Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2012.art05d
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Logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie
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Ulla Beushausen
Im Gesundheitssystem wird eine Evidenzbasierung therapeutischer Maßnahmen als klare gesundheitspolitische Zielrichtung in der Versorgung von Kranken definiert. Die Auswahl eines Versorgungsmittels soll dabei an wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweisen ausgerichtet sein. Unter Evidenz-basierter Praxis (EbP) wird in den Gesundheitsberufen - wie auch der Sprachtherapie - ein Set von Tools verstanden, das in der praktischen Anwendung die wissenschaftlich nachgewiesene Evidenz, das Expertenwissen der Therapeuten und die konkreten Möglichkeiten der Anwendung auf einen spezifischen Fall integriert. Ziel dabei ist es, Forschungsergebnisse und sprachtherapeutische Praxis sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Die sprachtherapeutisch arbeitenden Berufe sind herausgefordert, Stellung zu einer Evidenz-basierten Sprachtherapie zu beziehen, vorhandene EbP-Tools auf Nützlichkeit in ihrem Kontext zu prüfen und gegebenenfalls zu adaptieren oder neue zu entwickeln. Wie der EbP-Ansatz innerhalb der Sprachtherapie umgesetzt und reflektiert wird, ist nicht unerheblich für die Ausrichtung einer sich gerade im deutschsprachigen Raum entwickelnden Sprachtherapieforschung.
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99 VHN, 81. Jg., S. 99 -111 (2012) DOI 10.2378/ vhn2012.art05d © Ernst Reinhardt Verlag < RubRik > ThemensTR ang evidenzbasierte Logopädie/ sprachheilpädagogik FachbeiTR ag Logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie 1 ulla beushausen haWk hochschule hildesheim/ holzminden/ göttingen Zusammenfassung: Im Gesundheitssystem wird eine Evidenzbasierung therapeutischer Maßnahmen als klare gesundheitspolitische Zielrichtung in der Versorgung von Kranken definiert. Die Auswahl eines Versorgungsmittels soll dabei an wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweisen ausgerichtet sein. Unter Evidenz-basierter Praxis (EbP) wird in den Gesundheitsberufen - wie auch der Sprachtherapie - ein Set von Tools verstanden, das in der praktischen Anwendung die wissenschaftlich nachgewiesene Evidenz, das Expertenwissen der Therapeuten und die konkreten Möglichkeiten der Anwendung auf einen spezifischen Fall integriert. Ziel dabei ist es, Forschungsergebnisse und sprachtherapeutische Praxis sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Die sprachtherapeutisch arbeitenden Berufe sind herausgefordert, Stellung zu einer Evidenz-basierten Sprachtherapie zu beziehen, vorhandene EbP-Tools auf Nützlichkeit in ihrem Kontext zu prüfen und gegebenenfalls zu adaptieren oder neue zu entwickeln. Wie der EbP-Ansatz innerhalb der Sprachtherapie umgesetzt und reflektiert wird, ist nicht unerheblich für die Ausrichtung einer sich gerade im deutschsprachigen Raum entwickelnden Sprachtherapieforschung. Schlüsselbegriffe: Evidenzbasierte Medizin, Evidenz-basierte Logopädie/ Sprachtherapie The Logic of the evidence based speech Therapy summary: The application of evidence based therapeutic interventions in the medical care is a major objective of health policy. The scientifically proven efficacy of a method has to be the criterion for its selection. Evidence based practice (ebp) in health care - as well as in speech therapy - includes a set of tools combining the scientifically proven evidence, the expertise of the therapist, and the possible applications in a specific case. The aim is to connect the research findings with the therapeutic practice. The language therapy professionals are challenged to adopt a clear position on the evidence based speech therapy, to check the usefulness of existing tools and to adapt them, if necessary, or to develop new ones. The degree of implementation of the ebp approach in the speech therapy practice has a considerable impact on the speech and language therapy research in the Germanspeaking region. Keywords: Evidenced based medicine, evidenced based speech and language therapy 1 entwicklung der begriffe evidenz-basierte medizin (ebm) und evidenz-basierte Praxis (ebP) U m der Forderung der Evidenzbasierung sprachtherapeutischer Maßnahmen (Barmer GEK 2011) vonseiten der pädagogischtherapeutischen Berufsgruppen nachzukommen, ist eine