eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 81/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte 2/12

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Die Zukunft ist jetzt! – Die Zukunftsplanung von erwachsenen Menschen mit einer geistigen Behinderung und von ihren Angehörigen unterstützen
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VHN 2 | 2012 167 Aktuelle Forschungsprojekte Die Zukunft ist jetzt! - Die Zukunftsplanung von erwachsenen Menschen mit einer geistigen Behinderung und von ihren Angehörigen unterstützen judith Adler, Monika t. Wicki Interkantonale hochschule für heilpädagogik, Zürich theoretischer hintergrund In der Schweiz leben ca. 5000 erwachsene Personen mit einer geistigen Behinderung bei ihren Eltern, mehr als 41 % davon dürften älter als 35 Jahre sein, und etwa 10 % sind über 65 Jahre alt. Studien zeigen, dass in anderen Ländern zwischen 50 und 75 % der erwachsenen Personen mit einer geistigen Behinderung bei ihren Eltern oder Angehörigen leben (Klicpera/ Gasteiger-Klicpera 1997; Breitenbach 1999; Haveman/ Stöppler 2004; Bowey/ McGlaughlin 2007; Schäfers/ Wansing 2009; Stamm 2009). Mit der steigenden Lebenserwartung der behinderten Personen werden die Eltern die Betreuung ihrer Söhne und Töchter oft nicht mehr bis zu deren Lebensende leisten können. Doch mehr als 50 % der über 63-jährigen Eltern treffen keine oder kaum Arrangements für die zukünftige Wohn- und Lebenssituation der erwachsenen Familienmitglieder mit einer geistigen Behinderung, wie Studien aus den USA und Irland zeigen. Zudem werden die Personen mit einer geistigen Behinderung, andere Angehörige oder die Geschwister kaum in die Planung miteinbezogen (Heller/ Factor 1991; Smith u. a. 2000; Heller/ Kramer 2009). Ohne vorangehende Planung kann es bei Krankheit oder Tod der Eltern zu unvorbereiteten Übergängen und Überweisungen kommen. Menschen mit einer geistigen Behinderung, die bei ihren Eltern leben, und ihre Familien benötigen für die Zukunftsplanung häufig Unterstützung (Heller/ Factor 1993; Freedman u. a. 1997). Viele Organisationen im Behindertenbereich bieten Dienstleistungen zur Unterstützung der Zukunftsplanung der betroffenen Familien an. Mit einer Expertenbefragung bei den Organisationen, Vereinen und Verbänden im Behindertenbereich wurde im Jahr 2010 erhoben, welche Angebote in der deutschen Schweiz vorhanden sind, wie häufig sie genutzt werden und welche Angebote nötig wären, damit die Familien mit der Zukunftsplanung beginnen können. Die Befragung zeigt, dass erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihre Angehörigen Informationen benötigen, vor allem Adressen von Beratungsstellen. Die Expertinnen und Experten fordern sachliche Informationsangebote und ein individuelles Case Management. Obwohl die Organisationen im Bereich der Behindertenhilfe in der Schweiz zahlreiche Beratungsangebote bezüglich Wohnmöglichkeiten, finanziellen und rechtlichen Fragen anbieten, werden gerade diese Angebote von den Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung und von ihren Angehörigen relativ selten genutzt (Wicki/ Adler 2010). Ein aktiver Zugang zu den Familien ist daher notwendig, um ihnen die passende Information und Unterstützung im Prozess der Zukunftsplanung zu gewährleisten. Aufgrund der Ergebnisse der Expertenbefragung wurde ein Angebot gesucht, das den Familien einen alternativen Zugang zu den Themen der Zukunftsplanung bietet. Das Angebot sollte in den Familien das Gespräch über die Zukunft fördern und so den Planungsprozess anstoßen. Die Familien sollten durch das Angebot auch über bestehende unterstützende Angebote informiert und mit den Organisationen in Kontakt gebracht werden. Ausgewählt wurde der Lehrgang „The Future is Now! A training curriculum for adults with mental retardation and their older family caregivers“ (Heller 2000; Heller/ Caldwell 2006; DeBrine u. a. 2009). Dieser Lehrgang hat einerseits den Vorteil, dass er den personenzentrierten Ansatz mit dem familienorientierten Ansatz vereint. Zudem werden sowohl die Angehörigen als auch die Personen mit einer geistigen Behinderung bei der