Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ - und niemand empört sich!
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2013
Otto Speck
Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz ist seit einigen Jahren eine auffallende Ausweitung des Begriffes „geistige Behinderung“ und damit der Zahl der davon betroffenen Schüler zu beobachten. Merkwürdigerweise wird diese Entwicklung offiziell nicht wahrgenommen. Der Artikel geht der Frage nach, welche Gründe für diese strukturelle Veränderung maßgebend sind und welche Folgen diese sowohl für die Schule für „geistig Behinderte“ als auch für das Gesamtunternehmen schulische Integration/Inklusion haben könnte.
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1 Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ - und niemand empört sich! Otto Speck München Zusammenfassung: Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz ist seit einigen Jahren eine auffallende Ausweitung des Begriffes „geistige Behinderung“ und damit der Zahl der davon betroffenen Schüler zu beobachten. Merkwürdigerweise wird diese Entwicklung offiziell nicht wahrgenommen. Der Artikel geht der Frage nach, welche Gründe für diese strukturelle Veränderung maßgebend sind und welche Folgen diese sowohl für die Schule für „geistig Behinderte“ als auch für das Gesamtunternehmen schulische Integration/ Inklusion haben könnte. Schlüsselbegriffe: Geistige Behinderung, Verhaltensstörungen, Klassifikation, Ressourcenbeschaffer für schulische Integration, Integrationsquote The Miraculous Multiplication of Students with “Mental Retardation” - and Nobody is Outraged! Summary: For several years, a striking extension of the notion of “intellectual disability” - and therefore of the number of the pupils concerned - can be observed both in Germany and in Switzerland. Strangely enough, this fact remains officially unknown. The article reflects on the reasons for these structural changes and on the consequences for both the school for “intellectually disabled” as well as for the concept of school integration and inclusion as such. Keywords: Intellectual disability, behavioural disorder, classification, provider of resources for school integration, rate of integration DaS pROvOkaTive eSSay alarmierende Beobachtungen - ohne Resonanz! Ein authentischer Vorfall (hier mit abgemildertem Vokabular wiedergegeben)! Er bezieht sich auf die tatsächliche und auffallende Vermehrung von Schülern, die seit den 90er Jahren in die Schule für geistig Behinderte aufgenommen werden. Nur vereinzelt wurde darüber berichtet. So hatten 1999 Holtz und Nassal in einer bundesweiten Untersuchung erste empirisch-statistische Hinweise dafür erbracht, dass es sich dabei vor allem um Quereinsteiger aus der Lernbehindertenschule handelte, und zwar in auffallendem Maße um Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten, psychischen und emotionalen Störungen bzw. provoamtliches Nichtwissen Ein Landtagsabgeordneter fragt erstaunt bei der mittleren Schulbehörde nach, ob es wahr sei, dass in den Schulen für „geistig behinderte“ Schüler etwa zu einem Drittel „lernbehinderte“ unterrichtet werden. Die empörte Antwort des entsprechenden Beamten: „Welcher Kerl hat das behauptet? “ VHN 1 | 2013 VHN 1 | 2013 2 OttO SpEcK Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ DaS pROvOkaTive eSSay kantem Störverhalten (96). Ihr Anteil wurde auf insgesamt ca. 38 % geschätzt (97). Theunissen und Schirbort (2003) hatten in einer Untersuchung in Sachsen-Anhalt von einer vergleichbaren Verschiebung berichtet und dabei eine Quote von 40 % ermittelt. Grüning (2005) war bei seiner Erhebung in Brandenburg zum gleichen Ergebnis gekommen (zit. b. Dworschak u. a. 2012, 151; s. auch Speck 2002; 2012). In einer jüngsten empirischen Studie berichteten Dworschak u. a. (2012) über Ergebnisse einer Lehrerbefragung an bayerischen Schulen mit dem F-Schwerpunkt geistige Entwicklung in Bezug auf die Zusammensetzung der Schülerschaft. Dabei zeigte sich eine Dreiteilung der Intelligenzminderungen (gem. WHO 2000, ICD-10): 33 % der Schüler waren einer leichten, 36 % einer mittelgradigen und 30 % einer „schweren“ bzw. „schwersten Intelligenzminderung“ zuzuordnen. Das Auffallende an dieser Zusammensetzung ist das Drittel von Kindern mit einer „leichten Intelligenzminderung“. Diese