Auseinandersetzung mit den Begiffen Evidenz-basierte Medizin und Evidenz-basierte Praxis notwendig. Im Folgenden wird ein Überblick über diese Konzepte vermittelt, um schließlich die Rahmenbedingungen einer evidenz-basierten Sprachtherapie zu skizzieren. Die Evidenz-basierte Medizin (EbM), deren philosophischer Ursprung bereits in den Überlieferungen der Buddhisten und in der Mitte des 19. Jahrhunderts nachweisbar ist, VHN 2 | 2012 100 Ulla BEUSHaUSEN logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie FachbeiTR ag boomte in den 1970er Jahren. Der Epidemiologe Cochrane (1972) forderte damals, systematische, regelmäßig aktualisierte Übersichtsarbeiten (sogenannte „reviews“) von randomisierten kontrollierten Studien (randomized controlled trials; RCT’s) anzufertigen. RCT’s gelten in der klinischen Forschung als „Goldstandard“, also die Stufe der höchsten erreichbaren Evidenz, des Beweises der Wirksamkeit. Solche Reviews sollten Forschungsergebnisse zusammenführen, um sie den Praktikern zum Wohle der Patienten im Überblick verfügbar zu machen. Die Methodik des Zusammenführens und Hinterfragens von Ergebnissen verschiedener Studien zu bestimmten Forschungsfragen hat sich in der Cochrane- Collaboration manifestiert, die als weltweit arbeitender Kooperationsverbund systematisch Rewievs vorbereitet, aktualisiert und deren Ergebnisse in einer Datenbank verbreitet (Cochrane Collaboration 2011). Evidenz (vom lateinischen ex „aus“ und videre „sehen“ - das Herausscheinende) bezeichnet im Deutschen das dem Augenschein nach Unbezweifelbare, das durch unmittelbare Anschauung oder Einsicht Erkennbare. Evident ist ein Sachverhalt, der unmittelbar, ohne besondere methodische Aneignung klar auf der Hand liegt. Das englische „evidence“ hat jedoch eine fast gegensätzliche Bedeutung: auf Beweisen beruhend. Die Evidenz-basierte Medizin ist also auch im Deutschen - entgegen der umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes Evidenz - eine Richtung in der Medizin, die verlangt, dass bei jeder medizinischen Behandlung patientenorientierte Entscheidungen ausdrücklich auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit - also aufgrund von Studien - getroffen werden. Evidenz-basierte Medizin bedeutet somit in der klassischen Definition „the conscientious, explicit, and judicious use of current best evidence in making decisions about the care of individual patients. (…) The practice of evidence based medicine means integrating individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research.“ (Sackett u. a. 1996, 2f) Der Begriff der Evidenz-basierten Praxis (EbP) steht einmal für den Prozess der praktischen Anwendung von EbM, andererseits etablierte sich der Begriff als Synonym für EbM in den therapeutischen Gesundheitsberufen und den angrenzenden Bereichen. In der Weiterentwicklung der EbM und der EbP in den letzten Jahren wurden die interne Evidenz (Expertise) und die externe Evidenz (Forschungsergebnisse) als Grundlagen therapeutischer Entscheidungen um die Dimension der sozialen Evidenz, also der Präferenzen des Patienten, erweitert. Erfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen, ihre Motivation und ihr aktiver Einbezug in die Therapie wurden als bedeutend für den Therapieerfolg eingeschätzt und das EbM-Modell von Sackett und Kollegen somit erweitert (Centre for Evidence-Based Medicine 2011). 2 evidenz-basierte sprachtherapie E bP in der Sprachtherapie bezieht sich dementsprechend auf den Grundgedanken, dass jede Entscheidung über Diagnose oder Therapie im sprachtherapeutischen Kontext auf der besten vorhandenen externen Evidenz und auf der individuellen Expertise der pädagogisch-therapeutischen Fachleute - jeweils abgestimmt auf die individuellen Bedürfnisse des sprachbeeinträchtigten Menschen - erfolgen sollte. EbP in der Sprachtherapie hat zum Ziel, wissenschaftliche Forschung und berufliche Praxis neu miteinander zu verknüpfen. EbP ist damit einerseits eine ethische Grundhaltung in der Sprachtherapie, andererseits aber auch eine Strategie für eine lebenslange selbstständige Weiterbildung. Sie reagiert auf den immer schnelleren Wissenszuwachs mit VHN 2 | 2012 101 Ulla BEUSHaUSEN logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie FachbeiTR ag einer problemorientierten Selbstlernstrategie und führt zu verantwortlichen und begründbaren Entscheidungen (Scherfer 2006; Beushausen 2005). Um die gleichwertige