Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Das provokative Essay: Integration gegen Behinderungen, Allgemeine Pädagogik für Alle - Bedingungen für ein Inklusives Gemeinwesen!
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Peter Rödler
Der Zeitgeist ist bestimmt durch einen unverbindlichen Individualismus. In diesem Zeitgeist paart sich das „Glück der meisten“ mit dem maximal effektiven Funktionieren des Individuums. Diese (Selbst-)Entwertung bildet den Hintergrund der aktuellen Diskussionen um die Inklusion. Dieser „Dialog“ ist gekennzeichnet durch konfrontativ-rekursives Reklamieren der je eigenen Standpunkte. Demgegenüber entwirft der vorliegende Text eine anthropologische Grundlegung eines inklusiven Gemeinwesens, das sich durch die Basierung einer jeglichen individuellen Entwicklung durch Selbstvertretung im Sozialen radikal dem vorhandenen Diskurs entgegenstellt. Erst auf dieser Basis ist eine wirklich Allgemeine Pädagogik ohne Rest formulierbar! Ein entsprechend radikaler Wechsel bedeutet innerhalb unserer Gesellschaft eine (Kultur-)Revolution, die angesichts der vorhandenen ökonomisch-sozialen Prozesse nicht einmal erahnbar ist. In dieser Realität entsteht NOT-wendig die Forderung nach Integration gegenüber Behinderungen von Menschen. Diese Behinderungen – in der Regel Ausschlussprozesse - bilden in der aktuellen Gesellschaft allerdings einen Teil ihrer Grundlage. Die Forderung nach einem Systemwechsel im beschriebenen Sinn wird damit zu einem konstitutiven Teil einer sich selbst gegenüber ehrlichen Inklusionsforderung.
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VHN 2 | 2012 93 Integration gegen Behinderungen, Allgemeine Pädagogik für Alle - Bedingungen für ein Inklusives Gemeinwesen! Peter Rödler Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz Zusammenfassung: Der Zeitgeist ist bestimmt durch einen unverbindlichen Individualismus. In diesem Zeitgeist paart sich das ‚Glück der meisten‘ mit dem maximal effektiven Funktionieren des Individuums. Diese (Selbst-)Entwertung bildet den Hintergrund der aktuellen Diskussionen um die Inklusion. Dieser ‚Dialog‘ ist gekennzeichnet durch konfrontativ-rekursives Reklamieren der je eigenen Standpunkte. Demgegenüber entwirft der vorliegende Text eine anthropologische Grundlegung eines inklusiven Gemeinwesens, das sich durch die Basierung einer jeglichen individuellen Entwicklung durch Selbstvertretung im Sozialen radikal dem vorhandenen Diskurs entgegenstellt. Erst auf dieser Basis ist eine wirklich Allgemeine Pädagogik ohne Rest formulierbar! Ein entsprechend radikaler Wechsel bedeutet innerhalb unserer Gesellschaft eine (Kultur-)Revolution, die angesichts der vorhandenen ökonomisch-sozialen Prozesse nicht einmal erahnbar ist. In dieser Realität entsteht NOT-wendig die Forderung nach Integration gegenüber Behinderungen von Menschen. Diese Behinderungen - in der Regel Ausschlussprozesse - bilden in der aktuellen Gesellschaft allerdings einen Teil ihrer Grundlage. Die Forderung nach einem Systemwechsel im beschriebenen Sinn wird damit zu einem konstitutiven Teil einer sich selbst gegenüber ehrlichen Inklusionsforderung. Schlüsselbegriffe: Individualismus, Zeitgeist, Anthropologie, Integration, Systemwechsel Integration Against Disabilities, General Education for All - Conditions for an Inclusive Community Summary: The zeitgeist is determined by a non-binding individualism. The happiness of the majority is coupled with the most effective functioning of the individual. This (self-) devaluation is the background of the