waren ursprünglich nicht in der Schule für geistig Behinderte vertreten. Das bedeutet, diese Schule ist inzwischen zu einem Drittel durch Schüler aufgestockt worden, für die früher die Lernbehindertenschulen zuständig waren. Es sei daran erinnert, dass die „Schule für geistig Behinderte“ seinerzeit für die bis dahin „schulbefreiten“ und „bildungsunfähigen“ Kinder gegründet worden war, also für Kinder, die damals auch die Sonderschule für Lernbehinderte nicht besuchen konnten. Diesem Umstand entsprachen auch die „Empfehlungen“ des Deutschen Bildungsrates (1973), in denen auf der Basis internationaler Normen für diese Schüler ein Intelligenz-Schwellenwert von drei negativen Standardabweichungen vom Mittelwert veranschlagt worden war; in IQ-Werten ausgedrückt lag dieser unterhalb von etwa IQ 50 (mit individuellen Varianzen). In der genannten Untersuchung konnte außerdem nachgewiesen werden, dass als vorrangige „Zubringer“ für dieses Quereinsteigen die „Förderschulen mit dem F-Schwerpunkt Lernen“ in Betracht kommen (Dworschak u. a. 2012, 73), also die früheren Lernbehindertenschulen. Die pädagogische Besonderheit liegt u. a. auch darin, dass es sich dabei vor allem um Schüler mit Verhaltensstörungen handelt, von denen schon oben die Rede war: Mehr als der Hälfte der Schülerinnen und Schüler im F-Schwerpunkt geistige Entwicklung wird „eine ausgeprägte Problematik des Verhaltens und der Emotionen zugeschrieben“ (ebd., 162). Die hier angesprochene Vermehrung der Schüler an „Förderschulen mit dem F-Schwerpunkt geistige Entwicklung“ spiegelt sich auch in den statistischen Zahlen der Kultusminister-Konferenz der Länder wider (KMK 2005; 2012). Danach ist die Förderschulbesuchsquote dieser Schüler von 1995 bis 2012 von 0,615 auf 1,022 gestiegen, d. h. um 66 %! Dies zur gleichen Zeit, in der die Quoten für die anderen Förderschularten sanken! Dass es sich bei dieser Vermehrung um ein ziemlich kryptisches Verschiebungsphänomen handeln musste, erlebte ich u. a. auf einer geschlossenen Tagung von Sonderschul-Verwaltungsbeamten: Mein Hinweis auf diese Veränderungen stieß auf ein merkwürdiges Desinteresse. Ich hatte mich u. a. auf ein mir privat bekanntes Beispiel eines Schülers bezogen, der von der damaligen Lernbehindertenschule mit der Begründung abgelehnt worden war, er sei dem Lernniveau dieser Klasse nicht gewachsen und zeige auch erhebliche Verhaltensauffälligkeiten. Er bedürfe einer individuellen Förderung, die eine solche Lernbehindertenklasse nicht leisten könne. Diese arbeite immerhin nach einem an die Grundschule angenäherten Lehrplan. Dazu anzumerken ist hier, dass die Lernbehindertenschule damals gerade den neuen Namen „Schule zur indivi- VHN 1 | 2013 3 OttO SpEcK Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ DaS pROvOkaTive eSSay duellen Lernförderung“ erhalten hatte! Als die Eltern gegen die Einweisung ihres Kindes in eine Schule für geistig Behinderte Einspruch erhoben, ihr Kind sei nicht „geistig behindert“, wurde ihnen schulamtlich mitgeteilt, dies habe auch „niemand behauptet“ (! ). Eine eigentlich zynische Folgerung aus dem sonderpädagogischen Namens- oder Etikettenaustausch, zumal die damals in „Schule zur individuellen Lebensbewältigung“ umbenannte Förderschule gem. Bayer. Schulgesetz ausdrücklich „für die Betreuung der Geistigbehinderten zuständig“ war (kursiv O. S.). Aus den Medien war damals zu erfahren, dass dies kein Einzelfall war. Das auffällige an diesen schulischen verschiebungen Die hier kurz angesprochenen Fakten sind in mehrfacher Weise verwunderlich, zumal wenn man davon ausgeht, dass es aus medizinisch- oder genetisch-epidemiologischer Sicht keine Hinweise für eine allgemein zunehmende Verbreitung von Kindern mit einer „geistigen Behinderung“ gibt. Es müssen also Gründe vorliegen, die am ehesten im System Schule zu suchen sind. Einige seien hier kurz genannt: n Erstens handelt es sich um einen antizyklischen Selektionsvorgang: Man wird gewahr, dass ungeachtet aller gleichzeitigen dominanten Bestrebungen um ein möglichst gemeinsames Lernen ein klarer Selektionsmechanismus praktiziert wird, bei dem die Förderschule mit dem F-Schwerpunkt „Lernen“ im Mittelpunkt steht. n Zweitens ist festzustellen, dass ein einzelnes Teilsystem der Förderschulen, die „Lernbehindertenschule“, versucht, sich