eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 81/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Das provokative Essay: Die vermessen(d)e Sprachtherapie

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2012
Monica Bürki
Jürgen Steiner
Im Umgang mit dem Themenkreis evidenzbasierte Praxis (EBP) verdienen einige Aspekte eine besondere Aufmerksamkeit. Der Beitrag stellt fünf Punkte in den Vordergrund: Individuum und Kollektiv, Nutzen und Kosten, Teil und Ganzes, Wissen und Handeln, Erwartung und Machbarkeit. Zu jedem Punkt wird eine These aufgestellt. Die evidenzbasierte Praxis ist ein Denkansatz, der zur „besten Praxis“ für die Betroffenen und zur „gerechtfertigten Investition“ durch die Kostenträger führt. Die Begriffe „externe und interne Evidenz“ sind wesentliche Elemente einer EBP, die nur im Zusammenspiel ein Ganzes ergeben. Die Diskussion um die Wirksamkeit der EBP betrifft nicht weniger als den Kern des Faches Logopädie/Sprachheilpädagogik und hat erhebliche berufspolitische Folgen. Auf welcher Modell- und Theoriegrundlage legitimiert sich Handeln für die Betroffenen? Wie hoch ist dabei der Freiheitsgrad therapeutischen Handelns bzw. wie verbindlich sind Empfehlungen und Leitlinien? Wie messen wir Erfolg (Wirkung)?
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185 Die vermessen(d)e Sprachtherapie: Anmerkungen zu einem adäquaten Rahmen für Wirksamkeit Monica Bürki, Jürgen Steiner Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik, Zürich Zusammenfassung: Im Umgang mit dem Themenkreis evidenzbasierte Praxis (EBP) verdienen einige Aspekte eine besondere Aufmerksamkeit. Der Beitrag stellt fünf Punkte in den Vordergrund: Individuum und Kollektiv, Nutzen und Kosten, Teil und Ganzes, Wissen und Handeln, Erwartung und Machbarkeit. Zu jedem Punkt wird eine These aufgestellt. Die evidenzbasierte Praxis ist ein Denkansatz, der zur „besten Praxis“ für die Betroffenen und zur „gerechtfertigten Investition“ durch die Kostenträger führt. Die Begriffe „externe und interne Evidenz“ sind wesentliche Elemente einer EBP, die nur im Zusammenspiel ein Ganzes ergeben. Die Diskussion um die Wirksamkeit der EBP betrifft nicht weniger als den Kern des Faches Logopädie/ Sprachheilpädagogik und hat erhebliche berufspolitische Folgen. Auf welcher Modell- und Theoriegrundlage legitimiert sich Handeln für die Betroffenen? Wie hoch ist dabei der Freiheitsgrad therapeutischen Handelns bzw. wie verbindlich sind Empfehlungen und Leitlinien? Wie messen wir Erfolg (Wirkung)? Schlüsselbegriffe: Interne Evidenz, externe Evidenz, Handlungswissenschaft, Probabilität, Plausibilität The Surveying Speech Therapy: Some Remarks on an Adequate Framework for Effectiveness Summary: Some aspects in the context of evidence-based practice (ebp) merit particular attention. The present article focuses on five points: individual and collective, benefits and costs, part and whole, knowledge and action, expectation and feasibility. A thesis is formulated on each of these points. The evidence-based practice is an approach that may induce the persons concerned to the “best practice” and represents a “justifiable investment” for the cost units. The terms “external and internal evidence” are essential elements of ebp, which only can form a whole when they interact together. The discussion about the effectiveness of ebp affects the core of speech therapy and has considerable consequences in view of the professional policy. Which theoretical basis legitimizes which intervention? Which degree of freedom do the speech therapists have in their interventions, and how binding are recommendations and guidelines? How do we measure success (effect)? Keywords: Internal evidence, external