Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Dialog: Warum gibt es immer mehr Schülerinnen und Schüler mit der Diagnose „geistige Behinderung“?
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Peter Lienhard
Hans-Rudolf Bischofberger
Ich danke dir, dass ich mit dir per E-Mail in einen Dialog treten darf, dessen Thema wohl nicht nur uns beide, sondern viele Fachpersonen, Eltern und Behördenmitglieder in der gesamten Schweiz beschäftigt: Der Anteil derjenigen Schülerinnen und Schüler, die als geistig behindert diagnostiziert werden, nimmt dramatisch zu. Das ist insofern erstaunlich, weil das Schwellenkriterium „IQ unter 75“ seit über 50 Jahren dasselbe geblieben ist. Das Phänomen der stetigen Zunahme dieser Diagnose ist aber nicht ganz neu: Du erinnerst dich bestimmt an die Studie aus dem Jahr 2002, an der ich mitgearbeitet habe. Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich wollte wissen, weshalb der Anteil der Kinder mit einer geistigen Behinderung zwischen 1989 und 2000 um rund 40 % angestiegen ist. Die Erkenntnisse, die wir im Rahmen dieser Studie herausarbeiten konnten, haben den Nebel nur bedingt lichten können. Zwar konnten wir nachweisen, dass der Anstieg teilweise damit zu tun hatte, dass einzelne Sonderschulen bewusst „weichere“ Kriterien für eine Aufnahme praktizierten - und wo ein Angebot im Sonderschulbereich ist, wird es als Ventil für die Regelschule auch genutzt. Auch haben wir belegt, dass vermehrt Kinder mit einer komplexen Symptomatik (Entwicklungsverzögerungen, kombinierte Lern- und Verhaltensprobleme) die Diagnose „geistig behindert“ erhielten und dass Frühgeborene überproportional oft von diesen diffusen, komplexen Störungsbildern betroffen sind.
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VHN 2 | 2012 161 < RubRik > Dialog Peter lienhard an Hans-Rudolf bischofberger Donnerstag, 22. September 2011, 20.03 uhr Lieber Hansruedi Ich danke dir, dass ich mit dir per E-Mail in einen Dialog treten darf, dessen Thema wohl nicht nur uns beide, sondern viele Fachpersonen, Eltern und Behördenmitglieder in der gesamten Schweiz beschäftigt: Der Anteil derjenigen Schülerinnen und Schüler, die als geistig behindert diagnostiziert werden, nimmt dramatisch zu. Das ist insofern erstaunlich, weil das Schwellenkriterium „IQ unter 75“ seit über 50 Jahren dasselbe geblieben ist. Das Phänomen der stetigen Zunahme dieser Diagnose ist aber nicht ganz neu: Du erinnerst dich bestimmt an die Studie aus dem Jahr 2002, an der ich mitgearbeitet habe. Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich wollte wissen, weshalb der Anteil der Kinder mit einer geistigen Behinderung zwischen 1989 und 2000 um rund 40 % angestiegen ist. Die Erkenntnisse, die wir im Rahmen dieser Studie herausarbeiten konnten, haben den Nebel nur bedingt lichten können. Zwar konnten wir nachweisen, dass der Anstieg teilweise damit zu tun hatte, dass einzelne Sonderschulen bewusst „weichere“ Kriterien für eine Aufnahme praktizierten - und wo ein Angebot im Sonderschulbereich ist, wird es als Ventil für die Regelschule auch genutzt. Auch haben wir belegt, dass vermehrt Kinder mit einer komplexen Symptomatik (Entwicklungsverzögerungen, kombinierte Lern- und Verhaltensprobleme) die Diagnose „geistig behindert“ erhielten und dass Frühgeborene überproportional oft von diesen diffusen, komplexen Störungsbildern betroffen sind. Wenn ich ehrlich