selbst zu entlasten, und dass ihr dies erst durch die Errichtung der „Geistigbehindertenschule“ ermöglicht worden ist. Ihr bot sich ein Ventil an, das es bisher nicht gab und das sie nun nutzen kann. n Drittens fällt auf, dass in einer gesellschaftlichen Szenerie, in der jegliche Stigmatisierung allgemeine Empörung auszulösen pflegt, die Ausweitung eines erheblich stigmatisierenden Behinderungsbegriffes wie „geistige Behinderung“ weder in der Öffentlichkeit noch innerhalb der Sonder(schul)pädagogik auf nennenswerte Proteste stößt. Wenn im Unterschied dazu der Besuch einer „Lernbehindertenschule“ nachweislich zu erheblichen Nachteilen für die spätere berufliche Tätigkeit führt (Haeberlin 2011), so dürfte dies erst recht für Absolventen einer „Schule für geistig Behinderte“ gelten! n Weiterhin erhält die Schule mit dem F- Schwerpunkt geistige Entwicklung eine völlig veränderte Schülerschaft und damit einen erheblichen Zuwachs an Aufgaben und Problemen. Sie wird zu einem Zentrum für Kinder und Jugendliche mit schweren Mehrfachbehinderungen. n Erstaunlich ist schließlich, auf wie wenig Interesse dieses Thema einer unkontrollierten Problemverschiebung in der Sonder- (schul)pädagogik stößt. Dies gilt auch für die „Schule mit dem F-Schwerpunkt geistige Entwicklung“: sie scheint die neue Entwicklung hinzunehmen. Dramatische vermehrung der „Sonderschüler“ mit geistiger Behinderung in der Schweiz Bevor ich versuche, die aufgezeigten Merkwürdigkeiten näher zu erklären, soll aus der Schweiz berichtet werden. Hier findet ebenfalls eine merkwürdige Vermehrung von „Sonderschülern“ mit einer geistigen Behinderung statt. Ich beziehe mich dabei auf einen in der VHN in Heft 2/ 2012 veröffentlichten E-Briefwechsel zwischen P. Lienhard von der Hochschule für Heilpädagogik Zürich und H.-R. Bischofberger, Leiter der Heilpädagogischen Schule Zürich, einer Schule für Kinder VHN 1 | 2013 4 OttO SpEcK Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ DaS pROvOkaTive eSSay mit geistiger Behinderung. Der Artikel trägt die Überschrift „Warum gibt es immer mehr Schülerinnen und Schüler mit der Diagnose ,geistige Behinderung‘? “ Bischofberger hatte schon vor 10 Jahren wegen der damals auffallend vermehrt verwendeten Diagnose „geistige Behinderung“ Alarm geschlagen. Die Zahl der betroffenen Schüler habe „dramatisch“ zugenommen, allein von 1989 bis 2000 um rund 40 %, und diese Vermehrung habe sich seitdem noch beschleunigt (ebd., 161). Im Jahre 2002 war die Zürcher Schule von 90 Schülerinnen und Schülern auf 120 angewachsen, gegenwärtig seien es 440. Im Gegensatz hierzu sei im gleichen Zeitraum und im gleichen Einzugsgebiet die Gesamtschülerzahl leicht gesunken. Diese Zahlen sind nicht unmittelbar mit deutschen Verhältnissen vergleichbar: n Der Schwellenwert für die Diagnose „geistige Behinderung“ liegt in der Schweiz bei IQ 75, reicht also weit über den Richtwert in Deutschland hinaus (siehe oben! ). Wie mir Kollege U. Haeberlin mitteilte, sei dieser relativ hohe Schwellenwert vor Jahrzehnten von der damaligen überkantonalen Finanzierungsbehörde, der „Invalidenversicherung“, aus finanziellen Motiven festgelegt worden und sollte einem möglichst großzügigen Ausbau dieser Schule dienen; die Kommunen und Kantone wurden entlastet. Inzwischen ist diese Regelung abgeschafft und mit ihr auch der offizielle Schwellenwert von IQ 75. In der Praxis jedoch blieb er irgendwie erhalten und führt nun - verständlicherweise - zu Unsicherheiten bei der diagnostischen Unterscheidung. Dazu muss man wissen, dass für die Erstellung der „Diagnose“ in den meisten Kantonen der Schulpsychologische Dienst zuständig ist, also eine schulexterne Dienststelle; schulextern insofern, als diese nicht einer Sonder- oder Förderschule angehört. Im Unterschied dazu wird das in Deutschland rechtlich vorgeschriebene „sonderpädagogische Gutachten“ von Sonderpädagogen erstellt. (Die Entscheidung trifft die Schulbehörde.) An sich hat der Messwert eines Intelligenzquotienten für pädagogische Zwecke nur begrenzten Stellenwert - übrigens auch der präzis klingende Terminus „Diagnose“. n Die Zahl der „Sonderschüler“ mit einer „geistigen Behinderung“ in dem genannten Bericht bezieht sich nicht allein auf Schülerinnen und Schüler, die in der „Heilpädagogischen Schule“ selber, sprich