evidence, practical science, probability, plausibility DAS pRovok ATIvE ESSAy VHN 3 | 2012 1 Individuum und kollektiv G rundsätzlich können Empfehlungen, die aus Ergebnissen von Gruppenvergleichen gewonnen worden sind, nur bedingt auf den Einzelfall angewandt werden. Im Einzelfall handeln die Akteure eindeutig und nicht revidierbar, während Gruppenvergleiche und Metaanalysen Wahrscheinlichkeitseinschätzungen generieren. Auch Leitlinien haben nur eine Verbindlichkeit im Sinne von „In der Regel soll/ kann …“. Weder Metaanalysen noch Leitlinien schaffen Wirksamkeitssicherheiten für die individuellen Konstellationen zwischen TH EMEnSTR Ang Evidenzbasierte Logopädie/ Sprachheilpädagogik VHN 3 | 2012 186 MoNica Bürki, JürgeN SteiNer Die vermessen(d)e Sprachtherapie DAS pRovok ATIvE ESSAy Therapeutin und Betroffenen. Zumal die evidenzbasierte Praxis sich nur um das „Ob“ der Wirkung, nicht aber um ein „Wie“ kümmert. Die Sicherheit in der einzelnen Therapie-Situation ist sehr stark gebunden an Beziehung, an die Professionalität der Therapeutin mit entsprechender fachlicher und personaler Kompetenz, an echtes Interesse und ungeteilte Aufmerksamkeit. Dies sind Sicherheiten des Miteinanders und der beruflichen Moral; Fakten der externen Evidenz bilden lediglich eine Basisstation für die interne Evidenz. Die Hauptverantwortung für ein einzelfallbezogenes Handeln trägt eine moralische Instanz, die durch Urteilskraft, Besonnenheit und Kommunikation beschrieben werden kann. 2 nutzen und kosten es ist volkswirtschaftlich legitim, Maßnahmenentscheide unter dem kosten-Nutzen-aspekt zu treffen. Die Logopädie als Fach stellt sich dieser aufgabe. Sie macht einerseits Vorschläge zur effizienz und generiert Daten zur Wirksamkeit, andererseits deklariert sie Lücken in der Versorgung. D ie evidenzbasierte Praxis ist auch Teil eines Kalküls im Schema Nutzen-Kosten- Alternativen. Tendenziell immer stärker limitierten Finanzmitteln stehen dabei tendenziell immer mehr medizinisch-therapeutische Mittel gegenüber. Wirksame Therapien werden als zu finanzierende und (noch) nicht wirksame als im Bedarfsfall oder als finanziell abzulehnend etikettiert. Die Diskussion um Aspekte einer Unterversorgung (z. B. Angebote zur Logopädie bei beginnender Demenz, präventiv intendierte Interventionen im frühen Kindesalter) ist implizit überschattet von der Kostenfrage; die Frage nach möglicherweise bestehender Unterversorgung oder Überversorgung (z. B. Screening und Prozess statt umfangreicher oder mehrfacher Diagnostik, Mitverantwortung und Anleitung zur Co-Therapie als zwingender Teil einer Intensivtherapie) profiliert das Fach unter volkswirtschaftlichem Aspekt. Das Fach Logopädie/ Sprachheilpädagogik ist aufgefordert, die folgenden Maßnahmen umzusetzen: 1. Effizienzoptimierung (z. B. Gruppentherapien, Intervalltherapien, kurze Intensivtherapien, effektive Schnittstellenbearbeitung in der Übergabe von stationär zu ambulant, vermehrte interprofessionelle Planung in der Praxis, Konzentration auf patientenzentrierte Ziele); 2. Indikationsbeschränkung (z. B. die Logopädin als Supervisorin für Sprachförderpersonen, frühe Abgabe des Falles an andere Professionen, Limitierung von Dauer und Umfang mit Bilanzierungen); 3. Indikationsausweitung im Sinne von Konzeptionieren, Erproben und Bewerben von plausiblen, einzelfallerprobten Angeboten im Bereich der Unterversorgung; 4. Indikationsverteidigung im Sinne von Spezialtherapien für Spezialfälle (z. B. nichtevaluierte Therapien bei Beeinträchtigungen der Singstimme usw.). 