zurückblicke, muss ich ernüchtert feststellen, dass die Studie trotz seriöser Arbeit und gut gemeinten Vorschlägen nichts bewirken konnte. Die Entwicklung hin zu mehr Kindern mit einer geistigen Behinderung hat sich seither sogar noch beschleunigt. Du hast als langjähriger Leiter der Heilpädagogischen Schule Zürich diese ganze Entwicklung mitverfolgen können. Es würde Warum gibt es immer mehr Schülerinnen und Schüler mit der Diagnose „geistige Behinderung“? Peter lienhard Hochschule für Heilpädagogik Zürich Hans-Rudolf bischofberger Heilpädagogische Schule Zürich VHN 2 | 2012 162 Peter LieNHard, HaNs-rudoLf BiscHofBerger schülerinnen und schüler mit der diagnose „geistige Behinderung“ Dialog mich interessieren, wie du diese erlebt hast und welche Erklärungsmuster in dieser Zeit in dir gereift sind - falls sich diese für dich fassen lassen. Ich freue mich auf deine Antwort, mit einem herzlichen Gruß, Peter Hans-Rudolf bischofberger an Peter lienhard Montag, 26. September 2011, 9.56 uhr Lieber Peter Gerne versuche ich, aus meinem Blickwinkel auf deine Fragen einzugehen. Du hast recht, vor 10 Jahren schlugen wir Alarm, weil unsere Schule innert drei Jahren von 90 auf 120 Schülerinnen und Schüler gewachsen war. Heute sind wir für rund 440 Schülerinnen und Schüler in der Stadt Zürich verantwortlich, die alle die Diagnose „geistige Behinderung“ tragen. Und dieses Wachstum ist in einem Zeitraum geschehen, in dem die Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler in den Regelschulen im Einzugsgebiet unserer Institution (Stadt Zürich) leicht gesunken ist. Neben dem Wachstum der Schule haben aber auch organisatorische Veränderungen dieses letzte Jahrzehnt geprägt, insbesondere die Einführung der integrierten Form der Sonderschulung, die uns einen tieferen Einblick auch in die Regelschulen gewährt. Aus der Perspektive einer Schulleitung, die aktuell rund 270 Schülerinnen und Schüler in den Regelschulen betreut, möchte ich zwei Beobachtungen schildern: n Immer wieder begegnet uns die Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler mit einer diagnostizierten geistigen Behinderung in eine neuen Klasse integriert werden, in welcher andere Kinder sitzen, die deutlich schwächere Schulleistungen zeigen und keine Diagnose aufweisen. n Wenn wir in der Stadt Zürich die Verteilung der Schülerinnen und Schüler mit einer diagnostizierten geistigen Behinderung auf die Schulhäuser betrachten, fällt auf, dass diese sehr ungleichmäßig ausfällt. So sind z. B. in einem Schulkreis in einem Mittelstands-Quartier im einen Schulhaus 9 Schülerinnen und Schüler mit einer solchen Diagnose integriert. In einem anderen Schulhaus, in einem Quartier mit vielen Sozialwohnungen, größter Ausländerdichte usw., findet sich kein einziges Kind mit dieser Diagnose. Staunend äußerte sich der zuständige Schulpräsident, dass er überzeugt sei, dass er irgendein beliebiges Kind aus einer Klasse im zweiten Schulhaus ins erste versetzen könnte, und es wäre mit Sicherheit sofort als „geistig behindert“ gemeldet. Dies sind nur zwei kleine Ausschnitte aus unserem Alltag. Die integrierte Form der Sonderschulung hat uns da eine Relativität der individuellen Diagnostik aufgezeigt, die nicht sichtbar war, so lange wir die Schülerinnen und Schüler „mit geistiger Behinderung“ in separierten Klassen schulten. Solche Beobachtungen haben mich gelehrt, zunehmend von der individuumzentrierten