eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Zur Häufigkeit von Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit geistiger Behinderung

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2013
Dagmar Orthmann Bless
Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung ist in der Regel mit Unterstützungsbedarf sowohl für die Kinder als auch für die Eltern verbunden. Valide epidemiologische Daten bilden eine unverzichtbare Grundlage, um diesem speziellen Bedarf adäquat Rechnung tragen zu können. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, anhand einer Analyse der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser (CH) die Häufigkeit von Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit geistiger Behinderung in der Schweiz im Zeitraum von 1998 bis 2009 zu ermitteln, die Personengruppe zu beschreiben sowie die Entwicklung der Inzidenz über die Zeit zu bestimmen. Im Untersuchungszeitraum wurden 176 Schwangerschaften bei Frauen mit geistiger Behinderung identifiziert, von denen 93 mit einer Entbindung von insgesamt mindestens 98 Kindern und 83 mit einem Abort endeten. Die Inzidenz von Schwangerschaften bei Frauen mit geistiger Behinderung nahm im Untersuchungszeitraum zu
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22 VHN, 82. Jg., S. 22 -34 (2013) DOI 10.2378/ vhn2013.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Zur Häufigkeit von Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit geistiger Behinderung Dagmar Orthmann Bless Universität Freiburg/ Schweiz Zusammenfassung: Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung ist in der Regel mit Unterstützungsbedarf sowohl für die Kinder als auch für die Eltern verbunden. Valide epidemiologische Daten bilden eine unverzichtbare Grundlage, um diesem speziellen Bedarf adäquat Rechnung tragen zu können. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, anhand einer Analyse der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser (CH) die Häufigkeit von Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit geistiger Behinderung in der Schweiz im Zeitraum von 1998 bis 2009 zu ermitteln, die Personengruppe zu beschreiben sowie die Entwicklung der Inzidenz über die Zeit zu bestimmen. Im Untersuchungszeitraum wurden 176 Schwangerschaften bei Frauen mit geistiger Behinderung identifiziert, von denen 93 mit einer Entbindung von insgesamt mindestens 98 Kindern und 83 mit einem Abort endeten. Die Inzidenz von Schwangerschaften bei Frauen mit geistiger Behinderung nahm im Untersuchungszeitraum zu. Schlüsselbegriffe: Geistige Behinderung, Schwangerschaft, Elternschaft, Prävalenz The Prevalence of Pregnancies and Births in Women with Intellectual Disabilities (ID) Summary: Parenting of people with ID is usually associated with the need of assistance for both children and parents. Valid epidemiological data form an essential basis to take into account these specific needs. The aim of this study is, based on an analysis of the medical statistics of Swiss hospitals, to identify the prevalence of pregnancies and births in women with ID in Switzerland between 1998 and 2009, to describe the group of people concerned, and to determine the development of the incidence over time. During the study period, 176 pregnancies of women with ID were identified; 93 of them led to the delivery of at least 98 children, 83 ended by abortion. The incidence of pregnancies in women with ID increased during the investigation period. Keywords: Intellectual disability, pregnancy, parenting, prevalence FachBeITrag 1 elternschaft bei geistiger Behinderung: eine konfliktreiche