eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 81/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2012.art29d
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Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule

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Andreas Eckert
Waltraud Sempert
Basierend auf aktuellen wissenschaftlichen Publikationen der deutschsprachigen als auch der englischsprachigen Fachdiskussion werden in diesem Artikel gegenwärtige Erkenntnisse zu den Qualitätsmerkmalen schulischer Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen zusammengefasst. Im Anschluss erfolgt der aus diesen Erkenntnissen abgeleitete Entwurf einer Systematisierung von Kernbereichen einer autismusspezifischen schulischen Förderung. Diese Systematisierung wird in der Form eines Rahmenmodells vorgestellt, das einen Überblick über relevante Themenbereiche gibt und zugleich als Grundlage für eine wissenschaftliche Analyse schulischer Praxis konzipiert ist.
5_081_2012_3_0004
221 VHN, 81. Jg., S. 221 -233 (2012) DOI 10.2378/ vhn2011.art29d © Ernst Reinhardt Verlag Fachbeitrag Kinder und Jugendliche mit Autismus- Spektrum-Störungen in der Schule Entwicklung eines Rahmenmodells der schulischen Förderung andreas eckert hochschule für heilpädagogik Zürich Waltraud Sempert hochschule für heilpädagogik Zürich Zusammenfassung: Basierend auf aktuellen wissenschaftlichen Publikationen der deutschsprachigen als auch der englischsprachigen Fachdiskussion werden in diesem Artikel gegenwärtige Erkenntnisse zu den Qualitätsmerkmalen schulischer Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen zusammengefasst. Im Anschluss erfolgt der aus diesen Erkenntnissen abgeleitete Entwurf einer Systematisierung von Kernbereichen einer autismusspezifischen schulischen Förderung. Diese Systematisierung wird in der Form eines Rahmenmodells vorgestellt, das einen Überblick über relevante Themenbereiche gibt und zugleich als Grundlage für eine wissenschaftliche Analyse schulischer Praxis konzipiert ist. Schlüsselbegriffe: Autismus-Spektrum-Störungen, Autismus, schulische Förderung, Sonderpädagogik, sonderpädagogischer Förderbedarf children and adolescents With autism Spectrum Disorders in School - Development of a conceptual Framework of educational Support Summary: Based on recent scientific publications, including both the German as well as the English discourse, this article summarizes current findings concerning quality criteria of school support for children and adolescents with Autism Spectrum Disorders. Furthermore a systematic model containing core elements of autism specific support measures is elaborated out of the previously mentioned findings. This is accomplished by presenting a generalized structure that is suitable to provide an overview of relevant topics. The structure serves also to found scientific analysis of daily teaching. Keywords: Autism Spectrum Disorders, autism, educational support, special education, special educational needs 1 autismus-Spektrum-Störungen in der heil- und Sonderpädagogik K aum ein sonderpädagogisch relevantes Thema hat in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten zehn Jahre im deutschsprachigen Raum einen ähnlich großen Bedeutungsgewinn erfahren wie die „Autismus- Spektrum-Störungen“. Mit der Ausrichtung einer Vielzahl fachspezifischer Tagungen sowie der Publikation zahlreicher Überblickswerke als Monografien und Herausgeberbände (z. B. Bölte 2009; Bernard-Opitz 2007; Freitag 2008; Noterdaeme/ Enders 2010; VHN 3 | 2012 222 ANDREAS EckERt, WAltRAuD SEmpERt kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule Fachbeitrag Poustka u. a. 2008; Steinhausen/ Gundelfinger 2010) widmen sich die Heil- und Sonderpädagogik sowie die humanwissenschaftlichen Nachbardisziplinen Medizin und Psychologie diesem Themenfeld gegenwärtig in einem bislang nicht bekannten Maß. Dies kann als ein deutlicher Indikator der wissenschaftlichen Aktualität des Themas verstanden werden. Ergänzend zu den genannten Publikationen, die mit zahlreichen Überschneidungen, aber unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen primär den aktuellen Forschungs- und Wissensstand zu den Themenbereichen Epidemiologie, Ätiologie, Diagnostik, Behandlung und Förderung im Überblick bearbeiten, lassen sich zahlreiche praxisbezogene Publikationen benennen, die ausgewählte Themen fokussieren. Im Vordergrund stehen dabei Veröffentlichungen zu spezifischen Interventionsformen im pädagogischen und therapeutischen Kontext, beispielsweise zum TEACCH-Ansatz (Häußler 2005; Degner/ Müller 2008), zum autismusspezifischen Sozialtraining (Häußler u. a. 2003; Matzies 2010) oder zu verhaltenstherapeutischen Maßnahmen (Danne 2009; Schramm 2007). Das Themenfeld der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung wird in diesen Publikationen vielfach am Rande einbezogen, eine explizite Berücksichtigung erhält es demgegenüber in erster Linie im Rahmen von Fachtagungen, den dazugehörigen Tagungsberichten sowie der Herausgabe von praxisbezogenen Handreichungen und Ratgebern. Vor diesem Hintergrund ist es eine zentrale Zielsetzung der folgenden Ausführungen, den aktuellen fachlichen Wissensstand der deutschsprachigen Diskussion um einen die Gelingensbedingungen schulischer Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung untersuchenden wissenschaftlichen Beitrag zu erweitern. Aufgrund der aktuell differierenden inhaltlichen Schwerpunkte der themenbezogenen Fachpublikationen im deutschsprachigen und im englischsprachigen Wissenschaftskontext erfolgt die Darstellung der gegenwärtigen Fachdiskussionen zunächst sprachraumbezogen. In einem nächsten Schritt werden die Erkenntnisse der internationalen Fachdiskurse zusammengezogen und als Basis für die modifizierte Übertragung eines auf die beschriebene Zielgruppe ausgerichteten Rahmenmodells der schulischen Förderung (Dunlap u. a. 2008) auf den deutschsprachigen Kontext genutzt. 2 Schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autismus-Spektrum-Störungen 2.1 ausgangslage M it einer aus jüngeren Studien hervorgehenden Prävalenzrate von 0,6 - 1 % der Autismus-Spektrum-Störungen (Bölte 2009; DIMDI 2009) ist die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, welche Auffälligkeiten aus dieser Diagnosegruppe zeigen, bemerkenswert hoch. Ungefähr ein Drittel dieser Kinder dürfte nach den Ergebnissen vorliegender internationaler Erhebungen der Diagnose Frühkindlicher Autismus (ICD-10) bzw. Autistische Störung (DSM-IV) zuzuordnen sein (Bölte 2009), die anderen zwei Drittel den weiteren Diagnosen der ICD-10 bzw. DSM-IV-Kategorien der Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, primär dem Asperger-Syndrom sowie dem Atypischen Autismus. Wenngleich nicht alle dieser Kinder und Jugendlichen umfangreiche unterstützende sonderpädagogische Maßnahmen benötigen, werden besondere Handlungskonzepte und -prinzipien in der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus- Spektrum-Störungen in der aktuellen fachlichen Diskussion als sinnvoll erachtet (Att- VHN 3 | 2012 223 ANDREAS EckERt, WAltRAuD SEmpERt kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule Fachbeitrag wood 2008; Bernard-Opitz/ Häussler 2010; Eckhart/ Neff 2011; Moosecker 2009; Noterdaeme/ Enders 2010; Schirmer 2006, 2010 a). Übergeordnete Ziele sonderpädagogischer Förderung, wie sie beispielsweise der Verband Sonderpädagogik 2007 formulierte - so u. a. die Ermöglichung „der persönlichen Autonomie, der sozialen und gesellschaftlichen Partizipation“ sowie „der konsequenten ganzheitlichen Qualifizierung der Heranwachsenden“ (Wember/ Prändl 2009, 45) -, behalten dabei selbstverständlich Gültigkeit. Auf der Ebene der konkretisierenden Feinziele sind jedoch zielgruppenbezogene Ergänzungen notwendig, die den Weg zur Erreichung der übergeordneten Ziele ebnen sollen. Nach Schirmer (2010 a, 23ff) lassen sich diese aus dem jeweiligen autismusspezifischen Förderbedarf ableiten. Bedingt durch die mannigfaltigen Besonderheiten im Lernen und Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum- Störungen, stellen die Suche nach dem geeigneten schulischen Förderort und die konzeptionelle Gestaltung adäquater Rahmenbedingungen und Förderangebote große Herausforderungen für das Bildungssystem dar. Die Vielfalt der schulischen Förderorte, an denen Kinder und Jugendliche mit Autismus- Spektrum-Störungen in den Bildungssystemen des deutschsprachigen Raumes anzutreffen sind, verdeutlicht die Komplexität dieser Aufgabe. Das Spektrum reicht von integrativen und heilpädagogischen Kindergärten über Förderbzw. Sonderschulen für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder einer geistigen Behinderung über integrative Primar- und Sekundarschulen bis hin zu Gymnasien. In der integrativen Förderung variieren die unterstützenden Maßnahmen dabei von einzelnen Lektionen sonderpädagogischer Förderung bis hin zur kontinuierlichen Anwesenheit einer Schulbegleitung, in separativen Settings steht zumeist ein hoher Anteil spezifischer sonderpädagogischer Maßnahmen im Vordergrund. 