eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 81/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Dialog: Gemeinsam für das Fehlende.

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2012
Mathias Nelle
Franziska Hänsenberger-Aebi
Franziska Hänsenberger-Aebi verfasste ihre Dissertation „Sehr kleine Frühgeborene und ihre Mütter. Mutter-Kind-Interaktionen der ersten Lebensmonate bei einer Zielgruppe der Heilpädagogischen Früherziehung“ bei Prof. em. Dr. Urs Haeberlin an der Universität Freiburg/Schweiz. Zur Beobachtung der Mutter-Kind-Interaktion wurden während der ersten Lebensmonate der Kinder wöchentlich Filmaufnahmen gemacht, welche die Datengrundlage für den empirischen Teil der Arbeit bildeten. PD Dr. med. Mathias Nelle, Abteilungsleiter Neonatologie der Universitätsklinik für Kinderheilkunde am Inselspital in Bern, fungierte dabei als Untersuchungsleiter. In dieser Funktion gewährte Dr. Nelle der Autorin Zugang zur intensivmedizinischen Abteilung und ermöglichte ihr die Kontaktaufnahme zu Leitern verschiedener anderer Neonatologieabteilungen von Schweizer Spitälern. In einem Telefongespräch - es wurde am 17. Februar 2012 geführt - reflektierten der Mediziner Nelle und die Logopädin und Heilpädagogische Früherzieherin Hänsenberger-Aebi die Untersuchung und unterhielten sich über die Möglichkeiten künftiger -interdisziplinärer Zusammenarbeit ihrer Fachgebiete.
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251 VHN, 81. Jg., S. 251 -256 (2012) DOI 10.2378/ vhn2012.art12d © Ernst Reinhardt Verlag Dialog Gemeinsam für das Fehlende Zusammenarbeit von Medizin und Heilpädagogik an einer Schnittstelle Mathias Nelle Bern Franziska Hänsenberger-aebi olten Franziska Hänsenberger-Aebi verfasste ihre Dissertation „Sehr kleine Frühgeborene und ihre Mütter. Mutter-Kind-Interaktionen der ersten Lebensmonate bei einer Zielgruppe der Heilpädagogischen Früherziehung“ bei Prof. em. Dr. Urs Haeberlin an der Universität Freiburg/ Schweiz. Zur Beobachtung der Mutter-Kind-Interaktion wurden während der ersten Lebensmonate der Kinder wöchentlich Filmaufnahmen gemacht, welche die Datengrundlage für den empirischen Teil der Arbeit bildeten. PD Dr. med. Mathias Nelle, Abteilungsleiter Neonatologie der Universitätsklinik für Kinderheilkunde am Inselspital in Bern, fungierte dabei als Untersuchungsleiter. In dieser Funktion gewährte Dr. Nelle der Autorin Zugang zur intensivmedizinischen Abteilung und ermöglichte ihr die Kontaktaufnahme zu Leitern verschiedener anderer Neonatologieabteilungen von Schweizer Spitälern. In einem Telefongespräch - es wurde am 17. Februar 2012 geführt - reflektierten der Mediziner Nelle und die Logopädin und Heilpädagogische Früherzieherin Hänsenberger-Aebi die Untersuchung und unterhielten sich über die Möglichkeiten künftiger interdisziplinärer Zusammenarbeit ihrer Fachgebiete. Franziska Hänsenberger-aebi (FHa): Das Verhältnis zwischen Medizin und Heilpädagogik war ja nicht immer völlig unbelastet. Um so mehr freute mich Ihre Zusage, sich als Untersuchungsleiter für meine nicht-medizinische Dissertation zur Verfügung zu stellen - und Sie unterstützten mich dann ja wirklich sehr bei der Datenerhebung. Ihr Interesse an interdisziplinären Themen und Ihre Wertschätzung anderer Professionen waren und sind stets spürbar. Hat diesbezüglich ein grundsätzlicher Wandel im Denken von Medizinern stattgefunden? Und was Sie selbst angeht: Gibt es besondere Gründe für Ihr Interesse am Interdisziplinären? Mathias Nelle (MN): Ihre Dissertation unterstützte ich eigentlich aus zwei Gründen: Erstens hatten wir ja bereits im Rahmen anderer Projekte (Lizentiatsarbeit und ein Teilprojekt der Sesam-Nationalfonds-Studie, Anm. FHA) gut zusammengearbeitet. Und zweitens bemühen wir uns im Berner Neonatologie-Team um ein Medizinangebot, welches Eltern auf verschiedenste Arten unterstützen soll und dabei auch unterschiedlich an sie herantreten