Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Trend: Behinderungen auf der Spur: Zur aktuellen Weiterentwicklung der Pränataldiagnostik am Beispiel des Down-Syndroms
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Tina Mattenklodt
Weniger als fünf Prozent aller Kinder kommen mit schwerwiegenden Krankheiten oder Behinderungen zur Welt (Wassermann/Rohde 2009, 51; Statistisches Bundesamt 2009, 14) – dennoch wird allerorten mit großem Aufwand vorgeburtlich danach gesucht: Eine repräsentative Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigt, dass 85 % der befragten Frauen in ihrer Schwangerschaft mindestens eine pränataldiagnostische Maßnahme durchführen ließen (BZgA 2006, 32).
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325 Trend Behinderungen auf der Spur: Zur aktuellen Weiterentwicklung der Pränataldiagnostik am Beispiel des Down-Syndroms Tina Mattenklodt Technische Universität dortmund Weniger als fünf Prozent aller Kinder kommen mit schwerwiegenden Krankheiten oder Behinderungen zur Welt (Wassermann/ Rohde 2009, 51; Statistisches Bundesamt 2009, 14) - dennoch wird allerorten mit großem Aufwand vorgeburtlich danach gesucht: Eine repräsentative Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigt, dass 85 % der befragten Frauen in ihrer Schwangerschaft mindestens eine pränataldiagnostische Maßnahme durchführen ließen (BZgA 2006, 32). Berücksichtigt man, dass in der Studie die drei Regelultraschalluntersuchungen nicht zur Pränataldiagnostik (PND) zählen, aber von fast allen Frauen in Anspruch genommen werden (ebd., 31f), wird klar, dass PND heute flächendeckend bei nahezu jeder Schwangeren zur Anwendung kommt. In vielen Fällen eröffnet Pränataldiagnostik keine direkten Therapiemöglichkeiten (Wassermann/ Rohde 2009, 90), obwohl sie eigentlich genau darauf abzielen sollte (Maio 2012, 224). Schwangerschaftsabbruchsquoten von über 90 Prozent bei Feten mit Down-Syndrom (Lenhard 2004, 64ff u. 78) zeigen deutlich, dass in diesen Fällen PND auch nicht als Möglichkeit zur indirekten Therapie, sondern rein selektiv genutzt wird. Seit Ende der 1990er Jahre werden zusätzlich zur risikoorientierten Schwangerenvorsorge nach den Mutterschaftsrichtlinien - die in jeder Schwangerschaft z. B. die o. g. drei Ultraschallscreenings und umfangreiche weiterführende Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen vorsehen - Verfahren der Pränataldiagnostik auch als ‚individuelle Gesundheitsleistungen‘ (IGeL) angeboten. Hierbei handelt es sich um medizinische Wunschleistungen, deren Kosten privat getragen werden müssen (Wassermann/ Rohde 2009, 39 und 49). Ob die Zusatzleistungen überhaupt sinnvoll sind und wenn ja, welche davon, ist stark umstritten und die Diskussion von divergierenden Interessen geprägt. Nachdem bisher zur diagnostischen Absicherung eines auch nur vagen Behinderungsverdachts invasiv untersucht werden musste, steht nun ein neuer nichtinvasiver Test zur Verfügung: Allein die Untersuchung einer Blutprobe der Schwangeren ermöglicht künftig ab der zwölften Schwangerschaftswoche die fast einhundertprozentig sichere Diagnose des Down-Syndroms beim Ungeborenen. Erstmals kann also das mit invasiven Verfahren einhergehende Fehlgeburtsrisiko umgangen werden, wobei der Anbieter den Bluttest seit einiger Zeit lediglich als ergänzendes Verfahren nach dem Ersttrimestertest und vor einer Fruchtwasseruntersuchung empfiehlt. Schon jetzt wird auf die bevorstehende Ausweitung des Einsatzbereichs, z. B. auf andere Chromosomenvariationen, verwiesen (Bißwanger-Heim 2012, A697). VHN 4 | 2012 VHN 4 | 2012 326 TiNa MaTTeNklodT die aktuelle Weiterentwicklung der Pränataldiagnostik Trend Befürworter des Tests betonen sein kommerzielles und medizinisches Potenzial (Papageorgiou u. a. 2011, 510) und empfehlen ihn für einen Routineeinsatz in diagnostischen Laboratorien und bei allen Schwangerschaften (ebd., 513). Kritische Stimmen warnen vor der „Entscheidungsfalle für alle“ (Samerski 2011, 41), einem Automatismus der Existenzverhinderung von Kindern mit Down- Syndrom (Bißwanger-Heim 2012, A697) oder sehen durch den Test das Lebensrecht von Menschen mit Down-Syndrom infrage gestellt (Bündnis zum Welt-Down-Syndrom- Tag 2012). Für schwangere Frauen wird durch die Verfügbarkeit eines risikolosen, aber sicheren Tests der Druck weiter steigen, selektive Pränataldiagnostik in Anspruch zu nehmen. ‚Widersetzen‘ sie sich und/ oder bekommen ein Kind mit Behinderung, könnten vermehrte Schuldzuweisungen und eine fortschreitende gesellschaftliche Entsolidarisierung die Folge sein, denn angeblich hatten sie „die Wahl“ (Samerski 2011, 43). Ein weiteres Mal erführe damit die Verantwortung für das vermeintlich vermeidbare Leben mit einem behinderten Kind eine (weibliche! ) Individualisierung. Parallel zu den diagnostischen Weiterentwicklungen der vergangenen fünf Jahre ist ein Wiederaufflammen ökonomischer Argumentationen im Kontext von PND zu beobachten: Schmidt u. a. (2008) plädieren z. B. für die Aufnahme einer bestimmten Variante des Ersttrimestertests in die Mutterschaftsrichtlinien, um Kosten im Gesundheitswesen zu sparen. Ihre Argumentationsführung ist äußerst bedenklich: Die angenommene Kostenreduktion basiert auf einer Hochrechnung, nach der in der BRD flächendeckend bei allen Schwangeren zunächst der Ersttrimestertest, dann bei allen testpositiven Patientinnen eine Fruchtwasseruntersuchung durchgeführt wird und schließlich alle entdeckten Feten mit Down- Syndrom abgetrieben werden. Den Kosten für dieses ‚Gesamtpaket‘ werden die angenommenen „lebenslangen Mehrkosten für eine optimale medizinische und nichtmedizinische Versorgung“ (Schmidt u.a. 2008, 75) gegenübergestellt, die theoretisch lebend geborene „Trisomie-21-Fälle“ (ebd.) verursacht hätten, wenn im Jahr 2004 keinerlei diesbezügliches Screening stattgefunden hätte. Abgesehen von der grundsätzlichen Problematik, ein Menschenleben als reinen Kostenfaktor zu betrachten, werden die Kosten im vorliegenden Fall auf der Basis fragwürdiger Daten kalkuliert und in Relation zum BRD-Bruttoinlandsprodukt eines einzigen Jahres gesetzt. 1 Durch die dargelegten Entwicklungen findet auch die Arbeit von Heil-, Sonder- und Rehabilitationspädagoginnen und -pädagogen vor dem Hintergrund eines großen Widerspruchs statt: Einerseits ist die völkerrechtliche Gemeinschaft durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) erstmals verbindlich übereingekommen, Behinderung als normalen Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft ausdrücklich zu bejahen und darüber hinaus als Quelle möglicher kultureller Bereicherung wertzuschätzen (Bielefeld 2009, 6f). Andererseits durchlaufen fast alle potenziellen Mitglieder ebendieser inklusiv gedachten Gesellschaft eine vorgeburtliche „Selektionspraxis“ (Dederich 2010, 148), in der Behinderung als „leidbedingte Minderung individueller Lebensqualität“ sowie als „psychosozialer und ökonomischer Belastungsfaktor“ (ebd., 147) bewertet und Ungeborenen mit Behinderung der gesellschaftliche Zugang mittels Verhinderung