zur systemischen Sicht der Sonderschulung zu wechseln, wenn es um Fragen der Zuweisung geht. Eigentlich können und dürfen wir davon ausgehen, dass, gemäß einer Normalverteilung, in den Regelklassen unserer Volksschule eine beträchtliche Anzahl Schülerinnen und Schüler sitzen, die im Rahmen einer allfälligen Testmessung einen IQ unter 75 aufweisen würden. Erkannt werden diese aber erst, wenn sie auch zur Abklärung angemeldet werden. So gesehen müssen wir uns weniger VHN 2 | 2012 163 Peter LieNHard, HaNs-rudoLf BiscHofBerger schülerinnen und schüler mit der diagnose „geistige Behinderung“ Dialog die Frage stellen, weshalb immer mehr Schülerinnen und Schüler einen IQ unter 75 aufweisen, sondern vielmehr, weshalb immer mehr Schülerinnen und Schüler überhaupt zur Abklärung angemeldet werden. So habe ich gelernt zu verstehen, dass die Sonderschulen nicht isolierte Institutionen sind, die Kinder mit ausgewiesenen Behinderungen aufnehmen. Sonderschulen sind vielmehr Teile des gesamten Systems Volksschule. Die Volksschule versteht sie als „Entlastung“, um selbst möglichst effizient die eigenen Ziele zu verfolgen. Die Sonderschule bekommt somit eine Ventilfunktion für die Regelschule: Wenn ein Kind in der Regelschule nicht mehr tragbar ist, wird es in eine Sonderschule eingewiesen. Verantwortlich für diese Maßnahme ist aber nicht nur das einzelne Kind allein mit seinen besonderen Bedürfnissen. Es spielen andere, weitere Kriterien eine Rolle, wie etwa die Zusammensetzung der gesamten Regelklasse oder die Fähigkeiten und Grenzen einer Lehrperson. Wie wir aus der Systemtheorie wissen, muss es in jeder Schulklasse immer ein Kind geben, das die Rolle des „fast Behinderten“ übernimmt, das eigentlich fast nicht mehr tragbar ist. Solange es eine Sonderschule gibt, können solche Kinder versetzt werden, mit dem Effekt, dass in der Regelklasse ein nächstes Kind diese Rolle übernehmen wird. Aus all diesen Überlegungen heraus vertrete ich heute die Hypothese, dass die Gründe für das Wachstum der Sonderschulen nicht in einer eigenartigen epidemischen Verbreitung von Behinderungs-Symptomen liegen, sondern in der Tragfähigkeit der Regelschule. Zudem unterstützt die Zweiteilung des Systems Volksschule in die scheinbar unabhängigen Teilsysteme „Regel- und Sonderschule“ die Tendenz, dass sich die Volksschule mit Verschiebungen von problematischen Schülerinnen und Schülern in die Sonderschulen selbst entlastet. Vor rund 10 Jahren, als du den Auftrag hattest, das übermäßige Wachstum der Sonderschulen zu untersuchen, wurdest du von unserer Seite mit der Hypothese konfrontiert, dass Sparmaßnahmen in der Regelschule zu diesem Wachstumsschub geführt haben könnten. Du hast diese Hypothese im Rahmen deiner Untersuchung weder bestätigen noch widerlegen können. Dennoch bin ich nach wie vor überzeugt, dass Sparmaßnahmen in der Regelschule zwar nicht die einzige Ursache sind, sicher aber eine unter mehreren, die die Tragfähigkeit der Regelschule einschränken und dazu beitragen, dass vermehrt Schülerinnen und Schüler für eine Abklärung beim Schulpsychologischen Dienst angemeldet werden. So gesehen wurden und werden die Ressourcen, die in der Regelschule eingespart werden, in der Sonderschule wieder ausgegeben. Und solange die Teilsysteme Regel- und Sonderschule als scheinbar unabhängige Institutionen nebeneinander leben, wird sich die Regelschule durch Überweisungen an die