Thematik Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung wird als konfliktreiche Thematik wahrgenommen. Die Reaktionen darauf reichen von Ignoranz über Fehleinschätzungen bis hin zu emotionsgeladener Fürsprache oder Ablehnung. Worin liegt das Problem? Einerseits besteht für ausnahmslos alle Menschen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, zu dessen Wahrnehmung auch das Recht auf Sexualität, Partnerschaft und Elternschaft gehören kann. Es stellt sich aber immer die Frage, ob die Entfaltung seiner selbst (hier speziell die Selbstentfaltung durch Elternschaft) möglicherweise zu einer Einschränkung der Entfaltung eines anderen (in diesem Fall eines Kindes) führt (z. B. Dettenborn 2010). VHN 1 | 2013 23 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag Bei Personen mit geistiger Behinderung (im Folgenden wird die internationale Abkürzung ID für „Intellectual Disability“ verwendet) ergibt sich bereits aus der Definition ihrer Behinderung (aktuell meist als Doppelkriterium von intellektueller Minderleistung und Problemen in den sog. Adaptiven Kompetenzen, wie z. B. Kommunikation, eigenständige Versorgung, häusliches Leben, soziale Fertigkeiten, Sicherheit usw.; vgl. z. B. AAIDD 2010; Nußbeck u. a. 2008) die Vermutung von Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit und damit des Kindeswohls, zumindest aber eine hohe Wahrscheinlichkeit von erheblichem Unterstützungsbedarf bei der Ausübung elterlicher Rechte und Pflichten. Die sich aus diesem Dilemma ergebenden Handlungsunsicherheiten sind umso größer, je geringer die spezifischen Kenntnisse bezüglich der Thematik ausfallen. Wissenschaftliche Forschungen können hier zur differenzierten Wahrnehmung der Lebenssituationen beitragen. Das empirische Wissen zu Elternschaft unter den Bedingungen von ID wurde und wird überwiegend in Kanada, Australien, den USA, Großbritannien, Dänemark und Schweden gewonnen und ist insgesamt noch überschaubar. Das Forschungsinteresse gilt sowohl der Entwicklung der Kinder als auch den elterlichen Kompetenzen sowie den entsprechenden Rahmenbedingungen für deren Entfaltung. Für die Nachkommenschaft von Eltern mit ID wird ein erhöhtes Risiko von Behinderungen und Entwicklungsbeeinträchtigungen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung berichtet (z. B. Espe-Sherwindt/ Crable 1993; Morch u. a. 1997; Booth/ Booth 1998; McConnell u. a. 2003), wobei keine sicheren aktuellen Erkenntnisse zur exakten Häufigkeit und zur Genese möglicher Behinderungen sowie zur Entwicklung von älteren Kindern und Jugendlichen vorliegen. Hinsichtlich der Erziehungskompetenzen von Eltern mit ID werden deutliche Defizite berichtet (häufig als Vernachlässigung beschrieben). In zahlreichen Trainingsstudien (z. B. Feldman 1994; Wade u. a. 2008; Coren u. a. 2011) konnte nachgewiesen werden, dass Kompetenzerwerb möglich ist. Allerdings zeigen sich oft Probleme der Stabilität erlernter Verhaltensweisen sowie der Generalisierung und des Transfers erlangter Kompetenzen (z. B. Feldman u. a. 1992; Llewellyn u. a. 2003). Kinder von Eltern mit ID wachsen längerfristig eher selten mit ihren Eltern auf, die häufigste Form der Fremdplatzierung sind derzeit Pflegschaftsverhältnisse. 