können muss. Wir haben auf unserer Neonatologie-Abteilung neben der Medizin deshalb bereits verschiedene fachfremde Disziplinen wie z. B. Familienbegleitung, psychologische Beratung, Seelsorge u. a. installiert. Da passte der Bereich der Heilpädagogik deshalb bes- VHN 3 | 2012 252 MatHIaS NEllE, FRaNzISka HäNSENbERgER-aEbI gemeinsam für das Fehlende Dialog tens rein. Schaut man nämlich, wie sich gerade die extremen Frühgeborenen im Kindergarten- oder Schulalter entwickeln, so sieht man, dass zahlreiche von ihnen doch auch sprachliche oder sensomotorische Defizite und - als Folge davon - Schulprobleme mit Lese-Schreibschwierigkeiten haben. Da wäre resp. ist die Heilpädagogik gefragt - nicht zuletzt, weil wir Mediziner oft gar nicht viel von diesen „nicht-organischen“ Problemen wissen, werden zahlreiche Kinder doch erst lange nach der Entlassung erfasst. Wir entlassen manchmal auch Kinder als „gesund“, bei denen dann halt eben doch Probleme - durchaus auch erst im Schulalter - auftauchen können. Leider gibt es bis jetzt erst wenige Angebote aus dem Bereich der Heilpädagogik, welche quasi auch eine engmaschige und verlaufsdiagnostische Information „zurück zur medizinischen Basis“ ermöglichen. FHa: Sie sprechen von wenigen Angeboten seitens der Heilpädagogik. Denken Sie dabei vor allem an Ihre Neonatologie-Abteilung in Bern oder - die Leiter der verschiedenen Neonatologie-Abteilungen pflegen ja regen Austausch - ist dies eine allgemeine Feststellung? Und welches sind denn die bestehenden wenigen Angebote aus der Heilpädagogik? MN: Wir am Insel-Spital machen bisher keine solchen Angebote, auch die anderen Schweizer Neonatologie-Abteilungen bieten meines Wissens keine heilpädagogischen Begleitungen ab Geburt an. Vor allem aus Deutschland weiß ich, dass die Vernetzung zwischen Medizin und Heilpädagogik am ehesten in sogenannten Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) stattfindet. Ob ein solches SPZ zustande kommt oder nicht, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Einerseits natürlich von den Ressourcen, damit verbunden von der Personalkapazität, andererseits aber auch von den inhaltlichen Schwerpunkten, die eine Klinikleitung setzt, von der Vernetzung mit den Pädiatern, die die Nachbetreuung der Kinder übernehmen, von der organisatorischen Einbindung der Neuropädiatrie und anderem mehr. In Bern haben wir zwar kein eigentliches SPZ, bei uns sind aber zahlreiche Disziplinen in eine größere Organisation wie beispielsweise die Kinderklinik eingebunden und heißen dann anders. Ein solches Zentrum ist natürlich hochattraktiv, weil verschiedene Professionen unter einem Dach zusammenarbeiten und quasi integrativ geschaut wird, was die Bedürfnisse des Kindes und/ oder seiner Familie sind. Sinnvoller- und logischerweise müsste die Heilpädagogik natürlich ebenfalls in ein solches Konzept resp. Angebot eingebettet sein. FHa: Wir sprachen über eine „interdisziplinär ab Geburt eingebundene Heilpädagogik“ - offenbar zumindest in der Schweiz noch ein Modell der Zukunft. Interessanterweise bezeichneten es alle an meiner Untersuchung teilnehmenden Mütter - sie wurden ja jede Woche einmal gefilmt und hatten vorher oder nachher die Möglichkeit zum Gespräch, welche jeweils rege genutzt wurde - als positiv und wichtig, sich in dieser Zeit an eine Person mit (heil)pädagogischem Wissen wenden zu können, die weder mit der medizinischen Betreuung noch mit dem privaten Umfeld zu tun hatte. Und alle von ihnen wiesen in irgendeiner Form auf die Bedeutung der Begleitung während des Übergangs von der klinischen Zeit ins häusliche Umfeld hin, welche den abrupten Wechsel von der sehr intensiven Betreuung im Spital zur Alleinverantwortung daheim abfederte. In der Literatur wird dieses Phänomen ja oft beschrieben und dabei festgestellt, dass zahlreiche „Frühchen-Eltern“ zu Hause in ein Be- VHN 3 | 2012 253 MatHIaS NEllE, FRaNzISka HäNSENbERgER-aEbI