3 Teil und ganzes Professionelles Handeln bringt Wissen, erfahrung und Urteilsvermögen zusammen, alle drei aspekte sind unverzichtbar, und eine Hierarchisierung ist nicht sinnvoll. „W issen“ ist zunächst einmal facettenreich: Die EBP-Hierarchie plädiert ausdrücklich - warum sonst spräche man von Hierarchie? - für empirisches Wissen als oberste Instanz, Autorität und „Gewissen der Praxis“. Empirisch vorlegbares Wissen ist nur eine Komponente des professionellen Wissens neben sehr vielen anderen (= Clinical Reasoning, vgl. Rathey-Pötzke 2011). Forschungspraxis hat eine Reihe von verschiedensten Forschungsmodellen hervorgebracht. Wir sind, sachlich gesehen, nicht gezwungen, uns auf eines festzulegen (Buchholz 2007 b). VHN 3 | 2012 187 MoNica Bürki, JürgeN SteiNer Die vermessen(d)e Sprachtherapie DAS pRovok ATIvE ESSAy „Wissen“ bedarf immer der Ergänzung: Die externe Evidenz (Studienergebnisse) generiert Kollektivwissen und wünscht zur Deduktion maximale Linearität; die interne Evidenz (Erfahrung) gewinnt Individualerkenntnisse und berücksichtigt maximale Komplexität. Nur beide zusammen, mit Verstand und Intuition integriert, machen die Ganzheit einer evidenzbasierten Praxis aus. Mit dem Ganzen ist also gemeint, dass evidenzbasiertes Handeln aus den drei Grundsäulen Wissen um externe Evidenz, Einbringen der eigenen Erfahrung (als interne Evidenz) und der Integration dieser beiden Evidenzquellen für die Anforderungen des Einzelfalles besteht. Für die erste Säule ist die Basis (überindividuelles) Wissen, für die zweite sind es als Erfahrung abgespeicherte Regelmäßigkeiten und Besonderheiten der eigenen (individuellen) Praxis, für die dritte Beziehung und Kommunikation (interindividuell). Integration bedeutet: Ein allgemeines, überindividuelles, retrospektiv und kollektiv ermitteltes Wissen mit statistischen Einschätzungen für Handlungsoptionen soll abgeglichen werden mit einem heuristischen, speziellen, individuellen, fallbezogenen Urteils-, Entscheidungs- und Erfahrungsschatz. Interne Evidenz ist dabei auch nicht „Privatsache“ der eigenen Praxis; wir möchten von kumulierter interner Evidenz sprechen, wenn Hospitation, Intervision, Supervision und Teambildung als Teil der Profession verstanden werden. Sackett u. a. (1999, 2) schreiben hierzu: „Evidenzbasierte Medizin zu praktizieren bedeutet individuelle klinische Erfahrung mit den besten zur Verfügung stehenden externen Nachweisen aus der systematischen Forschung zu integrieren.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Ohne klinische Expertise werden die Unwägbarkeiten der Praxis von der Evidenz tyrannisiert …“ (ebd.) Je nach Stand der Professionalität, des eigenen Selbstverständnisses und der aktuellen Problembzw. Fragestellung mögen die beiden ersten Säulen (externe und interne Evidenz) unterschiedlich gewichtet werden. Es könnte sein, dass in der Logopädie (wie eventuell auch in der Psychotherapie und in der Psychosomatischen Medizin) die zweite Säule oft ein stärkeres Gewicht hat als die erste - und es könnte sein, dass dies in bestimmten Bereichen der Medizin genau umgekehrt ist. Wenn wir beide Grundelemente - aus vorgegebenen Studiendesigns generiertes Wissen einerseits und Experten- und Erfahrungswissen sowie Urteilskraft andererseits - entsprechend berücksichtigen, handeln wir im Sinne des Ganzen; geben wir dem Statistischen ein Übergewicht, sehen wir Teil statt Ganzes. Die externe Evidenz als ein Teil der evidenzbasierten Praxis ist notwendiger theoretischer Supporter für den Dialog zwischen Therapeutin und Betroffenen, aber eben nicht das alleinige, das hinreichende oder übergeordnete System (vgl. von Suchodoletz 2009). Sie wird ergänzt durch ethische, beziehungsbasierte Kategorien. Für den Einzelfall ist zu fragen: Liegen überhaupt Daten zu diesem individuellen Problem vor? Wenn ja, welche Qualität haben diese? Treffen sie auf den hier vorliegenden Einzelfall zu, d. h. sind sie für diesen hilfreich und integrierbar? 