2.2 Zentrale Pfade der deutschsprachigen Fachdiskussion Mit den im Jahr 2000 veröffentlichten Empfehlungen der deutschen Kultusministerkonferenz zu „Erziehung und Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten“ (KMK 2000) lag erstmals in der deutschsprachigen Diskussion ein umfassender Konzeptentwurf einer spezifischen schulischen Förderung vor. Es folgte eine Vielzahl von vor allem von Interessensverbänden und Schulträgern veranstalteten Tagungen zu dieser Thematik (z. B. Autismus Deutsche Schweiz 2009; Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur 2010; Bundesverband Hilfe für das autistische Kind/ VDS 2003; Figura u. a. 2007), in deren Vordergrund zumeist die Konkretisierung vorhandener Empfehlungen für den unmittelbaren Schulkontext stand. Die Formulierung von Handreichungen auf der schulorganisatorischen Ebene (z. B. Hausotter u. a. 2006; Maier u. a. 2009) sowie die Veröffentlichung praxisbezogener Erfahrungsberichte und Ratgeber aus der Innen- und Außenperspektive (Schirmer 2010 a; Schuster 2009; Tuschel/ Mörwald 2007) entwickelten sich zu weiteren zentralen Bausteinen der aktuellen fachlichen Auseinandersetzung mit der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus- Spektrum-Störungen. Eine zentrale Stellung in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion nimmt die differenzierte Betrachtung bestehender Ausgangsbedingungen der schulischen Förderung auf der kindbezogenen wie auf der institutionellen Ebene ein. Die Passung kindlicher Besonderheiten und Bedürfnisse mit den vorhandenen Rahmenbedingungen einer Schule bezüglich räumlicher, personeller und pädagogischer Gegebenheiten wird als Grundlage für eine optimale Förderung verstanden. Wenngleich in der Fachdebatte zur Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus- Spektrum-Störungen sowohl Befürworter des VHN 3 | 2012 224 ANDREAS EckERt, WAltRAuD SEmpERt kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule Fachbeitrag allgemeinen integrativen Unterrichts wie auch Verfechter einer schulischen Förderung in speziellen Klassen oder Schulen anzutreffen sind, steht weniger die Suche nach der einen adäquaten Schulform als vielmehr eine individualisierend bedarfsorientierte Perspektive hinsichtlich des Förderortes im Vordergrund (Schirmer 2010 a). Mit Blick auf mögliche Besonderheiten von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen bedeutet dies, spezifische Kriterien als Entscheidungshilfen für den Einzelfall zu berücksichtigen. Schirmer (2006) bietet dazu einen Fragenkatalog an, der Eltern die Suche erleichtern soll; Poustka u. a. (2008) wägen die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Schulformen gegeneinander ab; Rollet/ Kastner-Koller (2011) betrachten Chancen und Grenzen integrativer und separativer Förderung. Verbunden mit der Loslösung von der Suche nach der einen „richtigen“ Schulform für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum- Störungen und orientiert an den aktuellen gesellschaftlichen und pädagogischen Entwicklungen der Inklusion sowie der damit einhergehenden Schulvielfalt, steht in der gegenwärtigen fachlichen Diskussion - unabhängig von den Schulformen - die autismusspezifische Erarbeitung von „Empfehlungen für Erziehung und Unterricht“ (KMK 2000), von adäquaten „Schulischen Rahmenbedingungen“ (Noterdaeme/ Enders 2010), von „Standards der sonderpädagogischen Förderung“ (Wember/ Prändl 2009) oder auch von „Strategien und Tipps für den Unterricht“ (Bundesverband Hilfe für das autistische Kind 2005) im Vordergrund. Die Vorgehensweisen bei der Zusammenstellung der jeweiligen Anregungen bzw. Empfehlungen für die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus- Spektrum-Störungen weisen in der deutschsprachigen Fachdiskussion teilweise Überschneidungen auf, können insgesamt jedoch als recht unterschiedlich bezeichnet werden, d. h. sie folgen grundsätzlich keiner einheitlichen Systematisierung. So finden sich zum einen Empfehlungen, die an den autismusspezifischen Besonderheiten der Kinder und Jugendlichen und dem daraus abgeleiteten Förderbedarf ansetzen (Bundesverband Hilfe für das autistische Kind 2005; Maier u. a. 2009; Schirmer 2010 a), zum anderen solche, bei denen ausgehend von allgemeinen (sonder-) pädagogischen Prinzipien eine Konkretisierung mit Blick auf den autismusspezifischen Kontext stattfindet (KMK 2000; Wember/ Prändl 2009). Die Formulierung methodischdidaktischer Grundgedanken sowie förderlicher schulorganisatorischer Rahmenbedingungen bilden in der Regel die Schwerpunkte der Darstellungen, teilweise ergänzt um eine umfeldorientierte