2 Zielsetzung Jede Elternschaft beginnt mit einer Schwangerschaft. Fundierte Kenntnisse über Epidemiologie und Risiken von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett (Gestation) unter den Bedingungen von intellektuellen Beeinträchtigungen bilden daher einen wichtigen Ausgangspunkt der Analyse von Lebenssituationen von Eltern und Kindern. Sie ermöglichen einerseits, die Relevanz der Thematik einzuschätzen, und helfen andererseits, prä-, peri- und postnatale Risiken zu identifizieren. Beide Aspekte stellen wichtige Voraussetzungen dar sowohl für die Methodik weiterer Forschungen als auch für die Planung von Hilfestrukturen. Der vorliegende Beitrag untersucht die Häufigkeit von Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit ID. Zunächst wird der diesbezügliche Forschungsstand dargestellt und diskutiert. Sodann wird anhand einer Analyse der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser die Häufigkeit von Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit ID in der Schweiz im Zeitraum von 1998 bis 2009 ermittelt, inklusive einer Beschreibung der Personengruppe sowie der Entwicklung der Inzidenz über die Zeit. Die ermittelten Befunde werden anschließend unter Bezugnahme auf internationale Forschungen diskutiert. VHN 1 | 2013 24 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag 3 Forschungsstand zur häufigkeit von elternschaft bei ID Bisher gibt es nur wenige Untersuchungen zur Inzidenz (Auftretenshäufigkeit pro Jahr) und Prävalenz (Anteil in Bezug auf eine Population) von Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit ID. Für die Schweiz sind bisher keine solchen Angaben vorhanden. Morch u. a. (1997) führten Ende der 1990er Jahre eine landesweite Fragebogenerhebung in Norwegen durch. Dabei wurden Krankenschwestern im öffentlichen Gesundheitswesen schriftlich befragt, wie viele der in ihrer Gemeinde geborenen Kinder Eltern mit ID haben. Die intellektuelle Beeinträchtigung der Eltern wurde von den Krankenschwestern anhand einer Checkliste verschiedener Verhaltensweisen eingeschätzt. Identifiziert wurden 23 Personen mit ID, welche in einem Zeitraum von 12 Monaten Kinder geboren hatten. Insgesamt wurden 126 Kinder mit geistig behinderten Eltern ermittelt. Die Autoren geben eine Inzidenz von 27 Kindern pro Jahr sowie eine geschätzte Prävalenz von 430 Kindern unter 16 Jahren in einer Population von 4 Millionen Norwegern an. Die Inzidenzrate wird mit 0,5 auf 1’000 Geburten berechnet. Willems u. a. (2007) befragten in den Niederlanden flächendeckend Institutionen, welche in das Hilfesystem für Menschen mit ID involviert sind, u. a. zur Anzahl von Eltern mit ID, welche der Institution bekannt waren, sowie zum Ausmaß ihrer ID und zur eingeschätzten Bewältigung der elterlichen Aufgaben. In Bezug auf die Definition der ID orientierte man sich an den Kriterien der AAMR (= Vorläufer der AAIDD), wobei Angaben zur intellektuellen Leistungsfähigkeit meist nur geschätzt werden konnten und Informationen zu den Adaptiven Kompetenzen meist nicht vorhanden waren. Die Autoren identifizierten 1’549 Personen mit ID, welche Kinder haben, und errechneten daraus eine Prävalenzrate von 1,5 % bezogen auf die Population von Menschen mit ID in den Niederlanden. Die meisten dieser Eltern seien solche mit milden Beeinträchtigungen. In Deutschland führten Pixa-Kettner u. a. (1996) erstmals im Jahr 1993 eine bundesweite schriftliche Befragung von Einrichtungen für Menschen mit ID zu je bekannt gewordenen Elternschaften dieses Personenkreises durch. Als geistig behindert galten in dieser Studie Personen, welche in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung leben, arbeiten oder Hilfe beziehen. Von den Einrichtungen wurden insgesamt 969 Elternschaften mit 1’366 Kindern gemeldet. In einer Follow-up-Studie im Jahr 2005 (Pixa-Kettner 2007) wurden mit einer ähnlichen Methode 1’584 Fälle von Elternschaft bei ID mit insgesamt 2’199 Kindern identifiziert, nun bezogen auf den Zeitraum von 1990 bis 2005. Die Autorin leitet aus einem Vergleich beider Studien die Vermutung