Sonderschule entlasten. Mit herzlichen Grüßen, Hansruedi Peter lienhard an Hans-Rudolf bischofberger Samstag, 8. oktober 2011 12.39 uhr Lieber Hansruedi Danke für deine spannenden Ausführungen. Ich teile insbesondere deine Einschätzung, dass das Diagnostizieren einer Sonderschulbedürftigkeit weit relativer ist, als dies in der Fachwelt und in der Bevölkerung angenommen wird. Eigentlich seltsam: Im Prinzip wissen alle, dass zwei Kinder mit identischem IQ - beispielsweise 68 - einen ganz unterschiedlichen Förderbedarf haben können. Trotzdem gehen viele davon aus, dass es eine klare VHN 2 | 2012 164 Peter LieNHard, HaNs-rudoLf BiscHofBerger schülerinnen und schüler mit der diagnose „geistige Behinderung“ Dialog Schwelle zwischen „sonderschulbedürftig“ und „nicht sonderschulbedürftig“ gebe, die allein an bestimmten Merkmalen des Kindes festzumachen sei. Zu diesem Denken hat uns die Schweizerische Invalidenversicherung erzogen: Als Versicherung musste sie einen Schaden nachgewiesen bekommen, um kompensatorische Leistungen auszahlen zu können. Und von diesem Mechanismus ist in den letzten Jahren immer häufiger Gebrauch gemacht worden. Einen Zusammenhang, den du stark in den Vordergrund gerückt hast, sehe ich etwas anders: Du vertrittst die Ansicht, dass Sparmaßnahmen die Regelschule geschwächt hätten, was zu mehr Sonderschülerinnen und Sonderschülern geführt habe. Meiner Einschätzung nach wurde in der Regelschule kaum gespart. Gut, die Klassengrößen wurden gebietsweise leicht erhöht, aber massive Einschnitte habe ich nirgends beobachten können. Das Problem scheint mir eher zu sein, dass sich die Regelschule nicht adäquat an die veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst hat. Damit meine ich u. a. die im internationalen Vergleich unverständliche Tatsache, dass man in der Schweiz lediglich in den Ballungsgebieten Tagesschulen vorfindet - und Tagesstrukturen gehören für mich zu den wichtigsten Faktoren der Tragfähigkeit einer Schule. Das Problem sehe ich also weniger im Sparen, sondern im fehlenden Investieren in eine grundlegende Anpassung der Regelschule. Außenstehende mögen sich vielleicht fragen, weshalb es der Regelschule nicht gelungen ist, mehr Ressourcen für ihre Entwicklung zu generieren, dem Sonderschulbereich jedoch schon. Das hängt mit der von dir erwähnten Ventilfunktion zusammen: Das kontingentierte Regelschulsystem „melkt“ das gegen oben offene Sonderschulsystem - oben offen deshalb, weil jeder diagnostizierte Einzelfall zwingend bestimmte Ressourcen auslöst. So wird jedes Kind, das in den Status „Sonderschüler“ gebracht werden kann, zum Goldesel. Es verwundert nicht, dass dieses System aus dem Ruder gelaufen ist. Solange die Gesellschaft bereit ist, unbegrenzt für sonderpädagogische Maßnahmen zu bezahlen, wird sich diese Spirale weiter drehen. Der finanzpolitische Druck, diesen Trend zu stoppen, wächst meines Erachtens aber stark. Was ist zu tun? Ich sehe keine andere Möglichkeit, als auch die Maßnahmen der Sonderschulung regional im Sinne eines Pools zu definieren und zu begrenzen. Das Budget für die Regel- und Sonderschulausgaben muss als Ganzes gedacht und verwaltet werden. Nur so wird es möglich sein, sinnvolle Umlagerungen von Ressourcen aus dem heutigen Sonderschulbereich in die Regelschule zu vollziehen, um die notwendige Stärkung zu erreichen und Entlastungsventile überflüssig zu machen. Das kürzlich eingeführte „Standardisierte Abklärungsverfahren“ kann mithelfen, individuell angepasste Zielsetzungen und den daraus erwachsenden Förderbedarf zu eruieren, damit die Ressourcen nicht zufällig und ziellos verteilt werden. Ohne ein klar definiertes Angebot kann jedoch das Abklärungsverfahren allein wenig bewirken. Es ist mir klar, dass die Anwendung eines solchen Ressourcierungsmodells seine Tücken hat. Wenn beispielsweise die Regionen zu kleinräumig gewählt werden, kann allein schon eine zugezogene Familie mit zwei intensiv behinderten Kindern die Poolressourcen sprengen - um nur einen Knackpunkt zu nennen. Nun habe ich davon gehört, dass in der Stadt Zürich (zumindest für den Bereich der geistigen Behinderung) eine übergreifende Poollösung angedacht und umgesetzt wurde. Mich würden deine Erfahrungen interessieren und auch deine Einschätzung, ob dieses Modell eine noch breitere und konsequentere Anwendung finden könnte. Ich wünsche dir eine gute Woche und sende dir herzliche Grüße, Peter VHN 2 | 2012 165 Peter LieNHard, HaNs-rudoLf BiscHofBerger schülerinnen und schüler mit der diagnose „geistige Behinderung“ Dialog Hans-Rudolf bischofberger an Peter lienhard Donnerstag, 27. oktober 2011, 13.34 uhr Lieber Peter Offensichtlich teilen wir die Ansicht, dass die Regelschule zu stärken ist, damit sie tragfähig wird, und dass die Zweiteilung des Schulwesens in eine Regel- und eine Sonderschule äußerst hinderlich ist auf diesem Weg. Darum ist es unser Wille, als Sonderschule die Regelschule in der Stadt Zürich mit unseren Ressourcen (Fachwissen und Personal) zu unterstützen. Du hast recht, wir haben in der Stadt Zürich schon einige Schritte unternommen, zuerst der Not gehorchend, und wir haben schließlich Tugenden bzw. Konzepte daraus gemacht. So haben wir schon vor sechs Jahren damit begonnen, unsere separierten Sonderschulklassen in die Regelschulhäuser der ganzen Stadt zu verteilen. Heute sind das gute Stützpunkte in den Quartieren, die Fachwissen in die Schulhäuser geben können und die verschiedenste Spielformen der Zusammenarbeit mit der Regelschule, z. B. die Teil-Integration, zulassen - und die das Bild auf den Pausenhöfen farbiger machen. Vor zwei Jahren wurden die Sonderschul-Ressourcen definitiv eingeschränkt. In der Folge haben wir diese tatsächlich pauschal auf die Schulkreise der Stadt verteilt. In Zusammenarbeit mit dem Schulpsychologischen Dienst und den Schulbehörden suchen wir nun Wege, unsere Ressourcen (Fachberatung und Personal) so zielgerichtet einzusetzen, dass die ganze Schule möglichst viel davon profitieren kann. Dabei kommen wir zunehmend weg vom Bild der „Integrierten Sonderschulung“ und bewegen uns hin zur „Integrierenden Regelschule“. Wir bewegen uns weg von einer rein individuumzentrierten zu einer zunehmend systemischen (Heil-)Pädagogik. Die Frage heißt nicht mehr: Wie integriere ich ein Kind, das besondere Bedürfnisse und Merkmale hat, in eine Regelschulklasse? Wir fragen vielmehr: Wie muss die Regelklasse organisiert sein und wie muss ihr Unterricht aussehen, damit alle Kinder, auch jene mit besonderen Bedürfnissen, optimal gefördert werden? Personelle Ressourcen, Fachberatung usw. sind somit nicht mehr an ein einzelnes Kind gebunden, sondern werden ganzen Klassen und ganzen Schulhäusern zugeteilt. Und auch die Diskussion, ob und im Kanton Zürich werden rund 150.000 schülerinnen und schüler im Bereich der obligatorischen