Geistigbehindertenschule, unterrichtet werden, sondern auch auf Schüler, die merkwürdigerweise ebenfalls als „Sonderschüler“ bezeichnet werden, die aber in der Volksschule integriert (mit heilpädagogischer Hilfe) unterrichtet werden. Diese formale Zuordnung zur „Heilpädagogischen Schule“ hat damit zu tun, dass die heilpädagogische Förderung in der gemeinsamen Klasse durch finanzielle Mittel der Sonderschule zu bestreiten ist. Von den 440 Schülern der Heilpädagogischen Schule der Stadt Zürich ist dies die Mehrheit. Anzumerken ist hier noch, dass es in einigen Kantonen keine Lernbehindertenklassen mehr gibt. In der Stadt Zürich sind diese, auch „Kleinklassen“ genannt, 2007 geschlossen worden. Nach einer persönlichen Mitteilung von H.-R. Bischofberger hat deren Schließung zu einem enormen Anwachsen der Schulplätze in der Heilpädagogischen Schule (für „geistig Behinderte“) geführt: sie verdoppelten sich innerhalb von 3 Jahren! Dabei handelte es sich nicht allein um Schüler mit einer verminderten Intelligenz, sondern auch um solche mit Verhaltensschwierigkeiten. Obwohl auch diese Zahlen aus der Schweiz eine auffallende Vermehrung von „Sonderschülern“ aufzeigen, die als „geistig behindert“ diagnostiziert werden, sind sie zunächst einmal nicht direkt mit den Zahlen in Deutschland VHN 1 | 2013 5 OttO SpEcK Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ DaS pROvOkaTive eSSay vergleichbar. Dies liegt nicht nur an dem unterschiedlichen Schwellenwert zur Klassifizierung (IQ), sondern auch an der Tatsache, dass sich die Erhöhung in der Schweiz in erster Linie auf Schüler bezieht, die „integriert“ in der Regelschule unterrichtet werden. Trotzdem ist diese auffallende Vermehrung in unserem Themenzusammenhang von gemeinsamer Bedeutung Begünstigung der Stigmatisierung Indem Kinder als „geistig behindert“ etikettiert werden, die es nicht sind, werden sie einer unnötigen Stigmatisierung ausgesetzt. Auch wenn aus gesellschaftlicher Sicht inzwischen beachtliche Fortschritte in Richtung einer Entstigmatisierung erreicht worden sind, wiegt das Etikett „geistige Behinderung“ in Teilen der Öffentlichkeit nach wie vor schwer. Ein Beleg dafür wäre das anhaltende Bemühen der deutschen „Bundesvereinigung für Menschen mit geistiger Behinderung“ sowie der „Lebenshilfe Österreich“, dieses Etikett loszuwerden. Im Schulbereich war aus Gründen der Entstigmatisierung schon vor Jahren der Terminus „geistige Behinderung“ durch die Bezeichnung „F-Schwerpunkt geistige Entwicklung“ ersetzt worden. Man hat sich zu fragen, warum sich die benachteiligende Etikettierung „geistige Behinderung“ nun ohne Bedenken ausweiten lässt. Könnte dies damit zusammenhängen, dass „geistige Behinderungen“, die immerhin als schwere oder schwerste Behinderungen angesehen werden, im Unterschied zu anderen Behinderungsarten in der Öffentlichkeit eine Sonderrolle spielen? „Sonderschüler“ als Ressourcenbeschaffer Für die Schweiz wird ein Grund für die Ausweitung der Etikettierung „geistige Behinderung“ vor allem in den Finanzierungsbedingungen des integrativen Unterrichts vermutet: Jedes Kind, das in einer Regelschule wegen seiner Lernund/ oder Verhaltensprobleme speziell gefördert werden soll, braucht das finanzrechtlich erforderliche Etikett, damit die entsprechenden zusätzlichen Fördermaßnahmen eingeleitet und bezahlt werden können (Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma). Im Fall der hier genannten Schüler kommt dafür die Diagnose „geistige Behinderung“ in Betracht. Die entsprechenden Ressourcen für die heilpädagogische Hilfe an den Regelschulen werden über die Sonderschule abgewickelt, also nicht direkt der allgemeinen Schule zugeteilt. Mit den Worten von H.-R. Bischofberger ausgedrückt, wird das ressourcenoffene Sonderschulsystem vom Regelschulsystem, an dem gespart wird, gewissermaßen „gemolken“. Jeder diagnostizierte Einzelfall erbringt der Regelschule zwingend zusätzliche Ressourcen. Jeder dieser „Sonderschüler“ werde so zum „Goldesel“. Gleichzeitig entlaste sich die Regelschule. „… wo ein Angebot im Sonderschulbereich ist, wird es als Ventil für die Regelschule auch genutzt.