von deutlich steigenden Inzidenzraten in der jüngeren Vergangenheit ab. Unter Rückgriff auf bevölkerungsstatistische Angaben schätzt sie die Prävalenzrate von Elternschaft auf mindestens 1,4 %, bezogen auf Frauen mit ID in Deutschland. Weiber u. a. (2011) nutzten für ihre Inzidenzstudie in Schweden die persönliche, sich zeitlebens nicht verändernde Identifikationsnummer, welche jedem Bürger zugewiesen ist. Für zwischen 1975 und 1989 im Kreis Blekinge geborene Frauen, welche eine Schule für Kinder mit ID besucht hatten (= Kriterium für die Definition von ID), wurde unter Verwendung der persönlichen Identifikationsnummer im Schwedischen Geburtsregister überprüft, wer von diesen Frauen geboren hatte. Von den 98 identifizierten Frauen hatten 9 zwischen den Jahren 2004 und 2008 insgesamt zehn Kinder geboren. Aus diesem Resultat errechnen die VHN 1 | 2013 25 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag Autoren für ganz Schweden eine Inzidenz von schätzungsweise 225 Kindern pro Jahr, welche von Frauen mit ID geboren werden (Inzidenzrate: 2,12 von 1’000 Geburten). Die Prävalenz von 0 - 18-jährigen Kindern in Schweden, die eine Mutter mit ID haben, wird mit ca. 4’050 angegeben. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Studien unterschiedliche Datenquellen und Erhebungsstrategien nutzen, die jeweils mit verschiedenen methodischen Problemen verbunden sind. Zumeist handelt es sich um Schätzungen mit eingeschränkter Reliabilität. Bei schriftlichen Befragungen liegt diese u. a. in geringen Rücklaufquoten (wie z. B. 36 % bzw. 40 % in den deutschen Erhebungen) begründet. In der Schwedischen Studie liegt ein Problem darin, dass die Hochrechnungen der Prävalenz und Inzidenz für das gesamte Land auf einer sehr kleinen Stichprobe beruhen, denn die untersuchte Gemeinde Blekinge umfasst nur 1,63 % der Gesamtbevölkerung von Schweden (vgl. Weiber u. a. 2011). Weitere Ungenauigkeiten ergeben sich aus den Definitionskriterien für ID. Zwar liegen den Studien häufig die gleichen Rahmenkonzepte für die Bestimmung von ID zugrunde, nämlich die Orientierung an den Definitionskriterien der AAIDD (ehemals AAMR); allerdings werden die aufgefundenen Fälle nicht hinsichtlich des Zutreffens der Kriterien überprüft (keine Angaben zu IQs und zu Adaptiven Kompetenzen der Stichproben). Somit ist eine engere oder weitere Auslegung von ID möglich. Neben den Einschränkungen, welche sich aus der geringen Zahl vorhandener Studien sowie aus deren methodischen Zugängen ergeben, bestehen z. B. folgende Forschungslücken: Längsschnittstudien zur Entwicklung der Inzidenz über die Zeit fehlen, sodass es sich bei Aussagen zur Zunahme von Schwangerschaften und Elternschaft bei Personen mit ID in den letzten Jahren eher um Hypothesen vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Entwicklungen als um gesicherte Fakten handelt. Zudem werden in den vorliegenden Inzidenzuntersuchungen kaum Merkmale zur differenzierten Beschreibung der Personengruppe erfasst. Populationsbeschreibende Angaben zu Eltern mit ID stammen eher aus Trainingsstudien. Dabei handelt es sich jedoch in der Regel um Inanspruchnahmepopulationen (d. h. diejenigen Eltern mit ID, welche für sich oder ihr Kind Hilfen erhalten), welche nicht ohne Weiteres als repräsentativ für die Gesamtgruppe der Eltern mit ID gelten können. Um valide und reliable Aussagen zu Inzidenz und Prävalenz von Elternschaft bei Personen mit ID machen und die Entwicklung über die Zeit zuverlässig bestimmen zu können, wären Erhebungen über einen längeren Zeitraum mit identischer Erhebungsmethode nötig. Als Idealfall einer repräsentativen Stichprobe