Gewichtung der Forschungsbelege, der eigenen Urteilskraft und der Erwartungen der Klienten zum Ausdruck zu bringen, hat Christine Dollaghan, eine amerikanische Sprachtherapeutin, 2007 den Begriff E 3 BP eingeführt (Abb. 1; vgl. auch Beushausen 2009 a; 2009 b). Obwohl es ohne Zweifel richtig ist, aktuelle Forschungsergebnisse als Entscheidungshilfen für pädagogisch-therapeutische Fragen heranzuziehen, reicht dies als alleinige Grundlage nicht aus. Klinische Forschung findet in der Regel unter idealtypischen Bedingungen statt, die den therapeutischen Alltag mit all seinen nicht kontrollierbaren Störvariablen nur unvollständig widerspiegeln. Außerdem ist es erklärtes Ziel der quantitativen Forschung, zu allgemeingültigen Aussagen zu kommen. In der sprachtherapeutischen Praxis müssen jedoch Entscheidungen getroffen werden, die sich auf einen individuellen sprachbeeinträchtigten Menschen vor seinem komplexen Lebenshintergrund beziehen (Frommelt/ Grötzbach 2008). 2.1 evidenz Ausgehend von der EbM wird die Evidenz einer Studie aus dem Rang, den sie in einer sogenannten Evidenzhierarchie erreicht, abgeleitet. Evidenzhierarchien beruhen auf der Annahme, dass gewisse Forschungsmethoden und Studien von besserer Qualität sind als andere und z. B. deskriptive Studien oder qualitative Methoden weniger gute Beweise liefern als Ergebnisse quantitativer Forschung. Mit Hilfe der von unterschiedlichen Autoren und Institutionen publizierten Evidenzhierarchien - levels of evidence - kann der Grad der Evidenz bestimmt werden. In der Regel bilden systematische Reviews und Metaanalysen auf der Basis von RCT’s den sogenannten Goldstandard, und die geringste Evidenz wird Expertenmeinungen und Fallberichten zugeschrieben (s. Tab. 1). Solche Evidenzhierarchien sind jedoch nicht unumstritten. Sie werden z. B. immer dann zum Problem, wenn keine oder nur Ergebnisse geringer Güte, etwa zur Wirksamkeit einer therapeutischen Methode, vorliegen. Das Nicht-Vorliegen von Evidenzbeweisen darf jedoch nicht mit deren Unwirksamkeit gleichgesetzt werden. Hier muss die „Best Practice“ der Sprachtherapie beschrieben und als Entscheidungshilfe herangezogen werden, unabhängig davon, welchen Evidenzlevel die Belege in einer Hierarchie einnehmen. Der ausschließliche Verlass auf Evidenzstufen führt zu verzerrten Aussagen, denn Faktoren wie die externe Validität, die Konsistenz der Studienergebnisse oder die klinische Relevanz der Effekte werden so nicht berücksichtigt. Die meisten veröffentlichten Evidenzhierarchien gehen nicht auf die Qualität der zugrunde liegenden Studien ein. In der Beurteilungs- 1. Therapeut (pädagogisch-therapeutische Expertise) 2. klient (Hoffnungen & Erwartungen) 3. empirische belege (Studienergebnisse) abb. 1 Modell der Evidenz-basierten Sprachtherapie (in Anlehnung an Dollaghan 2007) VHN 2 | 2012 102 Ulla BEUSHaUSEN logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie FachbeiTR ag skala des Centre for Evidence-Based Medicine (2011) kann die Studienqualität zumindest ansatzweise mitbeurteilt werden. Das systematische Review - und nicht die Metaanalyse - wurde hier an die Spitze der Evidenzhierarchie gesetzt. 2.2 Leitlinien und standards Leitlinien bilden eine Orientierungshilfe im Sinne von Handlungskorridoren. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF 2010) definiert Leitlinien als systematisch entwickelte Empfehlungen mit dem Zweck, Ärzte und Patienten bei der Entscheidung über angemessene Maßnahmen der Krankenversorgung zu unterstützen. Leitlinien sind Ausdruck beruflicher Standards und helfen Therapeuten, sprachbeeinträchtigten Personen mit hoher Prozessqualität zu begegnen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. Die Qualität einer Leitlinie wird in drei hierarchisch aufeinander aufbauende Stufen (S 1 - S 3) unterteilt (s. Tab. 2). Für die Entwicklung von sprachtherapeutischen Leitlinien im deutschsprachigen Raum würde dies bedeuten, dass erste Leitlinien auf studientyp güte der evidenz grad der empfehlung Meta-analyse randomisiert-kontrollierter Therapiestudien (RCTs) I a a Mindestens eine randomisiert-kontrollierte Therapiestudie (RCT) I b a Mindestens eine methodisch gute Therapiestudie ohne Randomisierung II a B Mindestens eine methodisch gute, quasi-experimentelle Therapiestudie II b B Mindestens eine methodisch gute, nicht experimentelle deskriptive Therapiestudie (z. B. Fallstudien) III B Meinung von