“ (Lienhard/ Bischofberger 2012, 161) Das Etiketten-Ressourcen-Dilemma führt also zum Ressourcen-Beschaffungs- Effekt! Kinder mit Beeinträchtigungen der Entwicklung und des Lernens fungieren als Ressourcenbeschaffer. Neo-geistig Behinderte - ausdruck einer systemischen Fehlentwicklung Die aufgezeigte Tatsache einer auffallend wenig beachteten Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ kann als ein Wildwuchs oder als eine systemische Fehlentwicklung gesehen werden. Systemisch bedeutet hier, es werden in einzelnen Teilsystemen aus mehr oder weniger opportunen Gründen neue Fakten geschaffen, ohne dass diese Neuerungen mit dem Gesamtsystem Schule in VHN 1 | 2013 6 OttO SpEcK Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ DaS pROvOkaTive eSSay jeder wichtigen Hinsicht hinreichend abgestimmt und deren Nebenwirkungen einkalkuliert wären. Als besonders kritisch sind folgende Punkte anzusprechen: „Sonderpädagogischer Förderbedarf“ - ein unbestimmter Zuteilungsbegriff Eine verwirrende Rolle für die Platzierung von Schülern spielt (in Deutschland) der unbestimmte Begriff des „sonderpädagogischen Förderbedarfs“. Er wird sowohl auf Förderschulen als auch auf integrierende allgemeine Schulen bezogen. Im letzteren Fall zeigt er eine enorme Dehnbarkeit. Sie reicht bis zu den verschiedensten „Lern- oder Entwicklungsstörungen“, wie sie vor allem in einer medizinischen Klassifikation psychischer Störungen gängig sind und eine wesentlich größere Verbreitung aufweisen. Beispielsweise wird allein für die Prävalenz von ADHS eine Quote von 4,2 - 6,0 % aller Kinder und Jugendlichen gemeldet (Schlack u. a. 2007, 833). Indirekt unterstützt wird diese Ausweitung „sonderpädagogischen“ oder sonstigen individuellen Förderbedarfs durch den Umstand, dass immer häufiger psychologische und kinderpsychiatrische Gutachten zur Klärung schulischer Platzierungen eingeholt werden. Da diese sich nur bedingt an schulischen Kategorien orientieren, zumeist am Gesundheitsbegriff, besteht die Gefahr, dass das Fördersystem an bestimmten Stellen ins Schlingern gerät. Der außergewöhnliche Schwellenwert für „geistige Behinderung“ in der Schweiz, aber auch in Deutschland (IQ 75 vs. IQ 50), hat auch insofern verzerrende Folgen, als er bei einem Vergleich der sogenannten Integrationsquoten zu überhöhten Werten führt: So kann in Zürich eine I-Quote von mehr als 50 % aller integrativ unterrichteten „Sonderschüler“ mit einer geistigen Behinderung vermeldet werden, während es in Deutschland nicht einmal 3 % sind. Mit der sogenannten Integrationsquote kann man zwar auf dem Quotenmarkt Eindruck machen: Wer hat die meisten Kinder „integriert“? Im Grunde aber ist sie eine Irreführung der Öffentlichkeit, und zwar dann, wenn mit ihr der unbestimmte Begriff des „sonderpädagogischen“ Förderbedarfs gleichgesetzt wird und der Eindruck entsteht, es handle sich um Schüler, die ansonsten eine Sonder- oder Förderschule hätten besuchen müssen und nun durch Integration vor einer schulischen Separation „bewahrt“ würden. Dass dies keineswegs der Fall ist, zeigt im Besonderen das Beispiel der USA (Speck 2011): Hier beträgt die I-Quote sensationelle 96 %! Man könnte also folgern, hier seien so gut wie alle Kinder mit „disabilities“ („Behinderungen“? ) schulisch integriert und die Sonderschulbesuchsquote sei dementsprechend eine minimale. Dem ist aber nicht so: Sie liegt bei 3,6 %, also im internationalen Durchschnitt! Der scheinbare Widerspruch erklärt sich daraus, dass in den USA der schulinterne Stützunterricht (remedial education, individual education program IEP) so weit ausgebaut ist, dass 12 % aller Schulkinder davon profitieren. Diese Menge übersteigt die durchschnittliche Quote von früheren und jetzigen Schülern in Sonderschulen um das Dreibis Vierfache. Sie kommt übrigens aus Finanzierungsgründen zustande: Wann immer in den USA eine Schule einen Schüler mit dem dehnbaren Begriff disabilities meldet, erhält sie zusätzliche Ressourcen! „Geistige Behinderung“ - eine nach oben offene kategorie? Ein Grund für diese Klassifizierungs- oder Platzierungsproblematik ist in der offensichtlich beliebigen Beweglichkeit des IQ-Schwellenwertes für die Diagnose „geistige Behinderung“ zu sehen. Sie ist vor allem dann kritisch zu sehen, wenn sie zu einem Vehikel für die Zuteilung von Geldern benutzt werden kann, VHN 1 | 2013 7 OttO SpEcK Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ DaS pROvOkaTive eSSay also gewissermaßen zu einer Handelsware wird. Trotzdem ist festzuhalten, dass