Sichtweise. Bezogen auf die methodisch-didaktische Ebene heben Eckhart und Neff (2011, 16f) in ihrer zusammenfassenden Literaturanalyse themenbezogener Publikationen insbesondere die Prinzipien der „Strukturiertheit des Unterrichts und der Lernangebote“, der „Individualisierung und Differenzierung“, der „Rhythmisierung und Ritualisierung“, der „Visualisierung“ sowie einer „Pädagogik der kleinen Schritte“ (Schirmer 2010 a, 107) als häufig genannt hervor. Auf der Ebene primär schulorganisatorischer Rahmenbedingungen betonen sie den Stellenwert angemessener zeitlicher und räumlicher Strukturen (z. B. Klassenzimmergestaltung, Tagesablauf) sowie die Bereitstellung bedarfsgerechter Unterstützungssysteme, z. B. in Form von Assistentinnen und Assistenten (Eckhart/ Neff 2011, 17). Als wichtige Aspekte eines umfeldorientierten Blicks auf die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen werden zudem die bewusste Einbeziehung der Peergroup (Moosecker 2009; Schirmer 2010 b), die interdisziplinäre Zusammenarbeit (Hausotter u. a. 2006; KMK 2000; Schirmer 2010 a; Wember/ Prändl 2009), die Kooperation mit den Eltern (KMK VHN 3 | 2012 225 ANDREAS EckERt, WAltRAuD SEmpERt kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule Fachbeitrag 2000; Schirmer 2006; Wember/ Prändl 2009) sowie die Professionalisierung der Fachkräfte (Noterdaeme/ Enders 2010; Wember/ Prändl 2009) wiederholt erwähnt. Der aktuellen fachlichen Diskussion folgend können diese Komponenten neben den unterrichtsbezogenen Kriterien einen bedeutenden Beitrag zu einer optimalen Gestaltung der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen leisten. 2.3 Zentrale Pfade der englischsprachigen Fachdiskussion Während sich bis heute im deutschsprachigen Raum erst wenige Monografien zum Thema explizit an Fachpersonen richten, die mit der schulischen Förderung betraut sind (Bernard- Opitz 2007; Schirmer 2010 a; Schuster 2009), steht vergleichbare, in den referierten deutschsprachigen Veröffentlichungen jedoch kaum rezipierte englischsprachige Literatur weitaus umfangreicher und bereits seit längerer Zeit zur Verfügung. Gleichwohl berichten Baker/ Welkowitz (2005) und Hanbury (2005) auch für den englischsprachigen Raum von einem sehr starken Anstieg der Veröffentlichungen zur schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen im letzten Jahrzehnt. Mittlerweile stellt sich jedoch zunehmend die Frage, wie sich aus dem stetig wachsenden Wissen aus der Grundlagenforschung, aus der Flut von Publikationen zum Thema, aus dem Praxiswissen unterschiedlicher Interventionsansätze und dem Erfahrungswissen zahlreicher Schulen eine fachdienliche, systematisierte Orientierung erstellen lässt. Dieses Ziel kommt in der Zusammenstellung des Ministry of Education von British Columbia besonders stark zum Ausdruck (British Columbia Ministry of Education 2000), ist aber auch wegleitend für viele andere vergleichbare Publikationen (Ben-Arieh/ Miller 2009; De Boer 2009; Pierangelo/ Giuliani 2008). Auch wenn in der englischsprachigen Literatur zur schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum- Störungen - ebenso wie in der deutschsprachigen - keine einheitliche Systematik auszumachen ist, gehen die meisten Publikationen der Frage einer effektiven, wirkungsvollen schulischen Förderung grundsätzlich zielgerichteter nach (Ben-Arieh/ Miller 2009; British Columbia Ministry of Education 2000; De Boer 2009; Pierangelo/ Giuliani 2008). Gill (2003), Jordan (2003) und Jacobson (2006) zeigen auf der Basis langjähriger Praxiserfahrungen mit Kindern mit Autismus- Spektrum-Störungen auf, wie erfolgreiche Praxis ihres Erachtens idealerweise aussehen sollte. Diese Publikationen thematisieren in erster Linie die Bereiche der Kommunikation, des sozialen Verstehens, der kognitiven Besonderheiten, der Verhaltensauffälligkeiten sowie eines erhöhten Hilfebedarfs und curricularer Anpassungen. Dabei wird implizit von einer Orientierung an den autismusspezifischen Besonderheiten ausgegangen, eine zusätzliche Systematisierung weisen diese Publikationen nicht auf. Eine überzeugend systematisierte Darstellung findet sich demgegenüber bei Hanbury (2005). In seinem Modell werden auf der Basis der Triade autismusspezifischer Beeinträchtigungen (in den Bereichen Kommunikation, soziale Interaktion sowie Interessen und Aktivitäten) nach Wing drei Ebenen möglicher Auswirkungen von Autismus-Spektrum-Störungen beschrieben, die in der pädagogischen Arbeit zu berücksichtigen sind. Auf einer ersten Ebene sind es autismusspezifische