wäre eine Vollerhebung in einer größeren Region anzusehen. Wünschenswert sind Datenquellen und Erhebungsmethoden, welche es erlauben, weitere Stichprobenmerkmale wie z. B. Alter, Art und Schwere der ID, regionale Verteilung usw. zu erfassen und die Stichprobe diesbezüglich mit Eltern ohne ID zu vergleichen. Im Hinblick auf die genannten Kriterien stellt die Medizinische Statistik der Krankenhäuser (CH) eine nahezu ideale Datenquelle dar. 4 Die Medizinische Statistik der Krankenhäuser (ch) Seit 1997/ 1998 erhebt das Bundesamt für Statistik (BFS) im Auftrag der Schweizerischen Eidgenossenschaft Daten der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser. Da es sich um eine Pflichtstatistik handelt (vgl. Art. 6, Abs. 1 Bundesstatistikgesetz 1992), enthält sie Angaben über sämtliche stationären Behandlungs- VHN 1 | 2013 26 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag fälle in Schweizer Spitälern. Kernstück ist der sog. Minimaldatensatz, der durch spezielle Datensätze je nach Patientensituation, wie z.B. einen Neugeborenenzusatzdatensatz (obligatorisch), ergänzt wird. Innerhalb des Minimaldatensatzes stehen neben populationsbeschreibenden (z. B. anonymisierter Patientencode, Alter, Geschlecht, nationale Herkunft), administrativen und den Spitalaufenthalt beschreibenden Angaben (z. B. Eintrittsart, einweisende Instanz, Hauptkostenträger usw.) die Diagnosen (Hauptdiagnose und bis zu 9 Nebendiagnosen, jeweils kodiert nach ICD- 10) und die Behandlungen (Hauptbehandlung und Nebenbehandlungen, jeweils kodiert nach CHOP) (vgl. BFS 2009; 2010; 2011) im Mittelpunkt. Damit liegt eine bisher nicht ausgeschöpfte Datenquelle vor, welche epidemiologische Angaben zur Gestation (Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett) mit hoher Validität und Reliabilität erlaubt. Da in der Schweiz mehr als 95 % aller Entbindungen im Spital stattfinden, handelt es sich diesbezüglich quasi um eine Vollerhebung. 5 Fragestellungen Die vorliegende Untersuchung setzt sich zum Ziel, Epidemiologie und Risiken von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett (Gestation) bei Frauen mit ID in der Schweiz im Zeitraum von 1998 bis 2009 zu analysieren. In einem ersten Untersuchungsabschnitt wurden dabei die folgenden Aspekte betrachtet: 1. Anzahl der Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit ID im Zeitraum 1998 bis 2009; 2. Deskription der Personengruppe der Schwangeren mit ID anhand populationsbeschreibender Variablen; 3. Entwicklung der Inzidenz von Schwangerschaften bei Frauen mit ID über die Zeit. 6 Datenerhebung und Datenaufbereitung Die Datengrundlage bilden 12 von der Schweizerischen Eidgenossenschaft auf besonderen Antrag hin zur Verfügung gestellte Jahresdatensätze aus der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser (Standard-CDROM, Version GEO, 1998 - 2009; BFS 2011). Für die Auswertung dieser Daten wurde ein spezieller Datennutzungsvertrag abgeschlossen. Unsere Datenaufbereitung bestand in der Auswahl des für unsere Fragestellungen benötigten Variablensatzes sowie der Definition der Zielgruppe und der Zielvariablen. Dabei wurde zunächst eine Reduktion auf 38 Variablen pro Behandlungsfall sowie auf die Altersgruppe der 14 - 49-jährigen Personen vorgenommen. Sodann wurde die Personengruppe der Menschen mit ID bestimmt. Kriterien dafür waren das Vorliegen einer Diagnose für Intelligenzminderung (Diagnosecodes F70 - F79 nach ICD-10 GM) oder für Down-Syndrom (Q90.