gemeinsam für das Fehlende Dialog treuungsloch fallen. Anders als die Mütter- Väter-Beratung oder andere Angebote, die von ihrer Auslegung her halt eben wirklich als Angebote nach der Entlassung gedacht sind, wurde von den Müttern meiner Untersuchungsgruppe ganz offensichtlich geschätzt, dass jemand das Kind und die Familie von Anfang an begleitete und dadurch die Geschichte und die Entwicklung des Kindes und seiner Familie von Beginn weg kannte, miterlebte und deshalb auch die besondere Form des elterlichen Stolzes nachvollziehen konnte, es mit dem so kleinen Kind zumindest bis hierher „geschafft zu haben“. MN: Ja genau - Sie sprechen damit etwas sehr Wichtiges an: Der Übergang von der Klinik nach Hause ist eine ganz, ganz wichtige Phase. Es geht zumindest in der ersten Zeit nach der Entlassung auch um die Aufrechterhaltung von Beziehungen zu bereits bekannten Unterstützungssystemen, um so einen Beitrag zur emotionalen Stabilisierung der Eltern zu leisten. Die Gefahr der Destabilisierung besteht übrigens auch, wenn Kinder in andere Abteilungen verlegt werden müssen, was manchmal sehr kurzfristig der Fall sein kann. FHa: Da stellen sich aber schon ein paar wichtige Fragen: n Welche Kinder resp. Familien brauchen eine solche heilpädagogisch ausgerichtete Begleitung durch nicht-medizinische Fachpersonen? n Wie lässt sich eine heilpädagogische von einer psychologischen Begleitung abgrenzen? n Wer soll die zusätzliche Betreuung leisten? Pflegende oder Mediziner werden diese schon aus Zeitgründen kaum erbringen können - und später daheim ja erst recht nicht. Zudem sind sie Teil des klinik-internen und somit als „medizinisch“ empfundenen Angebots. MN: Schwierige Fragen, zumal die Grenze zwischen Heilpädagogik und Psychologie vermutlich oft nicht eindeutig ist … Vielleicht nehme ich als Beispiel für eine mögliche heilpädagogisch ausgerichtete Unterstützung am besten Bezug auf unser Kinder- Kollektiv. Wir haben bei uns viele Hochrisiko-Schwangere und entsprechend viele Hochrisiko-Kinder. Eine Gruppe dieser Hochrisiko-Kinder sind die sehr kleinen Frühgeborenen. Sie werden vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren und wiegen bei der Geburt weniger als 1500 Gramm - pro Jahr betrifft dies bei uns ungefähr 140 Neugeborene. 20 bis 30 % dieser Kinder haben offensichtliche und oft auch schwere Handicaps. FHa: Hier muss ich als Heilpädagogin natürlich einhaken: Was versteht ein Neonatologe unter einem „schweren Handicap“? Sprechen Sie von Behinderungen? Ich denke, dass es im Hinblick auf eine zukünftige Zusammenarbeit wichtig ist, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Dazu gehört natürlich auch, dass Mediziner und Heilpädagogen gegenseitig zu klären haben werden, was sie zum Beispiel unter „Behinderung“ verstehen. MN: Nach unserem Verständnis ist ein Handicap eine Einschränkung in der Entwicklung mit Auswirkungen in einer großen Bandbreite. Diese reicht von leichten, für Laien nicht wahrnehmbaren Phänomenen über mittlere Entwicklungsstörungen wie beispielsweise motorische Auffälligkeiten, die eine Unterstützung durch die Physiotherapie erfordern, bis hin zu schweren Einschränkungen v. a. im Bereich von Senso- Motorik, Sprache und Kognition. Hier sprechen wir Mediziner von einer Behinderung. Eine solche betrifft ungefähr 5 bis 10 % unserer Kinderpopulation. Die meisten der erwähnten Entwicklungserschwernisse resul- VHN 3 | 2012 254 MatHIaS NEllE, FRaNzISka HäNSENbERgER-aEbI gemeinsam für das Fehlende Dialog tieren aus Hirnblutungen oder aus Lungenproblemen. Diese Kinder haben dann auch im weiteren Leben zu kämpfen, und man muss leider davon ausgehen, dass bei ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit Probleme auftreten werden. FHa: Verstehe ich Sie da richtig: Frühgeborene mit Hirnblutungen und Lungenproblemen weisen eine hohe Wahrscheinlichkeit für spätere Entwicklungsprobleme in den Bereichen Motorik und Wahrnehmung, aber