es zwar keine „harte“ Objektivierungsmarke für das gibt, was wir als „geistige Behinderung“ von anderen Behinderungen abzugrenzen versuchen, dass aber IQ-Werte - auch international gesehen - dabei dennoch eine unverzichtbare und am ehesten objektivierbare diagnostische Orientierungsmarke darstellen. Deren Festsetzung für die in Deutschland neugeschaffene „Schule für geistig Behinderte“ in den sechziger Jahren wurde von den Schulfähigkeitsmaßstäben her bestimmt, die bis dahin für Schüler der „Schule für Lernbehinderte“ galten (siehe oben! ). Der in der Schweiz - aus welchen Gründen auch immer - praktizierte erhöhte Schwellenwert von IQ 75 entbehrt einer hinreichenden heilpädagogisch-wissenschaftlichen Begründung insofern, als er nicht dem international üblichen statistischen Schema der Intelligenzabweichungen entspricht. Er liegt zwischen der ersten (> IQ 85) und der zweiten Standardabweichung (> IQ 70). Kinder mit letzteren Werten werden auch dem Normalbereich zugerechnet. Man kann sie in jeder Grundschulklasse finden. Hier können also integrierte „Sonderschüler“ mit einer diagnostizierten „geistigen Behinderung“ neben Schülern sitzen, die schlechtere Schulleistungen aufweisen und möglicherweise einen niedrigeren IQ haben. Der überhöhte IQ-Schwellenwert in der Schweiz hat inzwischen de facto eine Parallele in Deutschland gefunden, erzeugt durch die Verschiebung von Schülern mit einer leichten Intelligenzminderung (unterhalb IQ 70) aus der Lernbehindertenschule in die Schule mit dem F-Schwerpunkt geistige Entwicklung, gleichbedeutend mit „geistiger Behinderung“. Fragt man nach weiteren Begleitumständen für die hier aufgezeigte Ausweitung des Begriffes der „geistigen Behinderung“, so ist das Internationale Klassifikationssystem ICD-10 (WHO 2000) zu nennen. Hier ist bei der „leichten Intelligenzminderung“ (IQ-Bereich 50 - 69) zusätzlich der Terminus „leichte geistige Behinderung“ (kursiv O. S.) zu finden. In der Erstausgabe der ICD (1977) war an gleicher Stelle lediglich der alte Begriff der „Debilität“ hinzugefügt gewesen. Das bedeutet, dass nun jede „Intelligenzminderung“, auch wenn sie nur als „leichte“ verstanden wird, als „geistige Behinderung“ zu gelten hat: eine bedauerliche terminologische Überziehung; denn sie hat zur Folge, dass sich damit die Zahl der Kinder mehr als verdoppelt, die per Gutachten als „geistig behindert“ diagnostiziert werden können, obwohl sie es nicht sind, jedenfalls nicht seit der Einführung des Begriffes „geistige Behinderung“ in Deutschland (1958). Es fehlte nur noch, dass aus dieser willkürlichen terminologischen Veränderung, die noch dazu aus einem medizinisch orientierten Klassifikationsschema stammt, nun eine entsprechende Umgestaltung der pädagogischen Terminologie und des Schulwesens gefolgert würde! Die Heilpädagogik war einst stolz darauf, sich von fachfremden Begriffen als Leitbegriffen gelöst und eine eigene Terminologie aufgebaut zu haben. problementlastung rechtfertigt nicht schulische Selektion Als wichtiger Grund für die auffallende Vermehrung von „Sonderschülern“ mit geistiger Behinderung wird seitens der abgebenden Schule geltend gemacht, dass sie überfordert sei, das betreffende Kind hinreichend zu fördern, was im Grunde auch heißt, dass sie sich entlasten will. In der Schweiz, jedenfalls da, wo es keine Lernbehindertenklassen mehr gibt, ist es die Regelschule, die sich entlasten und vermehrt leistungsschwache Schüler als „geistig behindert“ an die „Heilpädagogische Schule“ abgeben will. In Deutschland sind es in erster Linie die Schulen mit dem F-Schwerpunkt „Lernen“, also die früheren „Schulen für VHN 1 | 2013 8 OttO SpEcK Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ DaS pROvOkaTive eSSay Lernbehinderte“, die am häufigsten belastende Schüler an die „Schulen mit dem F-Schwerpunkt geistige Entwicklung“ melden (Dworschak u. a. 2012). Dass es sich dabei um einen Entlastungsversuch handelt, lässt sich auch daraus ableiten, dass es vor allem Schüler mit zusätzlichen Verhaltensstörungen, d. h. mit empfindlichen Unterrichtsstörungen und -belastungen sind, die vermehrt transferiert werden. Das erhöhte Bestreben der Lernbehindertenschule nach Entlastung, soziologisch gesagt nach Reduktion einer allzu großen Schüler- Heterogenität und -komplexität, ließe sich auch damit