current discussions about inclusion. The “dialogue” is marked by a recursive-confrontational claim of one’s own viewpoints. The article develops an anthropological foundation of an inclusive community, which is characterised by the self-advocacy of every individual in its social context. This position is diametrically opposed to the current discourse. A real general education can only be defined on this anthropological basis. Such a radical change implies a (cultural) revolution in our society. This reality leads necessarily to the demand for the integration of the disabilities of individuals. These disabilities - generally processes of social exclusion - form in this society a part of its basis. Thus, the request for a system change becomes a constitutive part of an honest demand for inclusion. Keywords: Individualism, zeitgeist, anthropology, integration, system change DAS PRovoK AtIvE ESSAy VHN 2 | 2012 94 Peter rödler Integration gegen Behinderungen, Allgemeine Pädagogik für Alle DAS PRovoK AtIvE ESSAy Wir leben in einem ‚Goldenen Zeitalter‘! n Die Inklusion hat sich durchgesetzt und wurde mit der Akkreditierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland weltrechtlich verbindlich. n Mit der Abschaffung der Begriffe Behinderung, Behinderte, Förderbedarf usw. findet keine Aussonderung mehr statt, Integration ist folglich kein Thema mehr! n Alle Menschen werden in ihrer Individualität anerkannt, kulturelle Differenzen sind Grundlagen zu spannenden Lernprozessen. … Paradiesische Verhältnisse! … Irritierend in dieser Welt ist dann aber n die Gründung einer ‚Interessengemeinschaft Pro Förderschule‘, n die detaillierte Begründung in bildungspolitischen Stellungnahmen, dass die Verwirklichung von Inklusion in den vorhandenen Sonderinstitutionen repräsentiert ist bzw. nur durch eine Ausweitung von Sonderpädagogik zu erreichen ist, n die Aussage in einer „Panorama“-Sendung (ARD, Panorama 2010) aus dem Kampf gegen eine Verlängerung der gemeinsamen Regelschulzeit von vier auf sechs Jahre, „… dass ein Arbeiterkind mit dem Kind eines Vorstandsvorsitzenden zusammen am Nachmittag spielt und davon profitiert, mag zwar manchmal funktionieren, aber in der Regel wird das nicht der Fall sein …“, n aus derselben Sendung: „Weil wir dafür sind, dass die Kinder früher separiert werden. …“, und zu schlechter Letzt: n der Aufmacher des HR zu einem Video über eine Talkrunde mit Peter Singer: „Ist wirklich jedes Leben gleich wert? Das Leben eines Embryos ebenso wie das Leben einer dreifachen Mutter, das Leben eines Wirtschaftsbosses ebenso wie das Leben eines mehrfach Behinderten? “ (HR Hessischer Rundfunk 2011) Die realen Verhältnisse zeigen sich hier als völlig ‚uninklusiv‘! Im Gegenteil, sie scheinen bis in den Lebenswert hinein konkurrent wertend! Unter dem Eindruck dieser Realität erscheint der Hype um die Überwindung der Integration durch Inklusion wie ein Nebel aus halluzinogenem rosa Gas, der - gewollt oder ungewollt - den Blick auf diese Realität verbaut, letztlich das betreibt, was Basaglia als ein ‚Befriedungsverbrechen‘ geißelte! (Basaglia 1980) Zwei Extrempositionen stehen sich hier unvermittelt gegenüber: Zum einen Vertreter der Sonderpädagogik, die das Recht auf individuelle ‚angemessene‘ Förderung als Voraussetzung möglichst weitgehender gesellschaftlicher Integration behaupten und die selbst die tatsächliche ‚Regelkarriere‘ in Sonderinstitutionen noch als Ausdruck des gesellschaftlich ‚Besten‘ für diese Klientel bezeichnen würden. Und zum anderen Vertreter der Inklusion, die ein pures ‚Recht