Besonderheiten, auf die durch geeignete Strategien einzuwirken ist. Auf einer zweiten Ebene wird den Verhaltensweisen, die mit Autismus- Spektrum-Störungen einhergehen, Beachtung geschenkt. Schließlich werden auf der dritten Ebene Reaktionen und Haltungen, die durch diese Verhaltensweisen bei Peers, Lehrperso- VHN 3 | 2012 226 ANDREAS EckERt, WAltRAuD SEmpERt kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule Fachbeitrag nen oder anderen Bezugspersonen ausgelöst werden können, thematisiert und entsprechend angegangen. Die Hoffnung, eine wirkungsvolle schulische Förderung durch evidenzbasierte wissenschaftliche Studien belegen zu können und für die Praxis in Form von Handreichungen nutzbar zu machen, schätzen Detrich (2008) sowie Romanczyk/ Gillis (2008) als gering ein. Ihrer Ansicht nach wurde nicht zuletzt durch die im Zusammenhang mit dem ‚No Child Left Behind Act‘ in den USA vermehrt aufgekommene Forderung nach Standards und wissenschaftlich belegten Informationen für die Praxis deutlich, dass dies insbesondere im Bereich der Forschung zu den Autismus-Spektrum-Störungen schwer zu erreichen sei, da nur bedingt auf Daten zurückgegriffen werden könne, die einen Vergleich möglich machen. Vor diesem Hintergrund fordern sie, Best-Practice-Richtlinien mit gewissen Vorbehalten zu betrachten (Detrich 2008; Romanczyk/ Gillis 2008). Abschließend soll auf zwei englischsprachige Arbeiten hingewiesen werden, die auf einer Metaanalyse vorhandener Studien nach evidenzbasierten Kriterien beruhen und einen wesentlichen Beitrag für das im Anschluss aufgezeigte Rahmenmodell liefern. Kunce (2003) entwickelte ein integratives Modell effektiver pädagogischer Interventionen, das grundlegende, strukturelle und curriculare Elemente aufeinander aufbauend in Beziehung setzt. Auf der Ebene der grundlegenden Elemente werden die Kooperation von Eltern und Lehrpersonen, ein verstehensorientiertes Assessment, Akzeptanz und Fachwissen berücksichtigt. Bei den strukturellen Elementen steht die Unterstützung in den Bereichen Organisation, Kommunikation und Verhalten im Vordergrund. Die curricularen Elemente umfassen die Bereiche der Fachkompetenzen, der Sozialkompetenzen, der kognitiven sowie der fachübergreifenden Kompetenzen. Die Kombination und Berücksichtigung der einzelnen Elemente gewährleistet, dass der Komplexität der mit Autismus-Spektrum-Störungen verbundenen Besonderheiten Rechnung getragen wird. Die Forschergruppen um Dunlap und Iovannone präsentieren schließlich auf der Basis einer Metaanalyse einer Vielzahl evidenzbasierter Studien aus dem Zeitraum von 1992 - 2002 ein Core-Set mit sechs Bereichen (systematic instruction, individualized supports, structured and comprehensive learning environments, specialized curriculum features, functional approach to problem behavior, family involvement), das einen systematisierten Konsens des Fachwissens im englischsprachigen Raum gut abzubilden vermag (Dunlap u. a. 2008; Iovannone u. a. 2003). 3 Das rahmenmodell der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autismus- Spektrum-Störungen (in anlehnung an Dunlap u. a. 2008) S owohl in der deutschsprachigen als auch in der englischsprachigen Fachdiskussion steht keinerorts infrage, dass für die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen besondere Handlungskonzepte und -prinzipien berücksichtigt werden müssen. Klar ist aber auch, dass es nicht ein einzelnes, besonders erfolgversprechendes Programm gibt, das bei allen betroffenen Kindern und Jugendlichen gleichermaßen angewendet werden kann. Eine ideale schulische Förderung nutzt vielmehr eine Kombination unterschiedlicher, auf die individuellen Besonderheiten eines Kindes oder Jugendlichen abgestützter Strategien und Elemente. VHN 3 | 2012 227 ANDREAS EckERt, WAltRAuD SEmpERt kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule Fachbeitrag Wie sieht nun diese Kombination sinnvollerweise aus? Einen Überblick über erfolgversprechende Strategien aus den zahlreich vorhandenen Fachpublikationen zu gewinnen, ist, wie dargestellt, aufgrund einer teilweise fehlenden Systematisierung, einer unterschiedlich fundierten wissenschaftlichen Abstützung und den unterschiedlichen Ausrichtungen auf verschiedene Adressaten erschwert. Die Entwicklung des folgend beschriebenen Rahmenmodells der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus- Spektrum-Störungen versucht diese Problematik zu berücksichtigen, indem es, basierend auf den Modellen von Kunce (2003) und Dunlap u. a. (2008) und ergänzt um die deutschsprachige Fachdiskussion, acht