4 Wissen und Handeln Wissen ist grundsätzlich relativer Natur, wenn man als therapeutin aufgefordert ist, unwiderruflich für und mit Betroffenen zu handeln. L ogopädie/ Sprachheilpädagogik ist eine Handlungswissenschaft. Wissen erleichtert planvolles, strukturierbares, begründbares Handeln für den jeweiligen Einzelfall. Wissen steht im Dienste des Handelns und kann sich nur so rechtfertigen. Ohne Konsequenz auf der Handlungsebene wäre alles noch so wissenschaftlich fundierte Wissen für die Logopädie müßig - denn: „Wenn die VHN 3 | 2012 188 MoNica Bürki, JürgeN SteiNer Die vermessen(d)e Sprachtherapie DAS pRovok ATIvE ESSAy Bereiche des epistemischen Wissens und des Könnens miteinander verwechselt werden, ist das Ergebnis Sinnverlust.“ (Buchholz 2007 c, 7) Dabei klafft zwischen „Wissen“ und Handeln ein grundsätzlicher Graben (vgl. Wiesing 2004): n Wissen will generalisieren, versteht sich dabei als vorläufig (d. h. als grundsätzlich korrekturbedürftig) und denkt in Kategorien von wahr und falsch bzw. von zutreffend und nicht zutreffend; n Handeln ist speziell (einzelne Personen in besonderen Situationen in besonderen Kontexten mit besonderen Zielen), Handeln ist unmittelbar und höchstens in der Folge durch neuerliches Handeln teilweise korrigierbar. Handeln kann für die Akteure nicht wahr oder falsch, sondern nur situativ mit eher „guten“ im Sinne von „sinnvollen“ oder mit eher „schlechten“ im Sinn von „unsinnigen“ logischen Konsequenzen verbunden sein. Daher gibt es einen grundsätzlichen Graben zwischen Wissen oder Wirksamkeitseinschätzungen aus Studien und Metaanalysen und zielorientiertem Handeln für den Einzelfall. Das Wissen um diesen Graben ist denn auch der Grund dafür, warum „evidenzbasierte Praxis“ bedeutet, externe Evidenz (Wissen aus Studien) und interne Evidenz (Erfahrung der eigenen Praxis) zusammenzubringen. 5 Erwartung und Machbarkeit Wir sollten die erwartungen an Wirksamkeitsstudien nicht überziehen; sie bieten lediglich einen Basissupport für die Praxis. N ach Hartmann (2012, 61) bewahrt uns die evidenzbasierte Praxis vor der Beliebigkeit (siehe sein Beispiel Stottern) und vor Routinefallen (siehe sein Beispiel Mundmotoriktherapie). Im Fortschreiten zur Professionalität und in der Auftragswahrnehmung für Betroffene träten beide „Behinderungen“ (Letztere wird auch bei Sackett u. a. 1999 ausdrücklich genannt) zwingend dann auf, wenn wir nur mit Expertenmeinungen argumentierten und mit dem niedrigen Evidenzniveau zufrieden wären. Hieraus ergeben sich zwei Fragen: 1. Wie viel Aufwand muss die Logopädie/ Sprachheilpädagogik tatsächlich betreiben, um qualitativ hochwertige, aussagekräftige und unabhängig gewonnene Daten zu generieren? 2. Können dann aus Daten tatsächlich Handlungsempfehlungen abgeleitet werden? Zu Frage 1: Der Aufwand ist enorm, da Nachweise für die sehr unterschiedlichen Störungsbilder mit sehr unterschiedlichen Ausgangslagen und divergierenden „Ko- Morbiditäten“ in sehr unterschiedlichen Altersstufen mit einer nicht kontrollierbaren Eigenentwicklung, die mit sehr verschiedenen Methoden behandelt werden, in mindestens zwei unabhängigen Studien erbracht werden müssen. Vor allem der Fakt, dass „Sprachlichkeit“ nicht als eine einfache Beobachtungsfacette, sondern als ein Konglomerat aus übereinanderliegenden Netzwerken gedacht werden muss, erschwert die Sache. Eine SSES mit oder ohne Verhaltensprobleme, mit oder ohne Elterncompliance, mit oder ohne Migrationshintergrund sieht ziemlich anders aus. Ein Mehr an datenbasiertem Wissen ist selbstverständlich wünschenswert - doch zum Vergleich: im (finanz-)starken Fach Medizin dürfen heute auch nur 