Experten-Komitees oder angesehenen autoritäten IV C Tab. 1 Zusammenhang zwischen Studientypen, Güte der Evidenz und Empfehlungsgraden (nach Intercollegiate Working Party for Stroke 2000) stufe methode Qualität Stufe 1 (S 1) Informeller Konsens in einer Expertengruppe + Stufe 2 (S 2e) ableitung der leitlinie aus Evidenz-basierter literatur ++ Stufe 2 (S 2k) Formaler Konsens mit repräsentativer Beteiligung aller betroffenen Fachgebiete ++ Stufe 3 (S 3) ableitung aus Evidenz-basierter literatur plus formaler Konsens aller betroffener Fachgebiete +++ + = geringe Qualität ++ = mittlere Qualität +++ = hohe Qualität Tab. 2 Dreistufige Entwicklung von Leitlinien (Beushausen/ Grötzbach 2011) VHN 2 | 2012 103 Ulla BEUSHaUSEN logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie FachbeiTR ag dem Entwicklungsstand S 1 und S 2 herausgegeben werden können (vgl. Tab. 2). Für sprachtherapeutische Leitlinien auf S 3-Ebene besteht hinsichtlich der Evidenzbasierung noch Nachholbedarf, da es zurzeit nur sehr wenige wissenschaftliche Studien oder Metaanalysen zu den in der Sprachtherapie verwendeten Behandlungsmethoden gibt. Aber auch 90 Prozent der medizinischen Leitlinien befinden sich noch nicht auf S 3-Niveau. Die Leitlinienentwicklung wurde in den letzten Jahren als Aufgabe der Sprachtherapie erkannt, sodass die sprachtherapeutischen Verbände aktiv in interdisziplinären Arbeitsgruppen mitarbeiteten, so z. B. an den Empfehlungen zu kindlichen Dysphonien, die von Phoniatern, Psychologen und Angehörigen verschiedener sprachtherapeutischer Berufe gemeinsam erarbeitet wurden (Voigt- Zimmermann u. a., im Druck). Auch im Bereich Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen, Stottern, Aphasie und Dysarthrie existieren interdisziplinäre Entwicklungsgremien. beeinträchtigung entwickelt von stufe aktueller stand gültig bis Sprachentwicklungsstörungen DGPP 1 09/ 2008 09/ 2013 Umschriebene artikulationsstörungen DGKJPP 1 11/ 2006 11/ 2001 Umschriebene Entwicklungsstörungen der Sprache DGKJPP 1 11/ 2006 11/ 2011 Elektiver Mutismus DGKJPP 1 11/ 2006 11/ 2011 Näseln/ Gaumenspaltensprache DGPP 1 03/ 2005 03/ 2010 Poltern DGPP DGKJPP 1 1 03/ 2005 11/ 2006 03/ 2010 11/ 2011 Stottern DGPP DGKJPP 1 1 03/ 2005 11/ 2006 03/ 2010 11/ 2011 auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung DGPP 1 03/ 2005 03/ 2010 Periphere Hörstörungen im Kindesalter DGPP 2 03/ 2005 03/ 2010 Neurogene Dysphagie DGN 1 10/ 2008 10/ 2013 Idiopathische Facialisparese DGN 1 10/ 2008 10/ 2013 Rehabilitation aphasischer Störungen nach Schlaganfall DGN GaB 1 1 10/ 2008 2002 10/ 2013 k. angabe Dysarthrie DGN GaB 1 1 10/ 2008 2002 10/ 2013 k. angabe Parkinson-Syndrom DGN 2 10/ 2008 10/ 2013 Multiple Sklerose DGN 1 10/ 2008 10/ 2013 Stimmstörungen DGPP 1 01/ 2011 01/ 2016 Tab. 3 Verfügbare Leitlinien im deutschsprachigen Raum DGPP: Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie DGKJPP: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie DGN: Deutsche Gesellschaft für Neurologie DGPP: Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie GaB: Gesellschaft für aphasieforschung und -behandlung VHN 2 | 2012 104 Ulla BEUSHaUSEN logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie FachbeiTR ag Wie Tabelle 3 zeigt, gibt es für einige Störungen (z. B. für die Aphasie oder die Dysarthrie) mehrere Leitlinien. Diese sind unabhängig voneinander von verschiedenen Fachgesellschaften entwickelt worden. Sie unterscheiden sich sowohl im Umfang als auch in der Qualität. Ihre Weiterentwicklung hätte das Ziel, sie zu vereinheitlichen. Dadurch entstünde eine neue, qualitativ bessere Stufe-2-Leitlinie, die wiederum die Grundlage für eine Stufe-3- Leitlinie wäre. Im angloamerikanischen Raum hat z. B. die American Speech and Hearing Association (ASHA 2005) seit 1987 sprachtherapeutische Leitlinien für einzelne Störungsbilder und Klientengruppen erarbeitet und ständig aktualisiert. Ähnliches wurde auch vom Royal College of Speech & Language Therapists in London als „Clinical guidelines“ entwickelt (Taylor-Goh 2005). Die Formulierung therapeutischer Standards für einzelne Störungsbilder der Sprachtherapie im deutschsprachigen Raum ist eine notwendige Voraussetzung für die Leitlinienentwicklung. 