ihrer Existenz verwehrt wird. Wenn Pränataldiagnostik weiterhin unter dem Aspekt des „Wählenkönnens“ (Maio 2012, 233) verstanden wird, also selektive Schwangerschaftsabbrüche mangels ursächlicher Behandlungsmöglichkeiten therapeutische Strategie der Wahl bleiben (Dederich VHN 4 | 2012 327 TiNa MaTTeNklodT die aktuelle Weiterentwicklung der Pränataldiagnostik Trend 2010, 160), wird es durch den neuen Bluttest zukünftig noch leichter, Menschen aufgrund ihrer Behinderungen aus der Gesellschaft auszuschließen. Anmerkung 1 der Vollständigkeit halber sei angeführt: die autorinnen und autoren der Studie problematisieren zwar kurz die ethischen aspekte ihrer Berechnungen, rechtfertigen sie aber mit finanzieller Ressourcenknappheit (Schmidt u. a. 2008, 74) und verweisen auf die individuelle entscheidungsfreiheit der Schwangeren und den angebotscharakter der diagnostik, die keinesfalls zur disposition gestellt werden sollten (ebd., 71). Literatur Bielefeld, Heiner (2009): Zum innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention. essay No. 5. Berlin: deutsches institut für Menschenrechte Bißwanger-Heim, Thomas (2012): Pränataltest zur erkennung von Trisomie 21.Warnung vor automatismus. in: deutsches Ärzteblatt 109 (14), a697 -a698 Bündnis zum Welt-down-Syndrom-Tag 2012 (2012): Gemeinsame erklärung zum Weltdown-Syndrom-Tag 2012. online unter: www. rps.paritaet.org/ uploads/ media/ erklaerung. pdf, 26. 4. 2012 BZga/ Bundeszentrale für gesundheitliche aufklärung (Hrsg.) (2006): Schwangerschaftserleben und Pränataldiagnostik. Repräsentative Befragung Schwangerer zum Thema Pränataldiagnostik 2006. köln: BZga dederich, Markus (2010): der ungeborene Mensch mit Behinderung im lichte der Bioethik - kritische anmerkungen zur diskussion um sein lebensrecht. in: Weiß, Hans; Stinkes, Ursula; Fries, alfred (Hrsg.): Prüfstand der Gesellschaft. Behinderung und Benachteiligung als soziale Herausforderung. Rimpar: edition von freisleben, 147 -166 lenhard, Wolfgang (2004): die psychosoziale Stellung von eltern behinderter kinder im Zeitalter der Pränataldiagnostik. Würzburg: Universität Würzburg. online unter: http: / / opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de/ volltexte/ 2005/ 1216/ , 26.04.2012 Maio, Giovanni (2012): Mittelpunkt Mensch: ethik in der Medizin. ein lehrbuch. Stuttgart: Schattauer Papageorgiou, elisavet a.; karagrigoriou, alex; Tsaliki, evdokia; Velissariou, Voula; Carter, Nigel P.; Patsalis, Philippos C. (2011): Fetal-specific dNa Methylation Ration Permits Noninvasive Prenatal diagnosis of Trisomy 21. in: Nature Medicine, 510 -513 Samerski, Silja (2011): entscheidungsfalle für alle. in: Gen-ethischer informationsdienst Nr. 208, 41 -43 Schmidt, Peter; Hörmansdörfer, Cindy, u. a. (2008): Gesundheitsökonomische aspekte des down-Syndrom-Screenings. Vergleich der Mutterschaftsrichtlinien mit aktuellen algorithmen zur Risikoberechnung. in: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 68, 69 -76 Statistisches Bundesamt (2009): Statistik der schwerbehinderten Menschen 2007. kurzbericht. Wiesbaden Wassermann, kirsten; Rohde, anke (2009): Pränataldiagnostik und psychosoziale Beratung. aus der Praxis für die Praxis. Stuttgart: Schattauer Anschrift der Autorin dipl. reha. Päd. Tina Mattenklodt Technische Universität Dortmund Fakultät Rehabilitationswissenschaften Frauenforschung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung Emil-Figge-Str. 50 D-44227 Dortmund Tel.: +49 (0)2 31 7 55 80 13 E-Mail: tina.mattenklodt@tu-dortmund.de