auf Inklusion‘ reklamieren, ohne die äußeren Bedingungen hierfür zu benennen, und die jegliches Benennen besonderer pädagogischer Aufgaben ablehnen, was im Falle von schwer beeinträchtigen Menschen entweder zu einer Inkonsequenz in der Argumentation oder aber - häufiger - zu einem Ignorieren dieser Gruppe und damit zur impliziten Erzeugung eines ‚Rests‘, eines ‚harten Kerns‘ nicht inkludierbarer Menschen führt. Ich möchte einen dritten Weg entwerfen. Das Problem beider dargestellten Extrempositionen ist die Dominanz des individuellen Blicks. Dieser entwirft das Individuum als eine monadische, voraussetzungslose, letztlich asoziale Einzigartigkeit. Pervers gewendet könnte man sagen: Hier ist Inklusion total, weil alle von allen separiert sind. Das Verständnis der konstitutiven Bedeutung des Sozialen als Voraussetzung und Bedingung für jegliche Entwicklung von allen Menschen geht dabei verloren, obwohl gerade dieses eigentlich die anthropologische Basis der Inklusionsforderung darstellt! VHN 2 | 2012 95 Peter rödler Integration gegen Behinderungen, Allgemeine Pädagogik für Alle DAS PRovoK AtIvE ESSAy Inklusion erschöpft sich eben nicht in Akzeptanz, Anerkennung, Individualisierung und Binnendifferenzierung mit etwas flankierenden sozialen Beigaben! Im Gegenteil steht eine überschießende Individualisierung der Inklusion sogar entgegen! Inklusion auf der Basis eines Menschenverständnisses, das Menschen ausnahmslos als sozial begreift, heißt dagegen: die Gestaltung eines sozialen Raumes als Lebens-, Entwicklungs- und Lernraum, in dem sich Teilhabe dadurch realisiert, dass die Vielfalt der Beteiligten nicht nur akzeptiert, sondern existenzielle Grundlage der Entwicklung aller Beteiligten ist! Erst eine Allgemeine Pädagogik, die in ihren Grundlagen diese allgemeine Aufgabe berücksichtigt, ohne sie als Sonderpädagogik auszugliedern, kann der Inklusionsforderung also wirklich gerecht werden. Geschieht dies nicht, so entsteht ein ‚Rest‘, auf den das Menschenrecht der Inklusion offensichtlich nicht anwendbar zu sein scheint. Der Schritt zum Bezweifeln des Lebenswertes (vgl. z. B. Singer 1994) ist dann gar nicht mehr weit. Wenn ‚Selbstbestimmung‘ zur zentralen, voraussetzungslosen Kategorie wird, ist ein Präferenzutilitarismus, wie ihn Singer entwirft, ebenso logisch das Mittel der gesellschaftlichen Wahl wie die Tatsache, dass Menschen, denen der Ausdruck von Selbstbestimmung konventionell nicht gelingt, aus dem ethischen Rahmen einer so organisierten Gesellschaft herausfallen! Im Spiegel der Arbeit mit Menschen, die traditionell diesem ‚harten Kern‘ zugerechnet werden, wird dagegen eine Notdurft sichtbar, die eben nicht nur diesen, sondern allen Menschen eigen ist: gemeint ist die Abhängigkeit ihres Lebens, ihrer Entwicklung, ja auch ihrer Autonomie vom Einfluss anderer Menschen. Der Mensch, das ‚Zoon politikon‘, ist in jedem Fall auf Hilfe anderer angewiesen (vgl. Rödler 2000). Eine voraussetzungslos gedachte Individualität ist im Spiegel dieser Überlegungen ein Biologismus, der den Umschlag der Aufklärung in ihr Gegenteil markiert. Eine vertieft gedachte Allgemeine Pädagogik hat sich der Verführung dieses Reduktionismus zu entziehen. Sie muss auf der Basis des Wissens und der Erfahrung aus der Arbeit mit den außergewöhnlichsten Menschen Erkenntnisse um das Allgemeine so anreichern und erweitern, dass es allen zugute kommt. So entsteht mit dem Entwurf einer Allgemeinen Pädagogik auch ein neues, in der Anthropologie gründendes pädagogisches Theorie-Praxis-Verhältnis, das von Buber - wie ich meine, unvergleichlich - als ‚Vergegenwärtigung‘ wie folgt beschrieben wird: „Und das ist noch nicht genug: seine Reflexion berücksichtigt ebenso den erinnerten Anteil von anderen Menschen in den gemeinsamen Situationen, berücksichtigt die erinnerte Beziehung von der einen und der anderen Seite. In solch einer integrierenden Vergegenwärtigung von humaner Existenz wird sein Wissen um das, was der Mensch und nur der Mensch ist, immer vollständiger.