3 Der Prozess der evidenzbasierten sprachtherapie D er Prozess der Evidenz-basierten Sprachtherapie vollzieht sich in fünf Schritten: Die Schritte eins bis drei beschreiben die Suche und Bewertung von externer Evidenz, in Schritt vier werden die so gefundenen Ergebnisse auf Übertragbarkeit im konkreten Fall überprüft, und in Schritt fünf wird das gewählte therapeutische Vorgehen evaluiert. 3.1 externe evidenz: suche und bewertung von Forschungsergebnissen Zunächst wird (Schritt 1) eine relevante, pädagogisch-therapeutisch beantwortbare Frage formuliert, die sich auf einen konkreten Fall oder eine spezifische Problematik bezieht. Diese Frage soll zum einen das Problem des Klienten widerspiegeln, zum anderen sollen sich daraus klare Suchstrategien ergeben, die zu entsprechend präzisen Antworten führen. Eine solche Frage sollte deshalb folgende Elemente enthalten: element hilfe beispiel P = Das Problem des Patienten „Wie generalisiert man das Problem zu einer Gruppenbeschreibung? “ Bei einem 22 Monate alten Jungen mit einem Wortschatz unter 50 Wörtern … i = Die in Frage gestellte Intervention oder der zur Debatte stehende Test etc. „Welche Handlung erwäge ich vornehmlich? “ … würde die Maßnahme x (z. B. Zuwarten) … c = Der Vergleich oder die alternative „Was ist die andere Möglichkeit? “ … im Vergleich zum Beibehalten der Maßnahme y (z. B. Inputspezifizierung) oder Maßnahme z (ansatz nach Zollinger) … O = Das gewünschte Ziel „Was möchte ich/ der Patient erreichen? “ … zu einer Verbesserung seiner Situation, hier: Erreichen des Wortschatzspurtes führen? Tab. 4 Beispiel einer Pico-Frage (aus: Beushausen/ Grötzbach 2011) VHN 2 | 2012 105 Ulla BEUSHaUSEN logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie FachbeiTR ag P: das Problem des Klienten/ der Klientin I: die Intervention (kann nicht nur eine Behandlung, sondern auch Ursachen und prognostische Faktoren umfassen sowie Diagnostikverfahren) C: Vergleichsbehandlung (Placebo oder Standard- oder Alternativtherapie) O: Zielgröße, Endpunkt („outcome“: z. B. Mortalität, Lebensqualität, Effektivität) Diese Vorgehensweise ist auch als Pico-Strategie bekannt (vgl. Sackett 1999; s. Tab. 4). Anschließend folgt die Suche nach der besten verfügbaren Evidenz in Datenbanken (Schritt 2). Dabei müssen zunächst passende Suchbegriffe für mögliche Studien formuliert werden. Häufig genutzte medizinische Datenbanken sind MEDLINE/ PUBMED, EMBASE oder die Cochrane Library (s. Tab. 5). Die wohl bekannteste medizinische Datenbank ist MED- LINE bzw. PUBMED, die von der National Library of Medicine in den USA unterhalten wird. Sie enthält Referenzen und Abstracts von medizinischen Artikeln und ist frei zugänglich. MEDLINE enthält jedoch nur einen Teil der medizinischen Literatur. Eine weitere wichtige Datenbank ist EMBASE, die im Vergleich zu MEDLINE mehr die im europäischen Raum publizierte Literatur mit Schwerpunkt Medikamente und Pharmakologie repräsentiert. CINAHL ist eine Datenbank für Pflege- und Gesundheitsberufe. PSYCLIT listet Studien aus der Psychologie sowie Testverfahren auf. SPEECHBITE ist eine in Australien entstandene spezielle Zusammenstellung sprachtherapeutischer Studien. Die Datenbank ERIC listet pädagogische Literatur auf. Danach (Schritt 3) folgt die kritische Beurteilung der so gewonnenen Ergebnisse zur externen Validität. Hierzu kann ein Prüfschema, z. B. das Critical Appraisal of Treatment Evidence (CATE, Dollaghan 2007; Tab. 6), angewendet werden. In Schritt 4 wird nun überprüft, ob die Ergebnisse der externen Evidenz aus Studien, die tauglich und relevant sind, im konkreten Fall anwendbar sind. Sie müssen also mit den Präferenzen sprachbeeinträchtigter Personen und der eigenen pädagogisch-therapeutischen Exakronym bedeutung urls PubMed Public/ Publisher MEDlINE http: / / www.ncbi.alm.nih.gov/ pubmed/ Medpilot Suchmaschine medizinischer literatur http: / / www.medpilot.de Medline Medical literature analysis and Retrieval System Online http: / / www.medline.de CINaHl Cumulative Index to Nursing and allied Health literature http: / / www.cinahl.com/ EMBaSE Excerpta Medica Database http: / / www.embase.com/ COCHRaNE Datenbanken insb. DaRE The Database of abstracts of Reviews of Effects http: / / www.cochrane.de speechBITE Speech Pathology Database for Best Interventions and Treatment Efficacy http: / / www.speechbite.com PsyclIT Psychological literature http./ / www.psycinfo.apa.org ERIC Education Resources Information Center http: / / www.eric.ed.gov/ Tab. 5 Quellen zur Recherche externer Evidenz VHN 2 | 2012 106 Ulla BEUSHaUSEN logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie FachbeiTR ag pertise abgeglichen werden (Beushausen 2009 b). Dies bedeutet, dass mithilfe der Rechercheergebnisse z. B. Therapiemethoden kritisch hinterfragt und gegebenenfalls verworfen werden. Aber auch die Relevanz der Methode für den Klienten und die praktische Durchführbarkeit fließen in diese Entscheidung mit ein. Mit dieser Kompatibilitätsprüfung wird sichergestellt, dass die Ergebnisse mit den Präferenzen und Zielen der Klienten übereinstimmen. Abschließend wird das gewählte Vorgehen in Form einer Selbstbewertung der erbrachten Leistung reflektiert und evaluiert (Schritt 5). Es sollte eine kritische Beurteilung der eigenen Leistung einsetzen („In welchen Parametern hat meine Empfehlung dem Betroffenen genutzt, in welchen nicht? “). Die Dokumentation und der systematische Einsatz von Befundungsinstrumenten, die Beweise ihrer Reliabilität und Validität mitbringen, tragen dazu bei, die eigenen Behandlungsmethoden auf Effektivität und Effizienz hin zu überprüfen. Selbstreflexion ist gefordert, wenn die Umsetzung der gefundenen Ergebnisse mit der nötigen Skepsis evaluiert werden soll. 3.2 Präferenzen sprachbeeinträchtigter Personen Die Erfahrungen, Werte und Präferenzen der Klienten der Sprachtherapie sind wichtige Faktoren in der therapeutischen Entschei- PICO-Frage Evidenzquelle Relevanz der Forschungsfrage Glaubwürdigkeit n Wie wurden die Teilnehmer ausgewählt und den Untersuchungsgruppen zugeteilt? n Gab es eine Kontrollgruppe? n Wie hoch war die Drop-out-Rate? n Waren die Untersuchungsgruppen zu Beginn der Studie ähnlich? n Wurden die Untersuchungsgruppen gleich behandelt - abgesehen von der Intervention? n Wurden alle Teilnehmer in der per Randomisierung zugeteilten Gruppe bewertet? n War die Größe der Stichprobe ausreichend gewählt, um einen Effekt nachweisen zu können? n Stehen die Ergebnisse im Einklang mit früheren Forschungsergebnissen? Aussagekraft n Wie groß war der Behandlungseffekt? n Wie wird das Behandlungsergebnis erklärt? Anwendbarkeit n Übertragbarkeit der Ergebnisse auf aktuelle Patienten? n Wurden alle wichtigen Bereiche einbezogen? n Nutzen-Kosten-analyse? Gesamtrating Effektgröße n langzeiteffekte: ▫ zu erwarten ▫ nicht zu erwarten n Generalisierbarkeit: ▫ vorhanden ▫ nicht vorhanden Kosten-Nutzen-Relation: ▫ adäquat ▫ nicht adäquat Validität: ▫ überzeugend ▫ zweideutig ▫ fragwürdig Bedeutsamkeit der Ergebnisse: ▫ überzeugend ▫ zweideutig ▫ fragwürdig Tab. 6 CATE. In Anlehnung an Dollaghan 2007 (zit. nach Beushausen/ Grötzbach 2011) VHN 2 | 2012 107 Ulla BEUSHaUSEN logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie FachbeiTR ag dungsfindung. In der EbM bleibt dieser Bereich jedoch vage, Tools zur Erfassung der Patientenpräferenzen und zur gemeinsamen Zielfindung im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung oder im Shared Decision Making wurden dort bisher nur ansatzweise entwickelt. Im Gegensatz zum medizinischen Kontext sind sprachtherapeutische Interventionen mit ihren durchschnittlich 45 Minuten Klientenkontakt und teilweise hochfrequenter Therapie mit bis zu neun Einheiten pro Woche besonders dafür prädestiniert, die Präferenzen der Klienten zu fokussieren und geeignete EbP-Tools zu entwickeln. Die Erfassung der Klientenwünsche ist von jeher ein wichtiger Bestandteil der sprachtherapeutischen Anamnese. Wenn Menschen gebeten werden, über Ursache und Verlauf ihrer Beeinträchtigung zu berichten, beginnen sie Geschichten zu erzählen (Frommelt/ Grötzbach 2008). In den Erzählungen oder im Narrativen sind wichtige Lebensereignisse enthalten. Häufig enden sie mit den Hoffnungen, die mit der Sprachtherapie verbunden sind. Auf diese Hoffnungen bezieht sich der Begriff der „Präferenz“: die Erwartungen der Klienten an ihre Rehabilitation (Grötzbach 2008; Beushausen/ Grötzbach 2011). Die Präferenzen sprachbeeinträchtigter Menschen spielen nicht nur in der EbP, sondern auch in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF, Dimdi 2005) eine bedeutende Rolle. Sie stellen dadurch ein verbindendes Element zwischen den beiden Konzepten dar. In der ICF geht es vor allem um die teilhabeorientierte Rehabilitation, die das Ziel hat, gesundheitlich beeinträchtigten Menschen wieder eine Teilnahme an gewünschten sozialen Rollen zu ermöglichen (Fries 2007; Frommelt/ Grötzbach 2007; Beushause/ Grötzbach 2011). Zu diesen Rollen kann die Ausübung eines Berufs, eines Ehrenamts, einer Freizeitaktivität oder eines Hobbys gehören. Welche Rollen für die Betroffenen von Bedeutung sind, lässt sich nur mithilfe eines Gesprächs in Erfahrung bringen. In der Interaktion zwischen Therapeutin und Klientin dokumentieren sich damit komplexe Ansprüche an die Kommunikations- und Interpretationsleistungen auf beiden Seiten. 