Planung durch Peers unterstützt. Weitere Vorteile des Angebotes sind, dass durch die Ausschreibung der Informationsveranstaltung und des Kurses aktiv auf die betroffenen Familien zugegangen wird. Auch bietet der fünfteilige Kurs zu je 2.5 Stunden im Abstand von ca. 3 Wochen sowohl den Angehörigen als auch den Personen mit einer geistigen Behinderung gemeinsam und in VHN 2 | 2012 168 Aktuelle Forschungsprojekte getrennten Gruppen Diskussionsmöglichkeiten zu den Themen Beziehungen, Wohnen, Arbeiten sowie zu rechtlichen und finanziellen Fragen. Zwischen den Kursabenden füllen die Familienmitglieder gemeinsam das Dokument „Bestandsaufnahme zur Zukunftsplanung“ aus. In diesem nicht juristischen Dokument werden wichtige Aspekte der Geschichte der Familie, zu den Themen Arbeit, Gesundheit, Wohnen und Betreuung und die Wünsche der Person mit einer geistigen Behinderung festgehalten. Das Dokument ist ein zentrales Ergebnis des Kurses. Angesichts dieser Vorteile des Kursangebotes von DeBrine u. a. (2009) wurde auf dessen Grundlage ein an die schweizerischen Bedürfnisse angepasstes Angebot entwickelt und in einem Pilotkurs getestet. Die fünf Kursabende wurden zwischen November 2010 und Februar 2011 durchgeführt und evaluiert. Die Ergebnisse wurden einer begleitenden Expertengruppe vorgestellt und mit ihr diskutiert. Auf der Grundlage der Erfahrungen mit dem Pilotkurs und den Rückmeldungen der Teilnehmenden, der Kursleitenden und der Begleitgruppe kann festgehalten werden, dass bei betroffenen Familien ein Bedarf nach einem Angebot in der vorliegenden Form besteht und dass der Kurs die Gespräche in der Familie fördert und die Zukunftsplanung unterstützt. Darum wurde entschieden, den Kurs über verschiedene Bildungsanbieter durchzuführen und dessen Wirksamkeit mit einer Interventionsstudie zu testen. Im Anschluss an die Interventionsstudie wird der Kurs für andere Personengruppen weiterentwickelt. Ziel der studie Die Studie hat zum Ziel, die Wirkung des Angebotes „Die Zukunft ist jetzt! “ zur Unterstützung der Zukunftsplanung von erwachsenen Menschen mit einer geistigen Behinderung, die bei ihren Eltern leben, mit einer Interventionsstudie zu prüfen und das Angebot bestehenden Anbietern im Erwachsenenbildungsbereich zu übergeben. Methode Zur Überprüfung der Wirksamkeit wird zwischen Januar 2012 und August 2013 eine kontrollierte vergleichende Interventionsstudie mit Prä-Post- Test-Design mit 100 Familien durchgeführt. Die Familien erhalten an einführenden Veranstaltungen Informationen zu rechtlichen und finanziellen Fragen. Danach werden die Betreuungspersonen mit einem standardisierten Fragebogen online oder persönlich zum Stand der Zukunftsplanung und zur subjektiv empfundenen Belastung durch die Betreuungssituation befragt. Die Söhne und Töchter mit einer geistigen Behinderung werden ebenfalls mit einem standardisierten Fragebogen befragt im Hinblick auf ihre Arbeits- und Wohnsituation und bezüglich ihrer Wünsche und ihrer Entscheidungsmöglichkeiten. Die Hälfte der befragten Familien besucht den Kurs „Die Zukunft ist jetzt! “, die andere Hälfte wird der Kontrollgruppe zugeteilt. Ein Jahr nach der ersten Befragung werden die Familien der Interventionssowie der Kontrollgruppe ein zweites Mal zur Situation befragt. erwartungen Die Wirksamkeit des Kursangebotes wird daran gemessen, ob die Familien die Planungstätigkeit aufnehmen bzw. im Planungsprozess voranschreiten. Im Einzelnen sind dies die Planung der finanziellen Vorsorge, die Planung der Betreuung und Verantwortung (Absichtserklärung, Vormundschaft) oder die Planung der Wohnsituation (z. B. Informationen einholen, Eintrag in Wartelisten, Reservationen vornehmen). Aufgrund der Studie von Heller u. a. (2006) können zudem eine Abnahme der subjektiv empfundenen Belastung der Betreuungsperson durch die Betreuungssituation, eine Zunahme von selbst gefällten Entscheidungen durch die behinderte Person sowie eine Zunahme der Besprechungen von Zukunftsplänen der Familienangehörigen mit der behinderten Person erwartet werden. Weitere Informationen sowie literaturangaben können eingeholt werden bei judith.adler@hfh.ch