Kernbereiche schulischer Förderung herauskristallisiert. Als Synthese der bisherigen Forschungsergebnisse umfassen diese Kernbereiche mögliche Qualitätsmerkmale der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus- Spektrum-Störungen. Es folgt eine zusammenfassende inhaltliche Beschreibung der acht Kernbereiche, deren Konkretisierung dem jeweiligen schulischen Kontext angepasst werden kann. 3.1 Systematische Förderplanung Für eine systematische Förderplanung werden neben vorhandenen klinischen Diagnosen weitere Daten über den Entwicklungsstand und über die individuellen Kompetenzen, Interessen und Förderbedarfe gründlich erhoben. Dabei sollten die beteiligten Fachkräfte, aber auch die Eltern zu möglichst differenziertem Wissen über die autismusspezifischen Besonderheiten des betreffenden Kindes gelangen. Diese Informationen werden periodisch ergänzt und aktualisiert. Sie bilden die Grundlage für die Planung des Unterrichts und die Wahl der kurz- und mittelfristigen Ziele. Die so aufgebaute Förderplanung ist darauf bedacht, autismusspezifische, für das Kind realistische Systematische Förderplanung professionalität der Fachkräfte Individualisierte unterstützungsangebote Berücksichtigung der peerbeziehungen Strukturierte lernumgebungen kooperation mit den Eltern Spezifische lehrplananteile Funktionaler umgang mit Verhaltensbesonderheiten abb. 1 Rahmenmodell der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen (in Anlehnung an Dunlap u. a. 2008) VHN 3 | 2012 228 ANDREAS EckERt, WAltRAuD SEmpERt kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule Fachbeitrag und bedeutsame Lernschritte zu ermöglichen. Die Entwicklungen des Kindes werden regelmäßig überprüft und dokumentiert. Ein dementsprechendes Vorgehen kann gewährleisten, dass die schulischen Maßnahmen optimal angepasst sind und dass Lernerfolge nicht dem Zufall überlassen bleiben (Ben- Arieh/ Miller 2009; Dunlap u. a. 2008; Kunce 2003). 3.2 individualisierte Unterstützungsangebote Durch individualisierte Unterstützungsangebote wird die schulische Förderung auf ihre Orientierung an den im Einzelfall bestehenden Handlungsbedarfen hin überprüft und entsprechend angepasst. Dabei werden die im Rahmen der systematischen Förderplanung festgestellten Charakteristika eines Kindes als Grundlage einbezogen. Eine individualisierte Unterstützung kann einerseits durch Anpassungen im Sinne eines Nachteilsausgleichs bei schulischen Leistungstests geschehen, es können Klassen- oder Schulhausregeln in Bezug auf autismusspezifische Besonderheiten angepasst werden, räumliche Gegebenheiten können entsprechend gestaltet oder Stundenplanungen für einzelne Kinder optimiert werden. Andererseits geht es darum, im Bedarfsfall spezifische Fördermaßnahmen und ergänzende Hilfen zur Verfügung zu stellen. Idealerweise sollte das Lehrpersonal gezielt mit Blick auf die Besonderheiten des Kindes ausgewählt werden. Letztlich geht es darum, durch individualisierte Unterstützungsangebote Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen eine weitestgehende Teilhabe am schulischen Alltag zu ermöglichen und eine optimale Passung von schulischem Förderort und individuellen Gegebenheiten zu erreichen (British Columbia Ministry of Education 2000; De Boer 2009; Dunlap u. a. 2008; Iovannone u. a. 2003). 3.3 Strukturierte Lernumgebungen Strukturierte Lernumgebungen gehen auf die für Autismus-Spektrum-Störungen spezifischen Besonderheiten des Lernens ein, indem entsprechende Unterrichtsarrangements getroffen werden. Es handelt sich hierbei um Maßnahmen, wie sie beispielsweise im TEACCH-Ansatz umgesetzt werden. Im Zentrum stehen Vorhersehbarkeit und Nachvollziehbarkeit durch Visualisierung, Routinen, klare zeitliche Strukturen, Vertrautheit der eingesetzten Mittel, kleinschrittige Vorgehensweisen, klare Verhaltensregeln usw. Damit verbunden ist eine klare Führung durch die Lehrperson. Großes Gewicht erhalten visuelle Arbeitsmittel als Hilfen zur Selbstorganisation. Grundsätzlich kann die Unterstützung, die mit einer Strukturierung der Lernumgebung geboten wird, von minimalen Hilfen bis hin zu einer engmaschigen Begleitung variieren, je nach individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen. Durch derart angepasste schulische Settings werden betroffene Kinder befähigt, gesetzte Lernziele unter Berücksichtigung der autismusspezifischen Besonderheiten zu erreichen, Schwierigkeiten zu kompensieren und schließlich zu größtmöglicher Unabhängigkeit zu gelangen (Bernard- Opitz/ Häussler 2010; Iovannone u. a. 2003; Schirmer 2010 a). 