3.2.1 kommunikation im Therapieprozess Der Kommunikation zwischen den Therapeuten des Gesundheitswesens und ihren Klienten wird ein hoher Stellenwert im Rehabilitations- und Heilungsprozess zugeschrieben. Dehn-Hindenberg (2008; 2010) nennt nach einer Befragung von 650 Patienten als zentrale Wünsche der Patienten an die therapeutischen Gesundheitsberufe ein empathisches Eingehen auf persönliche Bedürfnisse, eine gemeinsame Therapieplanung mit der Erarbeitung adäquater Therapieziele sowie verständliche Erklärungen und klare Anweisungen bei der Übungsdurchführung. Die kommunikativen Fähigkeiten der Therapeutinnen stellten in dieser Studie einen maßgeblichen Faktor des Therapieerfolgs im Behandlungsverlauf dar. 3.2.2 Partizipative entscheidungsfindung Partizipative Entscheidungsfindung ist ein Interaktionsprozess mit dem Ziel, unter gleichberechtigter aktiver Beteiligung von Klient und Therapeut auf der Basis geteilter Information zu einer gemeinsam verantworteten Übereinkunft zu kommen (Beushausen 2009 b). Der Nutzen einer gemeinsamen Zielformulierung mit dem Klienten liegt in der daraus resultierenden Klarheit für alle Beteiligten. Gemeinsame Zieldefinitionen führen zu einer Steigerung der Effektivität, da mittels Zielerstellung eine Evaluation der Intervention erst ermöglicht wird, und sie verbessern insgesamt die Prognosegüte des Vorgehens. Hier haben in den letzten Jahren verschiedene Tools der Bezugswissenschaften (Psychologie, Management) Einzug in die Sprachtherapie gehalten, wie die SMART- und die RUMBA-Regel (vgl. Armst- VHN 2 | 2012 108 Ulla BEUSHaUSEN logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie FachbeiTR ag rong 2006; van Cranenburgh 2007) oder das Goal Attainment Scaling GAS (Kiresuk u. a. 1994; ein Überblick findet sich in Beushausen/ Grötzbach 2011). Diese Methoden dienen dazu, evaluierbare Ziele zu formulieren. Für die Therapieplanung bietet die ICF mit ihrer Orientierung an der Partizipation (Teilhabe) im Alltag die Möglichkeit, Therapieziele auf verschiedenen Ebenen zu formulieren und Ziele und Schwerpunkte auch und vor allem bei den Folgeerscheinungen einer Beeinträchtigung zu setzen. Eine partizipative Zielvereinbarung im Rahmen des Gedankenguts der ICF besteht aus einem top-down-Vorgehen (Fries u. a. 2005; Frommelt/ Grötzbach 2007; Grötzbach 2008; Grötzbach/ Iven 2009). Ausgehend von den Lebensbereichen, an denen eine sprachbeeinträchtigte Person nach Therapieende wieder teilnehmen möchte, werden Aktivitäten definiert, die für einen gewünschten Lebensbereich benötigt werden. Schließlich müssen gemeinsam diejenigen Funktionen identifiziert werden, die die Person daran hindern, benötigte Aktivitäten durchzuführen. Wie partizipativ eine Zielvereinbarung im sprachtherapeutischen Bereich im Einzelnen ausfallen kann, variiert jedoch in Abhängigkeit von Variablen wie dem Grad der Veränderungsmotivation und der Ausprägung oder dem Vorhandensein eines Störungsbewusstseins (Awareness) sowie dem Wunsch, aktiv in die Therapieentscheidungen mit einbezogen zu werden oder nicht (Bedürfnis nach partizipativer Entscheidungsfindung; Dehn-Hindenberg 2008). 3.3 interne evidenz: pädagogischtherapeutische expertise Die sprachtherapeutische Expertise umfasst zum einen das Wissen, das in der therapeutischen Aus-, Fort- und Weiterbildung vermittelt wird. Zum anderen besteht sie aus den Erfahrungen, die während der Berufsausübung gesammelt werden. Mit zunehmender Berufserfahrung entwickelt sich eine Expertise, die sich im Einzelnen aus Fachkenntnissen in der Diagnose und Therapie, analytischen Fähigkeiten zur Lösung (klinischer) Probleme und geschulten Persönlichkeitsmerkmalen zum adäquaten Umgang mit sprachbeeinträchtigten Personen zusammensetzt (vgl. Beushausen/ Grötzbach 2011). Der fachspezifische Informationsstand einer Sprachtherapeutin wird durch die vor ihr sitzende Klientin aktiviert. Jeder Sprachtherapeut hat seinen individuellen Wissensstand, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten. Der Wissenskorpus eines Faches speist sich jedoch nicht nur aus der eigenen