“ (Martin Buber in Rome 1964, 59. Zur ausführlichen anthropologischen Begründung vgl. Rödler 1993; 2000) Bildungsprozesse verstehen sich hier als eine wechselweise Teilhabe an der Welt des Anderen, der mit seiner differenten Perspektive die eigene störend erweitert! Selbstverständlich kann es hierbei auch um das Teilen von Wissen oder funktionellen Kompetenzen gehen. Wesentlich ist und bleibt aber, dass der zentrale Ansatzpunkt bei dieser Wechselwirkung immer ein gemeinsamer Bedeutungsraum ist, in dem sich die Beteiligten mit ihren jeweilig unterschiedlichen Sinnbildungsprozessen wiederfinden können. Dass dieses seit der Reformpädagogik immer wieder beschworene Setting eben nicht die ‚Kuschelnische‘ von romantischen ‚Gutmenschen‘ darstellt, sondern eine wesentliche Bedingung erfolgreicher Pädagogik beschreibt, wird in neuerer Zeit VHN 2 | 2012 96 Peter rödler Integration gegen Behinderungen, Allgemeine Pädagogik für Alle DAS PRovoK AtIvE ESSAy von der neurobiologischen Forschung überzeugend gezeigt (vgl. z. B. Damasio 2006; Roth/ Grün 2006; Singer, W. 2002). Eine ‚output-orientierte‘ Steuerung von Bildungsprozessen, wie heute auf allen Ebenen durchgesetzt, ist deshalb bildungswirksam nicht möglich. Die funktionelle Rationalisierung von Pädagogik auf vorbestimmte Effekte hin, die die Freiheit der Akteure letztlich auf den Weg zum gesetzten Ziel beschränkt, verhindert mit dem bildenden individuellen Ringen um gemeinsame Bedeutung und persönlichen Sinn das, was sie zu optimieren vorgibt. Erst die Rückkehr zu einer ‚input-orientierten‘ Steuerung von Bildungsprozessen schafft wieder den Raum für bildendes und damit nachhaltiges, weil über den persönlichen Sinn stabilisiertes Lernen! Natürlich wird auch in diesem Steuerungsmodell um die Finanzierung von Bildungsinhalten und -strukturen im Allgemeinen (! ! ! ) gestritten, die ausgehandelten Ressourcen werden aber im Vertrauen auf die Verantwortung der Akteure diesen letztlich im gesetzten breiten Rahmen zur freien Verfügung gegeben. Die für humane Bildungsprozesse konstitutive Dialektik wäre hier aufgehoben zwischen der Allgemeinheit eines so inklusiven je zeitgemäß errungenen inhaltlichen Bildungsangebots (input) für alle und der je konkret spezifischen Realisierung des Bildungsangebots an verschiedenen Orten mit verschiedenen Menschen. Inklusion zeigt sich dabei in dem wertschätzenden Umgang mit Differenzen innerhalb des Bildungssystems im weitesten Sinne, da diese hier nicht als Störungen wirken, sondern für die nachhaltige Wirkung der lebendigen Prozesse grundlegenden Charakter erhalten. Ein inklusives Bildungssystem beweist sich darin, dass alle Schüler im Mikrosystem Klasse mit ihrer Eigen-Art ebenso aufgehoben sind, wie das Mikrosystem Klasse im Mesosystem Schule aufgehoben ist und dieses wiederum in einem übergeordneten Unterstützungssystem, das in der Lage ist, auftauchende Probleme zu analysieren und durch Kompetenz- und Ressourcen-Input beseitigen zu helfen. Hier zeigt sich ein deutlicher Wandel von einer Kontroll- und Misstrauenskultur, in der sich ‚Intelligenz‘ alleine nur noch im Erfinden von Werkzeugen