3.4 Spezifische Lehrplananteile Die für Autismus-Spektrum-Störungen spezifischen Besonderheiten bringen es mit sich, dass in den Bereichen Kommunikation, soziale Interaktion sowie Aktivitäten und Interessen in der Regel eine spezifische Förderung nötig wird. Eine Erweiterung der Lehrpläne erscheint in diesem Kontext notwendig. Das Training sozialer Kompetenzen, die Förderung kommunikativer Fertigkeiten sowie der bewusste Umgang mit besonderen, vielfach eingeschränkten Interessen und VHN 3 | 2012 229 ANDREAS EckERt, WAltRAuD SEmpERt kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule Fachbeitrag Aktivitäten sind Beispiele spezifischer Lehrplananteile, die auf sehr unterschiedlichen Niveaus bedeutsam sein können. Diese Förderung sollte nicht nur in Einzelsituationen geschehen, sondern in die Planung der Lerninhalte für die Gesamtklasse aufgenommen und integriert werden (Dunlap u. a. 2008; Iovannone u. a. 2003; Kunce 2003; Schirmer 2010 a). 3.5 Funktionaler Umgang mit Verhaltensbesonderheiten Es ist davon auszugehen, dass bedingt durch die Besonderheiten im Kontext der Autismus-Spektrum-Störungen mit sehr unterschiedlichen herausfordernden Verhaltensweisen gerechnet werden muss. Aktuell besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass sich eine Herangehensweise als am erfolgversprechendsten erweist, die nach der Funktion eines schwierig handhabbaren Verhaltens fragt und das Verhalten analysiert, um in der Folge angemessen erscheinende Verhaltensalternativen zu erarbeiten. Konkret kann dies bedeuten, dass potenziell schwierige Situationen soweit möglich bereits im Voraus bekannt sind und somit Absprachen zwischen den Fachpersonen zum Umgang mit möglichen Verhaltensauffälligkeiten getroffen werden können, dass im Bedarfsfall Rückzugsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, dass grundsätzlich hilfreiche pädagogische Maßnahmen zur Verhaltensregulation eingesetzt werden oder dass beim Auftreten massiver Verhaltensprobleme ein individuell angepasstes Krisenkonzept zur Verfügung steht. Durch einen funktionalen Umgang mit Verhaltensbesonderheiten werden ressourcenorientierte Lösungen angestrebt, die problematisches Verhalten so weit wie möglich vermeidbar bzw. gut handhabbar machen. Gelingt dies, ist eine hohe Integrationsbarriere überwunden (Ben-Arieh/ Miller 2009; De Boer 2009; Dunlap u. a. 2008). 3.6 Kooperation mit den eltern Die zentrale Bedeutung der Eltern in der Förderung ihres Kindes lässt sich vor allem anhand der folgenden drei Aspekte herausstellen: Erstens kennen die Eltern die Besonderheiten ihres Kindes am besten und verfügen daher über Informationen, die für die sonderpädagogischen Fachkräfte von Bedeutung sind; zweitens wenden sie vielfach intuitiv im familiären Alltag effektive Strategien an, die die Entwicklung des Kindes fördern und die in die Schule transferiert werden können; drittens nehmen die Eltern eine wichtige advokatorische Rolle für ihr Kind ein. Für die Schule lassen sich aus dieser Sichtweise folgende Konsequenzen ableiten: Die Eltern des Kindes mit Autismus-Spektrum-Störungen sollten in der Schule als Experten für ihr Kind wahrgenommen und in kindbezogene Entscheidungen (z. B. Therapievorschläge) gleichberechtigt einbezogen werden. Die beteiligten Fachpersonen sollten regelmäßig Gespräche mit den Eltern führen, sodass ein gegenseitiger Austausch von Wissen im Umgang mit dem Kind entsteht. Weiter ist es wichtig, dass die Bedürfnisse der Eltern nach Unterstützung aufgegriffen werden können. Die Kooperation mit Eltern ermöglicht eine optimale Vernetzung der vorhandenen Informationen über das betreffende Kind, sodass die Förderplanung und die darauf basierenden Maßnahmen in ein sinnvolles Gesamtsetting eingebettet sind (Dunlap u. a. 2008; Eckert 2008; 2011; National Research Council 2001; Schirmer 2010 a). 3.7 berücksichtigung der Peerbeziehungen Mit Blick auf die Auffälligkeiten in den Bereichen Kommunikation, soziale Interaktion sowie Interessen und Aktivitäten erscheint es von Bedeutung, dass die Peerbeziehungen in der Schule berücksichtigt und gegebenenfalls VHN 3 | 2012 230 ANDREAS EckERt, WAltRAuD SEmpERt kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule Fachbeitrag aktiv gesteuert werden. Idealerweise ist der Umgang mit Verschiedenheit sowie mit Stärken und Schwächen unabhängig vom Thema der Autismus-Spektrum-Störungen an der Schule für die Kinder und Jugendlichen ein vertrauter Unterrichtsinhalt. Es erscheint der aktuellen Fachdiskussion zufolge sinnvoll, positive Peer-Interaktionen gezielt zu ermöglichen, zu unterstützen und im Bedarfsfall auch einzuüben. Die Initiierung und Begleitung von Peerbeziehungen kann dabei zu einer wichtigen Aufgabe der sonderpädagogischen Fachkräfte werden. Gelingt es, positive Peerbeziehungen zu etablieren, können Risiken wie beispielsweise Ausgrenzung oder Mobbing reduziert werden. Zudem kann auf diesem Weg eine günstige Umgebung für das soziale Lernen bereitgestellt werden (Hanbury 2005; Kunce 2003; Schirmer 2010 b). 