auch Sprache, Kognition oder Verhalten - alles Themen der Heilpädagogik! - auf ? Das Vorkommen dieser gesundheitlichen Störungen ist Ihnen resp. Ihrem Team ja bekannt. Müsste man da nicht sagen: Kinder, die eine Hirnblutung oder Lungenprobleme hatten, sind langfristig stark entwicklungsgefährdet. Wir kontrollieren sie deshalb nicht nur medizinisch, sondern bieten hier auch bereits früh eine verlaufsdiagnostische heilpädagogische Begleitung an? MN: Interessanter Gedanke! Man sollte tatsächlich nicht bis zum Auftauchen der Probleme warten müssen, sondern sich das Kind und seine Situation bereits früh anschauen können. Die Frage ist: Welche Disziplin tut dies wann und mit welchem Ziel? Mit anderen Worten: Der Einbezug der Heilpädagogik könnte sehr wohl bereits früh(er) erfolgen und nicht erst dann, wenn Probleme manifest geworden sind. Mein Ziel ist eine interdisziplinäre Sprechstunde eines zur Neonatologie-Abteilung gehörenden Care-Teams, in der wir medizinische, aber eben auch nicht-medizinische Themen zum jeweiligen Kind und dessen Familie besprechen und frühzeitig nach Unterstützungsmöglichkeiten suchen. So könnten quasi am runden Tisch organische und nicht-organische Fragestellungen besprochen werden, also eben, was das Kind nicht nur während seines Aufenthaltes in der Klinik, sondern auch was es post-stationär braucht, was seine Familie benötigt und welche Fachleute das Kind und seine Familie sinnvollerweise im Moment betreuen und begleiten. Die Kinder würden gemeinsam der richtigen Disziplin zugeführt. Und die Heilpädagogik gehörte hier unbedingt dazu! Man hätte so die Möglichkeit, die Medizin länger „im Boot“ zu behalten, also auch dann, wenn keine offensichtlichen medizinischen Probleme da sind, könnte gleichzeitig aber bereits auch die nicht-medizinischen Professionen einbeziehen - also bevor allfällige Probleme auftauchen. Gerade die Heilpädagogik hätte da die Möglichkeit, „professionsverbindend“ zu wirken! Die Frage ist bei all diesen Ideen natürlich immer, wer ein solches Angebot letztlich finanziert … FHa: Gibt es in der Schweiz schon solche Angebote? Wenn nein: Sind Sie der Ansicht, dass diese fehlen, weil sie nicht finanziert werden konnten, weil die Heilpädagogik bisher keine konkreten Vorschläge zur Zusammenarbeit machte oder weil die Medizin die Heilpädagogik - aus welchen Gründen auch immer - letztlich doch nicht in ihren Reihen haben will? Oder konkret am Beispiel meiner Untersuchung gefragt: Profitierte ich dabei von neuen Denkweisen in der Medizin oder hatte ich einfach Glück, dass ich an Sie gelangt bin mit meinem Forschungsanliegen? MN: Vorab: Angebote mit einer bereits ab Geburt beginnenden Zusammenarbeit mit der Heilpädagogik, basierend auf integrativen Konzepten, sind mir zumindest in der Schweiz nicht bekannt. VHN 3 | 2012 255 MatHIaS NEllE, FRaNzISka HäNSENbERgER-aEbI gemeinsam für das Fehlende Dialog Zur Frage, ob die Unterstützung durch Mediziner quasi personenabhängig ist - sagen wir’s mal so: Sie hatten auch Glück … Die Unterstützung durch mich und mein Team widerspiegelt aber unser Medizin- und Kulturverständnis in der Neonatologie in Bern. Es gibt einen ganz klaren Trend - nicht nur bei uns in Bern, sondern auch bei vielen meiner Kollegen! -, über neue Modelle und Formen der Begleitung von Frühgeborenen und ihren Familien nachzudenken. Mit der Umsetzung hingegen hapert es vielerorts noch. So ist Bern beispielsweise die einzige Neonatologie-Abteilung in der Schweiz, welche eine eigene Psychologin - mit einem Pensum von 80 % - angestellt hat. Bei der Spitalleitung haben wir seinerzeit das Projekt als Innovationsprojekt eingegeben. In der ersten Phase mussten wir den Leistungsnachweis in der Praxis erbringen. Zwischen der ersten Skizze und der endgültigen Bewilligung des Projektes lagen etwa fünf Jahre. Die Finanzierung medizinischer Apparate und Geräte z. B., die sehr teuer sind, erfolgt oftmals deutlich