erklären, dass sie ihr Image aufzubessern versucht, die eigenen Lernziele und ihr eigenes Lehrniveau erhöht, um ihren Schulabgängern bessere Chancen für ihre weitere Lebenslaufbahn zu verschaffen. Müssen aber dafür die weniger leistungsfähigen und weniger angepassten Schüler den Preis bezahlen, abgewertet und zu „geistig behinderten“ gemacht werden? Bloße Entlastung aufgrund schulsystemischer Unzulänglichkeiten mittels bloßer Ausgliederung ist pädagogisch nicht zu rechtfertigen und darf nicht hingenommen werden. Jede Schulart müsste so konstituiert sein, dass sich die ihr - nach allgemein akzeptierten Normen - zugeteilten Schüler, seien sie noch so unterschiedlich in ihren individuellen pädagogischen Ansprüchen, darin wohlfühlen und vor Verschiebungen sicher sein können. Dazu müsste freilich jede Schule über diejenigen Ressourcen und schulinternen Fördersysteme verfügen, die für bestimmte Schüler zusätzlich notwendig sind. Geradezu peinlich wirken die formalen „Tricks“, die es ermöglichen, ein Kind zu einem „geistig behinderten“ zu machen, um es abgeben zu können: unbestimmte Fachtermini, unklare Maßstäbe! Auf jeden Fall befremdet ein solches Selektieren gerade zu einer Zeit, in der das Inklusionsprinzip zum Hauptthema der Heilpädagogik geworden ist. Da sich dieses schulische Ausgliedern im Besonderen auf Kinder mit einer geistigen Behinderung und mit Verhaltensstörungen bezieht und mit schuleigenen Entlastungsbedürfnissen begründet wird, ohne dass es zu nennenswerten Protesten dagegen kommt, befremdet in besonderem Maße. Im Übrigen: Wenn es der Lernbehindertenschule primär darauf ankommt, ihr Image durch ein höheres Lehr-Lern- Niveau zu verbessern und ihren Schulabschlüssen mehr Geltung zu verschaffen, so muss sie sich auch bewusst sein, dass sie sich damit der Allgemeinen Schule - auch in Bezug auf die Intelligenz ihrer Schüler - so weit angenähert hat, dass es für sie schwieriger wird, ihre Eigenexistenz zu rechtfertigen. Überforderung der Schule für geistig behinderte Schüler Wie im Besonderen aus der Untersuchung von Dworschak u. a. (2012) hervorgeht, hat sich die „Schule mit dem F-Schwerpunkt geistige Entwicklung“, bedingt durch die Erhöhung der Heterogenität ihrer Schüler, in ein Sammelbecken für Schüler mit der höchsten Quote an schwerwiegenden Mehrfachbehinderungen und demnach höchsten heilpädagogischen Ansprüchen verwandelt. Man hat sich zu fragen, ob und wie lange diese Schule die ihr damit gestellten Aufgaben noch sinnvoll wird erfüllen können bzw. ob sie nicht jetzt schon überfordert ist. An sich ist sie ihrer Überfüllung nicht einfach ausgeliefert. Sie hat ein Mitbestimmungsrecht bei der Aufnahme. Möglicherweise sieht sie in einem Zuwachs an intelligenteren und leistungsstärkeren Schülern auch ein Positivum: sie kann ihr Leistungsniveau erhöhen. Sie wird aber überfordert, wenn sie mit zu vielen Problemen, d. h. mit „Restproblemen“ anderer Schularten eingedeckt und alleingelassen wird. Speziell Verhaltensstörungen dürfen VHN 1 | 2013 9 OttO SpEcK Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ DaS pROvOkaTive eSSay keine allgemein tolerierte Begründung für eine Abschiebung in die Schule für geistig Behinderte bilden. Möglicherweise hat sie als „letztes Rad“ am Schulsystem wenig Chancen, sich gegen diese Überforderung zur Wehr zu setzen. Sie verfügt im Unterschied zu anderen Schularten über kein Ventil, sich durch Überweisung von Schülern zu entlasten. Möglich ist auch, dass sie bereits resigniert und sich darauf eingestellt hat, dass ihre Probleme die letzten sind, für deren Behebung sich das Bildungssystem als Ganzes bzw. die öffentliche Hand engagiert. Schließlich sind ihre Ressourcen seit Jahren trotz wiederholter Proteste gekürzt worden! Die steigende Schülerzahl stößt zudem auf das begrenzte Fassungsvermögen der bisherigen Schulgebäude: In München z. B. muss die einzige öffentliche Schule für geistig Behinderte wegen totaler Überfüllung aus der Stadtmitte an den Rand verlegt und dort, wesentlich vergrößert, neu gebaut werden. Es könnte hier eingewendet werden, das Problem mit der schulischen Klassifizierung und Zerteilung fiele weg, wenn es nur noch eine Schule für alle, also keine spezialisierenden Förderschulen mehr gäbe. Dem wäre zu entgegnen, dass Heterogenität im Schulsystem stets auch