3.8 Professionalität der Fachkräfte Die konzeptionelle Verankerung heil- und sonderpädagogischer Arbeit, verbunden mit einem ressourcenorientierten Blick auf alle Kinder mit besonderem pädagogischem Förderbedarf, bildet eine wichtige Grundlage professionellen Handelns, auch in integrativen Schulformen. Fachliches Know-how sollte mit Blick auf die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus- Spektrum-Störungen auf verschiedenen Ebenen zur Verfügung stehen: Neben einem Basiswissen im gesamten Schulteam sollten idealerweise mehrere Fachpersonen vorhanden sein, die über ein breites, differenziertes Fachwissen über schulische Förderung bei Autismus-Spektrum-Störungen sowie außerschulische Betreuungs- und Förderangebote verfügen. Als weitere hilfreiche Aspekte lassen sich benennen, dass die Förderung eines Kindes oder Jugendlichen vom Team gemeinsam getragen wird sowie Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten der beteiligten Personen geklärt sind. Dabei werden realistische Erwartungen hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen der Förderung formuliert, sodass die Verantwortlichen keinem unangemessenen Erfolgsdruck ausgesetzt sind. Es besteht ein häufiger gegenseitiger Austausch von Fachwissen und persönlichen Erfahrungen. Dies geschieht sowohl auf informeller als auch auf systematischer Ebene. Der Austausch sollte wenn immer möglich auch mit externen Fachleuten stattfinden, sodass eine Vernetzung und Kooperation im Sinne eines Case Managements gewährleistet ist. Besteht an einer Schule ein derartiges Arbeitsumfeld, so sind die Fachkräfte sowohl von ihrer persönlichen Haltung als auch vom Einsatz ihrer fachlichen Ressourcen her in der Lage, ihr professionelles Handeln optimal in die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen einzubringen (Baker/ Welkowitz 2005; Gill 2003; Hanbury 2005; Jacobsen 2006). 4 ausblick M it der Zusammenführung der dargestellten acht Kernbereiche der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen liegt nun im deutschsprachigen Raum ein Rahmenmodell vor, das den aktuellen Stand der internationalen Fachdiskussion abzubilden versucht. Einen zentralen Stellenwert erhält dabei die Übertragung und Modifikation des Konzeptes der „Six core elements of effective educational practice“ (Dunlap u. a. 2008). Die beschriebenen Kernbereiche greifen sowohl autismusspezifische Besonderheiten und die damit verbundenen Förderbedarfe (systematische Förderplanung, spezifische Lehrplananteile) als auch methodisch-didaktische Gesichtspunkte (strukturierte Lernumgebungen, funktionaler Umgang mit Verhaltensbesonderheiten) sowie Merkmale für die Gestaltung des Schulumfelds und der dazugehörigen VHN 3 | 2012 231 ANDREAS EckERt, WAltRAuD SEmpERt kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schule Fachbeitrag Rahmenbedingungen (individualisierte Unterstützungsangebote, Berücksichtigung der Peerbeziehungen) auf. Die beiden Elemente Professionalität der Fachkräfte und Kooperation mit den Eltern ergänzen das Rahmenmodell schließlich um eine systemische Perspektive. Für die weitere Forschung bildet dieses Rahmenmodell eine fachlich breit abgestützte Basis zur Untersuchung der schulischen Praxis. Es lässt sich beispielsweise fragen, inwieweit sich sonderpädagogische Fachkräfte an den im Modell propagierten Kernbereichen orientieren, in welchen Bereichen die erwünschte Qualität für die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus- Spektrum-Störungen vorhanden ist und an welchen Stellen diesbezüglich Optimierungsbedarf besteht. Ähnliche Fragen lassen sich mit diesem Modell auch im Rahmen einer Selbstevaluation in der schulischen Praxis stellen. Notwendig erscheint schließlich eine empirische Überprüfung des Rahmenmodells, die in einem nächsten Forschungsschritt anhand der Befragung von sonderpädagogischen Lehrkräften mit einem auf der Basis des Rahmenmodells konzipierten Fragebogen erfolgen wird. Literatur Attwood, tony (2008): Ein ganzes leben mit dem Asperger-Syndrom. Alle Fragen - alle Antworten. 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