dessen Hilfe Menschen mit geistiger Behinderung bei der Entfaltung und Umsetzung individueller Ziele begleitet werden. Die Ziele der einzelnen Personen, die im Rahmen der Entwicklungsplanung erarbeitet werden können, reichen vom Erlernen und Aufrechterhalten von Alltagskompetenzen bis hin zum Ziel, in eine weniger betreute Wohnform umzuziehen. Die Dialogische Entwicklungsplanung nach Bensch und Klicpera (2000) orientiert sich an den drei Säulen Selbstbestimmung, Lebensstil und Case Management. Menschen mit schweren oder mehrfachen Behinderungen weisen dreibis fünfmal häufiger als andere ein Verhalten auf, das für die Umgebung schwierig zu handhaben ist. Als mögliche Ursachen gelten ein Mangel an alternativen Aus- VHN 1 | 2012 73 Ak Tuelle FOrSCHuNGSPrOJ ek Te drucksmöglichkeiten bzw. Verhaltensweisen, Schwierigkeiten in der Emotionsregulation, ungünstige Sozialisation oder unpassende aktuelle Lebensbedingungen (Bensch/ Klicpera 2000). Für den Umgang mit herausforderndem Verhalten werden betreuer/ innen-, klient/ innen- und umfeldbezogene Maßnahmen empfohlen, welche auf eine Erhöhung der Lebensqualität abzielen und den individuellen Lebensstil berücksichtigen (Heinrich 2005). Ziel und Fragestellungen Das Ziel der vorliegenden Untersuchung besteht darin, mit Hilfe von Maßnahmen der Qualitätsentwicklung zur Verbesserung der Zielplanungsarbeit und des Umgangs mit herausforderndem Verhalten beizutragen. Weiter werden durch die explorative Vorgehensweise Einblicke in den Schwerbehindertenbereich gegeben und vorhandene theoretische Modelle hinsichtlich ihrer Praxistauglichkeit geprüft. Zentrale Fragestellungen: n In welchem Ausmaß werden Kriterien der Selbstbestimmung erfüllt? Wie ist die Lebenszufriedenheit der Bewohnerinnen und Bewohner einzuschätzen? n Wie erfolgt eine nonverbale Bedürfniserhebung? Werden Ziele überprüfbar formuliert? n In welchem Ausmaß spielt herausforderndes Verhalten im Wohnalltag eine Rolle? Wie wird im Team damit umgegangen? Ist eine Reduktion des herausfordernden Verhaltens möglich? Methode Die Stichprobe der Untersuchung setzt sich zusammen aus den Bewohnerinnen und Bewohnern (n = 36) der Wohnhäuser, ihren Hauptbezugsbetreuer/ innen (n = 28) und Angehörigen bzw. gesetzlichen Vertreter/ innen (n = 12). Da ein Großteil der Bewohnerinnen und Bewohner nonverbal kommuniziert bzw. es aufgrund der intellektuellen Behinderung schwierig ist, ein Interview mit ihnen zu führen, wurden zusätzlich zu leitfadengestützten Interviews alternative Untersuchungsverfahren angewandt, wie die teilnehmende Beobachtung (ca. 360 Stunden) und die Dokumentenanalyse (Verlaufsdokumentation, Jahreszielplanung, Jahresentwicklungsbericht). Vorläufige ergebnisse lebensqualität Aufgrund der positiven objektiven Lebensbedingungen und der wahrgenommenen subjektiven Zufriedenheit der Bewohnerinnen und Bewohner wird deren Lebensqualität als relativ hoch eingeschätzt. Vor allem die Einbeziehung in den Alltag und in Entscheidungsprozesse, die Kleingruppen von Vier-Personen-Wohngemeinschaften und eigene, individuell gestaltbare Zimmer werden als Positivbeispiele hervorgehoben. entwicklungsplanung Es wird in den Wohnhäusern nach einer ausgearbeiteten Vorlage vorgegangen, welche sich an der dialogischen Entwicklungsplanung nach Bensch und Klicpera (2000) orientiert. Gespräche mit den Bewohnerinnen und Bewohnern über deren Ziele sind nur sehr eingeschränkt möglich. Bei Bewohner/ innen, die ihre Ziele, Wünsche und Bedürfnisse ausdrücken können, erfolgen meist wiederholte Gespräche während des Jahres. Ansonsten orientieren sich die Betreuer/ innen an den bisherigen Jahresplanungen, an jahrelangen