Disziplin, sondern integriert Erkenntnisse aus verschiedenen Bezugswissenschaften. Therapeutenwissen in der Handlungswissenschaft „Sprachtherapie“ basiert beispielsweise auf Modellen und Methoden der Pädagogik, der Psychologie und der (Patho-)Linguistik, um nur einige Bezugswissenschaften zu nennen (Reilly u. a. 2004). Durch die Beobachtung und Behandlung von Personen mit ähnlichen Beeinträchtigungen und Ressourcen entwickelt sich eine eigene Wissensbasis. Diese Basis ist eine Kombination von theoretischem Wissen und konkret erlebten Fällen. Das Wissen wird zunächst in Form von Einzelinformationen aufgenommen und in Netzwerken gespeichert. Mit zunehmender Wissensmenge differenzieren sich diese Netzwerke mehr und mehr aus; schließlich kommt es zu einer Verdichtung von Wissen in Form von Skripten. Diese bestehen aus umfassenden und ganzheitlichen Bildern, die ein direktes und schnelles Erkennen komplexer Zusammenhänge ermöglichen (Beushausen 2009 b). Pädagogisch-therapeutische Expertise, die häufig als implizites Wissen oder als stilles Wissen (tacit knowledge) im Therapeuten verankert ist, meint ein formalisiertes Wissen - Kenntnisse oder Fähigkeiten, die nicht explizit formuliert sind. „Stilles Wissen“ kann durch VHN 2 | 2012 109 Ulla BEUSHaUSEN logik der Evidenz-basierten Sprachtherapie FachbeiTR ag die Analyse des therapeutischen Denk- und Entscheidungsprozesses explizit und damit verbalisierbar werden. Das „stille Wissen“ ist eng mit der Berufsbiografie - mit dem Stand der Entwicklung vom Anfänger zum Experten - verbunden (Guilford u. a. 2007). Hansen lieferte 2009 in einer Feldstudie einen Einblick in die spezifisch sprachtherapeutische Expertise. Sie identifizierte vier zentrale therapeutische Arbeitstypen in der Sprachtherapie: Kontaktarbeit, Ausrichtungsarbeit, Kooperationsarbeit und Veränderungsarbeit mit den dazugehörigen aufgabenbezogenen Arbeitsprozessen und Arbeitsmustern als grundlegende Dimensionen der Therapiearbeit zwischen Sprachtherapeutinnen und ihren Klienten. 4 Fazit D ie Leitfrage des EbP-Ansatzes fassen Bury und Mead (1998, 7) so zusammen: „How do you know that what you do works? “ Die Konzepte der EbM und der EbP haben in den letzten Jahren die sprachtherapeutische Forschung und Versorgung international erheblich beeinflusst. Die Möglichkeiten der Evidenz-basierten Sprachtherapie liegen darin, Qualität zu sichern, indem Interventionen auf der Basis von wissenschaftlichen Belegen durchgeführt und Studienergebnisse als Argumentation gegenüber Zuweisern und Kostenträgern - z. B. zur Genehmigung einer (intensiven) Therapie - genutzt werden können. Die sprachtherapeutischen Professionen tun gut daran, den Weg hin zu einer Evidenz-basierten Sprachtherapie aktiv mitzugestalten, z. B. durch die Entwicklung von Instrumenten zur partizipativen Entscheidungsfindung, zur Erfassung der Klientenbedürfnisse, der Änderungsmotivation oder der Awareness. Dazu gehört auch die kritische Analyse der Grenzen der Übertragbarkeit des EbM-Ansatzes in den Kontext der Sprachtherapie. Entscheidend für die Entwicklung einer Evidenz-basierten Sprachtherapie wird sein, vermeintliche oder reale Zugangsbarrieren abzubauen, die zur Zeit noch verhindern, dass EbP die pädagogisch-therapeutisch Tätigen flächendeckend erreicht. Diese Entwicklung hängt eng mit dem Aufbau einer eigenständigen Sprachtherapieforschung zusammen. Die Kritik am aktuellen Forschungsstand zur Wirksamkeit von Sprachtherapie richtet sich zum einen darauf, dass Wirknachweise bisher nur selten auf die Ergebnisse von adäquat durchgeführten randomisiert-kontrollierten Studien (RCT’s) gestützt werden konnten, zum anderen, dass in den wenigen verfügbaren RCT’s die Wirkung von Sprachtherapie insgesamt noch nicht überzeugend nachgewiesen werden konnte (zur Evidenzlage bei Sprachentwicklungsstörungen vgl. IQWIG 2009). Es gilt, auf der Basis einer kritischen Auseinandersetzung mit dem EbP-Ansatz und dessen Evidenzhierarchien eine eigene Forschungsstrategie für die Sprachtherapie zu entwickeln. anmerkung 1 Der Begriff Sprachtherapie bezieht sich im Folgenden auf alle Berufsgruppen im Kontext pädagogisch-sprachtherapeutischer Tätigkeit, wie logopäden, Sprachheilpädagogen, klinische linguisten, atem-, Sprech- und Stimmlehrer. Die männliche und weibliche Form der akteure im Gesundheitswesen wird im Text willkürlich alternierend verwendet. 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