und Problemlösungen zeigen kann, hin zu einer Kultur, die der menschlichen Spezifik, aus ihrer biologischen Unbestimmtheit und der hieraus entstehenden Bedeutungs-Notdurft heraus individuell wie als Gattung der Welt eine symbolische Haut zu verleihen und damit die vielfältige Kreativität menschlicher Kultur zu entfalten Raum gibt. Erst die Bereitschaft, die Inklusion so als eine Chance für das Gesellschaftssystem als Ganzes zu begreifen und Verantwortung wieder sozialisiert und nicht individualisiert zu realisieren, gibt der Vision der Inklusion eine echte Chance, bedeutet aber letztlich einen realen gesellschaftlichen Systemwechsel, da in einer solchen Gesellschaft des Gemeinsinns alle Prozesse, also auch die Wirtschaft, in diese Gesamtverantwortung mit einbezogen gedacht werden müssten. Werfen wir deshalb noch einen weiteren Blick auf die Wirtschaft. Hier fällt auf, dass im gleichen Maße, wie die Beziehungen der Menschen in dem beschriebenen Sinn funktionalisiert wurden, die Wirtschaft selbst sich mit der Finanzwirtschaft einen Raum schuf, der das durch Sättigungsprozesse begrenzte Wachstum im realen Markt durch seine Virtualität überwand! Hier herrscht bis heute ein nur marginal kontrolliertes und beschränktes ‚everything goes‘. Finanzanlagen wandelten sich von realen Anteilen an Unternehmen hin zu Anteilen an Hoffnungen, Visionen, Gefühlen. ‚Begrün- VHN 2 | 2012 97 Peter rödler Integration gegen Behinderungen, Allgemeine Pädagogik für Alle DAS PRovoK AtIvE ESSAy dungen‘ von modernen Anlagen wie: „Obendrein gilt der Geschlossene Fonds, wie das Sparbuch, als langweiliges Produkt, als wenig ,sexy‘“ (Pfeiffer 2011), „Biotechfonds - einst sexy, heute vergessen? “ (Wieking 2011) oder „Investment für Anleger mit Fantasie“ (FTD 2011) zeigen diese Prozesse durchweg als symbolische Akte. ‚Beunruhigte‘ Märkte können ganze Staaten in den Ruin treiben, wobei Finanzinstitute auf dem Weg dahin gute Gewinne machen können. Der Risikofall wird dann im Zweifel sozialisiert. Wenn man bedenkt, dass es hierbei um Kapitalvolumina in der Größenordnung des Bruttosozialprodukts ganzer Staaten geht, kann festgestellt werden, dass ‚wir‘ - d. h. die Gesellschaft - uns mit der Finanzwirtschaft durchaus ‚kulturelle Werte‘ - d. h. Werte, die durch nichts repräsentiert sind als durch unsere Wertschätzung - leisten! Ja wir setzen zur Zeit praktisch unsere gesamte Wirtschaftskraft und auch noch einen Großteil der unserer Kinder dafür ein, diesen immateriellen, virtuellen kulturellen Spielraum zu erhalten. Achtung! Auch das ist eine Folge der oben skizzierten Anthropologie! Menschen handeln immer symbolisch, d. h. nie vollständig konkret. Und dieses ‚Mehr‘ war ihnen immer auch etwas wert, von den ersten Höhlenzeichnung über Michelangelo, den Generationen dauernden Kirchenbauten bis zu Cage und Beuys. Dieses ‚Mehr‘ macht die Menschenwelt in ihrer spezifischen gestalterischen Vielfalt aus! Allerdings fand dieser symbolische Bereich bisher innerhalb der Gesellschaft zwischen den Menschen statt, war Bedeutungsträger von Kommunikation und Identifikation, repräsentierte Tradition, Erneuerung oder Umsturz. Mit der im ersten Teil angegriffenen funktionellen Entsymbolisierung menschlicher Beziehungen ist diese Seite also nicht verschwunden, sondern realisiert sich heute im Bereich des Finanzmarktes! Wäre es nicht an der Zeit, diesen Prozess umzudrehen? Wäre es nicht Zeit, darauf zu bestehen, staatlich nur noch in reale Wirtschaft oder in die den Menschen existenzielle Symbolik der Kultur menschlicher Begegnung als gemeinsame