Erfahrungen mit dem/ der jeweiligen Bewohner/ in und an Beobachtungen, wie die Bewohner/ innen auf Angebote reagieren. Schließlich werden drei bis fünf Grobziele formuliert. Diese umfassen häufig organisatorische Punkte, wie die medizinische Versorgung oder den Urlaub, welche mit Zeitrahmen und Zuständigkeit genau geplant werden. Die übrigen Ziele richten sich großteils auf Alltagskompetenzen und sind in Maßnahmen und Kriterien teils ungenau beschrieben. Hier wäre beispielsweise eine Unterteilung der Grobziele in mehrere Teilziele und eine genaue Angabe messbarer Kriterien (z. B. Festlegung genauer Tage für Einzelaktivitäten, Häufigkeit des Geschirrabräumens) denkbar. Als wichtige Ressource für die Evaluierung und Weiterentwicklung der Ziele nennen die Betreuer/ innen die Verlaufsdokumentation und den ständigen Austausch mit Mitarbeiter/ innen. Die VHN 1 | 2012 74 Ak Tuelle FOrSCHuNGSPrOJ ek Te Evaluierung erfolgt eher beschreibend, da keine Kriterien vorhanden sind, anhand derer Situationen bewertet werden können. Die Betreuer/ innen sind teilweise intensiv mit Pflege- und Alltagstätigkeiten (Hygiene, Einkauf, Kochen) beschäftigt, sodass für pädagogische Tätigkeiten oder eine eingehende Beschäftigung mit den Bewohnerinnen und Bewohnern kaum Zeit bleibt. Aus diesem Grund werden die Jahresplanungen und Evaluierungen von den Betreuer/ innen teilweise während der Freizeit verfasst. Wegen Zeitmangels finden Evaluierungen nicht wie vorgesehen quartalsmäßig, sondern oftmals gemeinsam mit dem Jahresendbericht statt. Daher bleiben Ziele häufig das ganze Jahr über gleich und es erfolgt keine Anpassung während des Jahres. Hier wäre es erstrebenswert, ein Modell zu finden, das den Zeitaufwand für die Evaluierung minimiert. Herausforderndes Verhalten Der Umgang mit herausforderndem Verhalten gehört für die Betreuer/ innen zum Arbeitsalltag. Vorrangig spielen autoaggressives Verhalten, verbale Aggressionen und lautes Schreien eine wesentliche Rolle. Fremdaggressives Verhalten richtet sich eher gegen Betreuer/ innen und wird von diesen zumeist als Reaktion auf für den/ die Bewohner/ in unangenehme Anforderungen gedeutet. Auch die Lärmbelastung durch Mitbewohner/ innen wird als Störfaktor wahrgenommen, welcher als Auslöser von aggressiven Ausbrüchen betrachtet wird. Als sonstige Auslöser gelten Unruhe in der Gruppe, Konflikte zwischen Betreuer/ innen und anderen Bewohner/ innen und körperliches Unwohlsein. Oftmals bleiben die Ursachen für das Auftreten herausfordernden Verhaltens jedoch ungeklärt, was ein präventives Vorgehen erschwert. Als erfolgreiche Präventionsstrategien werden Gespräche über Stimmungslagen, Vermeidung bestimmter Bewohnerkonstellationen, Schaffung von Freizeitangeboten und die vorzeitige Vorbereitung auf neue Situationen genannt. Positiv anzumerken ist, dass vor allem langjährige Betreuer/ innen einen deutlichen Rückgang aggressiven Verhaltens in Intensität und Häufigkeit über die Jahre hinweg bemerken. Als Gründe dafür werden strukturelle Rahmenbedingungen wie die Kleingruppen und das eigene Zimmer als Rückzugsort angeführt, aber auch gezielter Beziehungsaufbau, der durch ausreichende Personalressourcen möglich war. Ausblick Im Herbst 2011 fand eine Rückspiegelung der Ergebnisse statt. Gemeinsam mit Betreuer/ innen werden diese im Zusammenhang mit bestehenden Modellen für die Entwicklungsplanung und den Umgang mit herausforderndem Verhalten diskutiert und an die besonderen Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner im Schwerbehindertenbereich angepasst. Weitere informationen und literaturangaben können eingeholt werden bei julia.gererstorfer@ uni-graz.at