schneller … FHa: Aus all Ihren Ausführungen geht klar hervor, dass Sie den frühen Einbezug der Heilpädagogik auf der Neonatologie - quasi als Bindeglied zwischen den Disziplinen - als sinnvoll erachten. Was empfehlen sie uns Heilpädagogen konkret, wenn wir unser Fachgebiet nicht nur auf Ihrer Abteilung in Bern, sondern grundsätzlich in der Neonatologie etablieren möchten? Wohlgemerkt: Es geht mir dabei (noch) gar nicht um den auch ökonomisch interessanten Aspekt, dass Arbeitsstunden von Heilpädagogen weniger teuer sein dürften als solche von Intensivmedizinern … MN: Nun, ein erster Schritt wäre wohl die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Form eines Projekts zum Thema „Heilpädagogik in der Klinik“. Es müsste geschaut werden, welche Kinder überhaupt für die Heilpädagogik von Interesse und wie viele es pro Jahr sind, um dann auch mal eine Rechengröße für eine Bedarfsabklärung zu haben. Wichtig ist aber natürlich auch, dass die Heilpädagogik über ihre Möglichkeiten informiert! Was kann sie leisten? Welche Fragen kann sie mit beantworten? Und um auf das bereits erwähnte Thema der gemeinsamen Sprache zurückzukommen: Wovon sprechen wir eigentlich - und in welchem Kontext? Damit andere, bereits involvierte Professionen einen solchen interdisziplinären Austausch unterstützen, müssen deren Vertreter verstehen, was mit dieser „neuen“ Disziplin gemeint ist. Bald kämen natürlich auch Kostenaspekte ins Spiel: Lässt sich ein Unterschied zwischen präventiver und reagierender Arbeit beziffern oder allenfalls gar das Einsparungspotenzial abschätzen? Dies mündet letztlich in Fragen wie: Sind wir bereit, in die Zukunft zu investieren und nicht nur zu reagieren? Und: Wer finanziert an welchem Punkt welches Angebot? Solche Fragen müssten der Inhalt eines Projekts sein, die Ergebnisse in einem Bericht zusammengefasst und dann einer Spitalleitung vorgelegt werden. FHa: Da gibt es also noch viel zu tun… Die Medizin wird vermutlich aber bei allem hier aufgezeigten Interesse kaum selbst auf die Heilpädagogik zugehen, oder? Es ist wohl eher die Heilpädagogik, die der Medizin ihre Legitimation näherbringen muss … MN: Nun, wir Mediziner wissen viel zu wenig über die Heilpädagogik! Deshalb ist es schon wichtig, dass die Heilpädagogik von ihrer Seite her aufzeigt, was sie macht und was VHN 3 | 2012 256 MatHIaS NEllE, FRaNzISka HäNSENbERgER-aEbI gemeinsam für das Fehlende Dialog sie kann. Was sind die fachlichen Inhalte ihrer Arbeit? Mit welchen Fragen beschäftigt sie sich? Wie stellen Heilpädagogen Behandlungsbedürftigkeit fest? Welches sind die therapeutischen Schwerpunkte? Diese Aufzählung interessanter Anknüpfungs- und Diskussionspunkte ist natürlich nicht vollständig … FHa: Trotzdem bitte ich Sie zum Abschluss unseres Austauschs um eine - vielleicht ganz persönliche - Begründung einer künftigen Zusammenarbeit von Medizin und Heilpädagogik. MN: Im Bewusstsein der Neonatologie hat sich in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen. Was aber nichts an der Tatsache ändert, dass es immer noch zahlreiche Kinder - nicht nur Frühgeborene! - gibt, deren Entwicklung allen medizinischen Fortschritten zum Trotz stark gefährdet ist. Beispiele wie jenes des bereits erwähnten psychologischen Angebots zeigen jedoch, dass unsere Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit nicht-medizinischen Bereichen durchaus erfolgreich sein können. Dies sollte auch Heilpädagogen ermutigen, sich für die zukünftige frühe interdisziplinäre Begleitung von Frühgeborenen zu engagieren! anschriften der autoren PD Dr. med. Mathias Nelle Universitätsklinik für Kinderheilkunde Inselspital Abteilungsleiter Neonatologie Freiburgstraße 15 CH-3010 Bern Mathias.Nelle@insel.ch Dr. phil. Franziska Hänsenberger-aebi Stiftung Arkadis (www.arkadis.ch) Therapie und Beratung Gruppenleitung Logopädie im Frühbereich Aarauerstraße 10 CH-4600 Olten franziska.haensenberger@arkadis.ch