Bildung unterrichtet. diese gliedert sich in die Kindergartenstufe (2 Jahre), die Primarstufe (6 Jahre) und die sekundarstufe i (3 Jahre). Neben der regelschule gibt es im Kanton Zürich 77 sonderschulen. den größten anteil machen die Heilpädagogischen schulen aus, die sich an die Kernklientel „schülerinnen und schüler mit einer geistigen Behinderung“ richten. Zunehmend wird die Möglichkeit genutzt, sogenannte „integrierte sonderschulungen“ durchzuführen. die betreffenden Kinder und Jugendlichen haben sonderschulstatus, besuchen jedoch eine regelklasse. Jede integrierte sonderschulung löst eine bestimmte anzahl an unterstützungslektionen durch schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen aus. Weitere informationen: Volksschulamt des Kantons Zürich (http: / / www.volksschul amt.zh.ch) oder Bildungsstatistik des Kantons Zürich (http: / / www.bista.zh.ch). VHN 2 | 2012 166 Dialog Peter LieNHard, HaNs-rudoLf BiscHofBerger schülerinnen und schüler mit der diagnose „geistige Behinderung“ mit welchen Zielsetzungen ein Kind teilweise oder ganz separiert geschult werden soll, wird von der ganzen Schule, von allen Fachkräften, intensiv geführt - entzieht doch jedes separiert geschulte Kind der Regelschule Personal-Ressourcen. Diese Umkehr im Denken und das Übergeben der Hauptverantwortung an die Regelschule ist ungewohnt, führt aber zu äußerst spannenden pädagogischen Diskussionen in den Schulkreisen, in den Schulhäusern und in den einzelnen Schulklassen. Schule wird neu erfunden! Und zunehmend wächst auch die Einsicht, dass Probleme nicht immer mit zusätzlichen personellen Ressourcen, sondern ebenso gut mit gezieltem Fachwissen angegangen werden können und müssen. Es ist eine neue und sehr große Herausforderung, Wege zu finden, damit das richtige Fachwissen an den richtigen Ort kommt. Ich könnte viel darüber erzählen. Manchmal staune ich, wenn ich zurückblicke, wie viele Schritte in diese Richtung wir schon gegangen sind - und manchmal habe ich Respekt vor all dem, was noch gemacht werden muss und sollte. Aber ich bin überzeugt, dass wir damit auf einem guten Weg sind, eben auch die Regelschule neu und flexibler zu gestalten. Und wenn ich sehe, dass nun schon die ersten Schülerinnen und Schüler „unserer“ Schule im Rahmen der Berufslehre integriert werden, hoffe ich fest, dass wir darüber hinaus auch an einer solidarischeren Gesellschaft mitbauen können. Herzliche Grüße, Hansruedi Peter lienhard an Hans-Rudolf bischofberger Freitag, 28. oktober 2011, 8.05 uhr Lieber Hansruedi Enorm spannend, wo ihr in der Stadt Zürich gelandet seid! Was du beschreibst, könnte die Grundlage sein für eine neue, übergreifende Schulkonzeption - die bisherigen sonderpädagogischen Konzepte würden sowohl auf kantonaler als auch auf kommunaler Ebene nicht mehr bestehen, weil sie inklusiv in der übergreifenden Schulkonzeption aufgegangen wären. Ich bin sicher, dass die zukünftige Entwicklung in diese Richtung gehen wird. Nochmals vielen Dank, alles Gute und herzliche Grüße, Peter anschriften der autoren Prof. Dr. Peter lienhard Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Schaffhauserstraße 239 Postfach 5850 CH-8050 Zürich Tel.: ++41 (0) 44 3 17 11 92 E-Mail: peter.lienhard@hfh.ch Hans-Rudolf bischofberger Leiter Heilpädagogische Schule Zürich Gotthelfstraße 53 CH-8003 Zürich Tel.: ++41 (0) 44 4 13 43 00 E-Mail: hans-rudolf.bischofberger@zuerich.ch