10 - 20 % der angewendeten Verfahren als wirksamkeitsüberprüft gelten (Wiesing 2004, 61). Zudem muss die große Objektivität von Studien grundsätzlich relativiert werden. Dies umso mehr, wenn man weiß, dass Wissen generiert wird nach dem Motto „Gemessen wird das Mess- VHN 3 | 2012 189 MoNica Bürki, JürgeN SteiNer Die vermessen(d)e Sprachtherapie DAS pRovok ATIvE ESSAy bare“. Forschung (und auch Ergebnisakzeptanz) ist zu einem Großteil an Macht gekoppelt, ein Teil der Forschung ist Auftragsforschung mit einem erkenntnisleitenden Interesse (vgl. Lauterbach 2001). Die Erwartungen sollten hier also nicht zu hoch gesteckt werden. Zu Frage 2: Die externe Evidenz argumentiert datenbasiert und probabilistisch, die interne Evidenz plausibilitäts- und handlungsbasiert. Es gibt kein „probabilistisches“ Handeln. Das bedeutet: Aus nur einer Evidenzseite können schwerlich Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Vielleicht sollte man beides zusammenbringen; dann muss man die Praktikerinnen in die Diskussion einer „best practice“ einbeziehen. Gerade die aktuelle Debatte um mundmotorische Übungen in der phonetischen Therapie zwischen Hartmann (2010) und Clausnitzer (2011) zeigt, wie man aufgrund unterschiedlicher Daten, einem unterschiedlichen Praxiszugang und unterschiedlichen Prämissen zu verschiedenen Evidenzen, Modellpostulaten und Empfehlungen kommt. Datenbasiert - plausibel - reflektiert - integrierend - zielführend - erprobt - konsensfähig - praxisakzeptiert wären sinnvolle optionale Merkmale der Wirksamkeit. In diesem Sinne könnten wir uns Hartmanns (2012) Titel auch anders vorstellen: „Wenn Datenbasierung alleine entscheiden sollte …“ 6 Schluss D ie Hinweise zum Umgang mit Wirksamkeit sollen systematische Forschung in Richtung mehr externer Evidenz nicht verhindern, wohl aber zur Vorsicht und zur Bescheidenheit aufrufen. Für uns ist die Adäquatheit des Vorgehens (forschend und therapierend) von großer Bedeutung. Es ist nicht einfach „alles erlaubt“, aber unterschiedliche Zwecke verlangen nach unterschiedlichen Konstruktionen. Wiesing (2004, 39f) hat dies für die Medizin „Vielfalt von Paradigmenkomponenten“ genannt. Mit der Forderung nach Vielfalt tritt auch die Forderung nach mehr Interprofessionalität auf den Plan. Folgende Punkte sind klar: n Die EBP kann in einer Unübersichtlichkeit des Wissens bzw. des Wissensstreites nach Kriterien suchen, ordnen, Übersicht schaffen, Wahrscheinlichkeiten bestimmen, bewerten, empfehlen, informieren. Mit dem Wissen um externe Evidenz als nur einer Säule der EBP kann man aber nicht handeln, da nur die Urteilskraft ermöglicht, die Besonderheiten und die Komplexität des Einzelfalles zu berücksichtigen. n Leitlinien sollten als Leitlinien für Regelfälle angesehen werden. Sie sollten so präzise und verbindlich wie nötig und nicht wie möglich sein (Mindeststandards). Sie sollten damit auch offen sein für Begründungen außerhalb üblicher Standards. Leitlinien sollten als Entscheidungszonen, oder, wie Marckmann und Wiesing (2009, 41) formulieren, als „Handlungskorridore“ verstanden werden. n „Wissensbasierte Praxis“ und entsprechend die Ausbildung hierzu definiert sich nach Janssen und Bilda (2011, 36f) auch als die Pflege von Reflexionsfähigkeit und Flexibilität. Soweit wir die erst begonnene Diskussion in der Logopädie/ Sprachheilpädagogik beurteilen können, wird derzeit die „systematische Forschung“ eher forciert gefordert und die „subjektive Erfahrung und Expertenmeinung“ eher tendenziell auf grundsätzliche Weise abgewertet, weil Letztere nur die unterste Stufe der Evidenzhierarchie erreichen kann (vgl. Hartmann 2012). Systematische Forschung ist selbstverständlich begrüßenswert, nicht aber Einseitigkeit. Grundsätzliche