-), jeweils in der Hauptdiagnose oder in einer der acht ersten Nebendiagnosen. Die auf diese Weise bestimmte Grundgesamtheit ist im Kapitel 7.1 beschrieben. Um diejenigen Behandlungsfälle zu identifizieren, in denen es sich um Schwangerschaften resp. Geburten handelte, wurden folgende Kriterien angewandt: ein Code aus der Diagnosegruppe „O“ (Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett) oder aus der Diagnosegruppe „Z30 - Z39“ (darin u. a. Untersuchung und Test zur Feststellung einer Schwangerschaft, Überwachung einer Schwangerschaft, postpartale Betreuung usw.) oder der Code „Z640“ (unerwünschte Schwangerschaft); alle Codes entweder in der Hauptdiagnose oder in einer der Nebendiagnosen. Die so identifizierten Behandlungsfälle wurden nochmals einzeln auf das Zutreffen der Zielkriterien (Vorliegen einer Schwangerschaft) hin überprüft. Für die Beantwortung der o. g. Fragen wurden sodann spezielle Datensätze kreiert (z. B. wurde bei VHN 1 | 2013 27 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag Vorliegen von mehreren Krankenhausaufenthalten derselben Person während derselben Schwangerschaft nur der Aufenthalt, welcher den Ausgang der Schwangerschaft markiert, im Datensatz behalten) und deskriptiv sowie korrelationsstatistisch ausgewertet. 7 ergebnisse 7.1 angaben zur grundgesamtheit Der auf die Altersgruppe der 14 - 49-Jährigen reduzierte Datenpool der Krankenhausstatistik 1998 - 2009 (12 Datensätze) weist insgesamt 5'629’154 Behandlungsfälle auf (s. Tab. 1). Darunter entfallen 23’823 Behandlungsfälle (0,42 %) auf Personen mit der Diagnose „F7*“ und/ oder „Q90*“ in der Haupt- oder einer der Nebendiagnosen. In den 5'605’331 Behandlungsfällen bei Personen ohne ID (d. h. ohne F7*bzw. Q90*-Diagnose) handelt es sich in 60,6 % um Frauen und in 39,4 % um Männer. In der Gruppe der Personen mit ID (n = 23’823) entfallen hingegen nur 46,1 % (n = 10’981) Behandlungsfälle auf Frauen, aber 53,9 % auf Männer (n = 12’842). Die Geschlechterverteilung unterscheidet sich zwischen den Gruppen mit und ohne ID signifikant voneinander (Chi 2 ; p < 0.001, zweiseitig). 7.2 anzahl Schwangerschaften und geburten bei Frauen mit ID Eine Übersicht zu Anzahl und Ausgang von Schwangerschaften bei Frauen mit ID liefert Abb. 1. Von 1998 bis 2009 sind in der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser der Schweiz 176 Schwangerschaften von Frauen mit ID dokumentiert. Dabei handelt es sich um 173 verschiedene Frauen. Das bedeutet, im Erhebungszeitraum sind 3 Frauen mit ID je zweimal schwanger gewesen und 170 je einmal. Pro Jahr wurden zwischen 9 (1999) und 21 (2006) Frauen mit ID in einem Schweizer Krankenhaus im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett betreut; im Durchschnitt der 12 Jahre sind dies knapp 15 (14,7) geistig behinderte Frauen pro Jahr. In 93 Fällen (92 verschiedene Frauen) kam es zu einer Entbindung. In 89 Fällen handelte es ID Männer Frauen gesamt Keine Diagnose für ID nach ICD-10 GM n 2‘208’267 3‘396’964 5‘605’331 % der teilpopulation ohne ID 39,40 60,60 100,00 Diagnose F7*/ Q90* für ID nach ICD-10 GM n 12’842 10’981 23’823 % der teilpopulation mit ID 53,90 46,10 100,00 % der teilpopulation nach geschlecht 0,58 0,32 0,42 % der gesamtpopulation 0,23 0,20 0,42 Gesamt N 2‘221’209 3’407’945 5’629’154 % 39,46 60,54 100,00 Tab. 1 Grundgesamtheit der Behandlungsfälle 14 -49-jähriger Personen im Zeitraum 1998 bis 2009: Kreuztabelle ID x Geschlecht VHN 1 | 2013 28 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag sich dabei um die Entbindung eines Einlings, in 3 Fällen um Zwillinge und in einem Fall um Mehrlinge. Somit wurden im Erhebungszeitraum mindestens 98 Kinder von Frauen mit ID geboren. Von diesen wurden 4 Einlinge tot geboren, 94 Kinder wurden (vermutlich) lebend geboren. In 83 Fällen (82 