Lebensgrundlage ALLER Menschen zu investieren? Eine besondere Chance bilden hier Bildungsausgaben, die doppelt wirksam werden: Zum einen konkret als Verbesserung der Infrastruktur des realen Marktes im Sinne qualifizierterer Akteure. Zum anderen durch die Qualifizierung der symbolischen Austauschprozesse zwischen den Menschen, denn Inklusion bedeutet Wertschätzung der Kultur schaffenden Bedeutung der Sinnhaftigkeit ALLER Menschen im Austausch mit Anderen. Inklusion ist da möglich, wo wir bereit sind, wieder so mit Menschen umzugehen, wie wir heute mit Aktien umgehen: Visionen und Hoffnungen zu entwickeln, grundsätzlich auf Wachstum zu vertrauen und deshalb unsere ganze Wirtschaftskraft auf die Menschen und ihre Entwicklung zu richten. Die reale Wirtschaft würde so auf den konkreten Markt beschränkt, abgeschnitten vom Liquiditätsentzug der Finanzwirtschaft gesunden und ihren Gesellschaftsbeitrag zu leisten imstande sein, während die Akteure der Finanzwirtschaft mit ihrem Erfindungsreichtum für virtuelle Lösungen und Produkte vielleicht über Minijobs im Rahmen einer Agenda 2020 als Zahlenkünstler, Gaukler oder Magier einen nicht nur ihnen, sondern auch der Gesellschaft dienlichen Platz finden könnten. Literatur Ard, Panorama (2010): Kampf um Schulreform: eliten wollen unter sich bleiben. Online unter: http: / / daserste.ndr.de/ panorama/ media/ panorama408.html (Sendung vom 25. 2. 2010), 29. 11. 2011 VHN 2 | 2012 98 Peter rödler Integration gegen Behinderungen, Allgemeine Pädagogik für Alle DAS PRovoK AtIvE ESSAy Basaglia, F. (1980): Befriedungsverbrechen. Über die dienstbarkeit der Intellektuellen. Frankfurt a. M.: europäische Verlagsanstalt damasio, A. (2006): Ich fühle, also bin ich - die entschlüsselung des Bewusstseins. Berlin: list Ftd (2011): Investment für Anleger mit Fantasie. Online unter: http: / / www.ftd.de/ finanzen/ alternativen/ : fonds-check-investments-fueranleger-mit-fantasie/ 60126733.html. 29. 11. 2011 Heimlich, U. (2011): Inklusion und Sonderpädagogik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 62 (2), 44 -55 Hr Hessischer rundfunk (2011): Mediathek Horizonte: leben ist nicht gleich leben - oder? Sendung vom 11. 6. 2011 Pfeiffer, e. (2011): Geschlossene Immobilienfonds. Online unter: http: / / www.stalys.de/ data/ imagegeschlossenerimmobilienfonds3.htm. 29. 11. 2011 rödler, P. (1993): Im Zentrum des Menschlichen - ethische Überlegungen zur Arbeit mit schwerst-behinderten Menschen. In: Baudisch, W; Schmetz, d.: Geistige Behinderung und Wege zur differenzierten Förderung. Frankfurt a. M.: diesterweg rödler, P. (2000): Geistig behindert: Menschen lebenslang auf Hilfe anderer angewiesen? Neuwied: luchterhand rödler, P.; Berger, e.; Jantzen, W. (2000): es gibt keinen rest. Weinheim: Beltz rome, S. (1964): Philosophical Interrogations of Martin Buber, John Wild e. a. New York: Holt, rinehart and Winston roth, G.; Grün, K.-J. (2006): das Gehirn und seine Freiheit - Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosphie. Göttingen: Vandenhoeck & ruprecht Singer, P. (1994): Praktische ethik. 2., rev. u. erw. Aufl. ditzingen: reclam Singer, W. (2002): der Beobachter im Gehirn. essays zur Hirnforschung. Frankfurt a. M: Suhrkamp Wieking, K. (2011): Biotechfonds einst sexy heute vergessen. Online unter: http: / / www.fonds web.de/ fww-research/ 102-2011-Biotechfondseinst-sexy-heute-vergessen. 29. 11. 2011 Anschrift des Autors Prof. Dr. Peter Rödler Universität Koblenz-Landau Campus Koblenz Universitätsstraße 1 D-56070 Koblenz Tel.: ++49 (0)2 61 2 87 18 15 proedler@uni-koblenz.de