Grenzen dieser Engführung auf einen „Goldstandard“ liegen auf methodischer, ethischer und forschungssoziologischer Ebene (vgl. Bobbert 2008). Die- VHN 3 | 2012 190 MoNica Bürki, JürgeN SteiNer Die vermessen(d)e Sprachtherapie DAS pRovok ATIvE ESSAy se Grenzen liegen im Wesen der Handlungswissenschaften begründet. Sie werden nachdrücklich postuliert z. B. in der Psychotherapie unter anderem durch Roberts (2000), Buchholz (2007 a) sowie Caspar (2011), in der Medizin etwa durch Wiesing (2004) und Marckmann/ Wiesing (2009) und sollten auch in der Logopädie bedacht werden. Literatur Bobbert, M. (2008): „goldstandard“ oder Methodenpluralität in der klinischen Forschung am Menschen. Methodische und ethische Fragen. in: Michl, S.; Potthast, t.; Wiesing, U. (Hrsg.): Pluralität in der Medizin. Werte - Methoden - theorien. Freiburg: karl alber Buchholz, M. (2007 a): Der Fall von rct - kritik einer Hierarchie. in: Psycho-News-Letter Nr. 55, Mai 2007 Buchholz, M. (2007 b): Der Fall von rct - es gibt alternativen. in: Psycho-News-Letter Nr. 57, Juli 2007 Buchholz, M. (2007 c): Das können des Unbegrifflichen. ein kleiner Literaturausflug. in: Psycho- News-Letter Nr. 59, Sept. 2007 caspar, F. (2011): Hat sich der störungsspezifische ansatz in der Psychotherapie „zu tode gesiegt“? in: Psychother Psych Med 61, 199 clausnitzer, V. (2011): replik zu dem artikel von erich Hartmann in LogoS interdisziplinär 18/ 4 (2010). in: LogoS interdisziplinär 19, 142 -146 Hartmann, e. (2010): Sinn und Nutzen von Mundmotorikübungen bei Sprechstörungen. in: LogoS interdisziplinär 18, 244 -252 Hartmann, e. (2012): Wenn professionelle expertise zu kurz greift: auftakt zum themenstrang „evidenzbasierte Logopädie/ Sprachheilpädagogik“. in: VHN 81, 60 -63 Janssen, M.; Bilda, k. (2011): Standards für die klinisch-therapeutische ausbildung in primär qualifizierenden Studiengängen der Logopädie. in: Forum Logopädie 25 (3), 32 -37 Lauterbach, k. W. (2001): Die evidenz-basierte Medizin aus gesundheitsökonomischer Sicht. in: Michaelis, J.; raspe, H. (Hrsg.): Die evidenzbasierte Medizin im Licht der Fakultäten. Basel: Schwabe Marckmann, g.; Wiesing, U. (2009): Freiheit und ethos des arztes. Herausforderungen durch evidenzbasierte Medizin und Mittelknappheit. Freiburg: karl alber obermair, W.; Neubarth, r. (2000): Führung durch Zielvereinbarung - ein element von Qualitätsmanagement. in: Peterander, F.; Speck, o . (Hrsg.): Qualitätsmanagement in sozialen einrichtungen. München: reinhardt rathey-Pötzke, B. (2011): entscheidungen im therapieprozess - wie machen wir das eigentlich? ein Blick auf clinical reasoning. in: Forum Logopädie 25 (5), 20 -26 roberts, g. a. (2000): Narrative and Severe Mental illness: What Place Do Stories Have in an evidence-based World? in: advances in Psychiatric treatment aPt 6, 432 -441 Sackett, D. L.; richardson, W. S.; rosenberg, W.; Haynes, B. W. (1999): evidenzbasierte Medizin. eBM-Umsetzung und Vermittlung. Dt. ausgabe: kunz, r.; Fritsche, L. (Hrsg.). germering: Zuckschwerdt von Suchodoletz, W. (2009): Möglichkeiten und grenzen einer therapie von entwicklungsstörungen. in: von Suchodoletz, W. (Hrsg.): therapie von entwicklungsstörungen. Was wirkt wirklich? Bern: Hogrefe, 1 -16 Wiesing, U. (2004): Wer heilt, hat recht? über Pragmatik und Pluralität in der Medizin. Stuttgart: Schattauer Anschriften der verfasser Monica Bürki garavaldi Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich Schaffhauserstraße 239 CH-8050 Zürich Tel.: ++41 (0)44 3 17 12 28 monica.buerki@hfh.ch prof. Dr. habil. Jürgen Steiner Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich Schaffhauserstraße 239 CH-8050 Zürich Tel.: ++41 (0)44 3 17 11 28 juergen.steiner@hfh.ch