Gruppendifferenzierungen in den verschiedensten Formen nach sich zieht. Eine alle befriedigende „inklusive Schule für alle“ ist im Übrigen nicht in Sicht. Die inzwischen aufgetretenen Probleme zeigen, dass für die Umsetzung einer integrativ/ inklusiven Schule schulische Differenzierungen, zumindest im Sinne von „Regel und Ausnahmen“, notwendig sind (Speck 2011). Diese setzen aber eine Gesamtplanung mit verbindlichen Regelungen, vor allem mit einer schülergerechten und schulisch praktikablen Finanzierung voraus. Das Fehlen der nötigen Ressourcen pro Schule bedingt im Grunde das hier aufgezeigte Dilemma. Respice finem! - achte darauf, was am ende herauskommt! Die hier angesprochenen Probleme einer künstlichen Mehrproduktion „neo-geistig behinderter“ Schüler und der damit verbundenen Nebenwirkungen können als ein Ergebnis des Aufeinanderstoßens verschiedener Unzulänglichkeiten des Schulsystems einerseits und einer zu wenig vorbereiteten Umsetzung des Inklusionsprinzips andererseits angesehen werden. Es entsteht die Gefahr, dass durch diese initialen und partiellen Kollisionen Fakten geschaffen werden, die Kinder mit Behinderungen benachteiligen können und die später nur schwer korrigierbar sein dürften. Es ist also bei allen Maßnahmen, die heute irgendwo und irgendwie eingeleitet werden, auch das Ende solcher in Gang gesetzter Teilprozesse zu beachten. Es wäre zu kurz gedacht, den eingetretenen Zustand als bloße „Kinderkrankheit“ abzutun, die von selber heilt, die man also sich selbst überlassen könnte, wie es gegenwärtig vielfach der Fall ist. Es handelt sich vielmehr um strukturelle Schieflagen und Stagnationen innerhalb des Bildungssystems als Ganzem, die darauf zurückzuführen sind, dass die nötigen Ressourcen fehlen, vor allem aber, dass das Gesamtsystem Schule nahezu unberührt bleibt. Solange die Allgemeine Schule nicht die absolut nötigen zusätzlichen Ressourcen erhält, um leistungsschwächere, u. a. auch „lernbehinderte“ Schüler innerhalb des eigenen Systems (wenn nötig mit sonderpädagogischer Unterstützung) entsprechend „hochwertig“ fördern zu können, wie es in Art. 24 der UN-BRK ausdrücklich heißt, werden die Probleme zunehmen. Die Regelschulen werden solche Schüler nach Möglichkeit an die Förderschulen abzugeben versuchen, solange sie nicht für solche zusätzlichen Aufgaben hinreichend ausgestattet, also überfordert sind. Was die verbleibenden, schulisch real nicht integrierten Schüler und die mit ihnen entstehende Neo-Geistigbehindertenschule betrifft, so könnte gesagt werden, in diesen Veränderun- VHN 1 | 2013 10 OttO SpEcK Die wundersame Vermehrung von Schülern mit „geistiger Behinderung“ DaS pROvOkaTive eSSay gen zeichne sich eben die Zukunft einer neuen Schule für „geistig behinderte“ Schüler mit gehobenerem Lehr-Lern-Niveau ab, auf die man sich einzustellen habe. Wenn man aber in Betracht zieht, dass mit einem möglichen Wegfall der Lernbehindertenschule die Zahl der „neogeistig behinderten“ Schüler erheblich weiter eskalieren dürfte, drohen neue Probleme, und zwar vor allem für die schwächsten Schüler dieser Neo-Geistigbehindertenschule: Wer die Geschichte der Schulen samt Förderschulen kennt, der weiß, dass schulpädagogisches Streben nach höherem Leistungsniveau letztlich einen „Rest“ zu erzeugen pflegt, der zum „Ballast“ wird, dessen man sich möglichst zu entledigen versucht. Könnte nicht am Ende dieser unaustilgbar erscheinenden Entlastungsspirale auch die Neo-Schule für geistig Behinderte sich demnächst genötigt sehen, sich wegen Überforderung von den schwerstbehinderten Schülern zu trennen und sie einer Tagesstättenversorgung zu überlassen, wie in anderen Ländern? Damit käme aber der Alt-Begriff der „Schulbildungsunfähigkeit“ wieder zu Ehren - und machte neue Probleme. Wird diese Lösung - implizit und verdeckt - toleriert? Literatur Deutscher Bildungsrat (Hrsg.) (1973): Empfehlungen der Bildungskommission „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“. Bonn: Deutscher Bildungsrat Dworschak, W.; Kannewischer, S.; Ratz, ch.; Wagner, M. (Hrsg.) (2012): Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (SFGE). 2., überarb. Aufl. Oberhausen: Athena Haeberlin, U. (2011): Behinderte integrieren - alles klar? In: VHN 80, 278 -283 Holtz, K. L.; Nassal, A. 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