verschiedene Frauen) endete die Schwangerschaft mit einem Abort. Hinzu kommen 4 weitere Schwangerschaften, deren Ausgang der Medizinischen Statistik nicht entnommen werden konnte (s. Abb. 1). Es handelt sich dabei in 3 Fällen um Schwangerschaften mit unbekanntem Ausgang und in einem Fall um eine postpartale Betreuung, d. h. um die Betreuung einer Frau unmittelbar nach einer Entbindung oder einem Abort. Dass es dennoch nur 176 und nicht 180 Schwangerschaften sind, liegt darin begründet, dass in 4 Fällen der Ausgang der Schwangerschaft gleichzeitig als Geburt und als Abort kodiert ist. Dies verweist auf Situationen, in denen die beiden Kriterien, nach denen Geburten von Aborten unterschieden werden, vermutlich nicht übereinstimmen. Geburten sind als Ausstoßung eines Feten nach der 22. Schwangerschaftswoche (SSW) oder mit einem Gewicht von 500 g oder mehr definiert. Als Abort/ Fehlgeburt gilt die vorzeitige Beendigung einer Schwangerschaft vor der vollendeten 22. SSW oder mit einem Geburtsgewicht des Feten von weniger als 500 g (wobei das Gewicht entscheidend ist) (BFS 2009, 76f). Doppelkodierungen als Abort und Geburt können z. B. auf ein Geschehen nach Vollendung der 22. SSW hinweisen (Geburt), bei denen das Neugeborene ein extrem niedriges Geburtsgewicht (< 500 g) aufweist (Abort). 7.3 Merkmale der Population Im Folgenden wird die Population der Frauen mit ID, welche im Zeitraum 1998 bis 2009 in einem Schweizer Krankenhaus im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett betreut wurde, näher beschrieben. Analyseeinheit für die folgenden deskriptiven Darstellungen ist die Schwangerschaft(n = 176), nicht die Person (n = 173), weil sich sowohl abb. 1 Schwangerschaften bei Frauen mit ID: Anzahl und Ausgang pro Jahr im Erhebungszeitraum 1998 -2009 VHN 1 | 2013 29 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag Merkmale der Person, wie z. B. Alter, als auch Merkmale des Spitalaufenthaltes bei verschiedenen Schwangerschaften derselben Person unterscheiden. Hier wird die Population in Bezug auf das Alter, die Art der ID, die Nationalität sowie die Region betrachtet (s. Tab. 2). Die Frauen mit ID sind zum Zeitpunkt der Gestation zwischen 18 und 44 Jahre alt (M = 31; SD = 6.98). In mehr als der Hälfte der Fälle (n = 97; 55,1 %) sind die Frauen zwischen 26 und 37 Jahre alt, in ¼ der Fälle (n = 45) jünger als 26 Jahre und in 34 Fällen (19,3 %) älter als 37 Jahre. Die Art der geistigen Behinderung (nach ICD-10) wird in 92 Fällen als Down-Syndrom (Q90*) kodiert und in 84 Fällen als Intelligenzminderung (F70 - F79). Bei den 84 Fällen mit F7*-Code handelt es sich überwiegend um Frauen mit nicht näher bezeichneter Intelligenzminderung (F79*; n = 43) und Frauen mit leichter Intelligenzminderung (F70*; n = 34). Frauen mit mittelgradiger (F71*; n = 2), schwerer (F72*; 2 Aborte bei derselben Person), schwerster (F73*; n = 1) sowie anderer Intelligenzminderung (F78*; n = 2) tauchen nur in Ausnahmefällen auf (s. Abb. 2). In den Jahren 1998 bis 2009 sind Schwangerschaften von Frauen mit ID in insgesamt 18 von 26 Kantonen registriert (s. Abb. 3). Kantonal schwankt die Zahl der Schwangerschaften zwischen 2 und 37 (Genf). In den drei Kantonen Genf, Waadt und Zürich gibt es mit Merkmale N % Alter zum Zeitpunkt der Schwangerschaft 14 -25 Jahre 45 25,6 26 -37 Jahre 97 55,1 38 -49 Jahre 34 19,3 Art der ID nach ICD-10 GM F7*-Diagnose 84 47,7 Q90*-Diagnose 92 52,3 Region Deutschschweiz 87 49,4 Romandie mit tessin 89 50,6 Nationalität Schweizerin 118 67,0 Nicht-Schweizerin 47 26,7 Unbekannt 11 6,3 Tab. 2 Merkmale der Population (n =176 Schwangerschaften von Frauen mit ID; 1998 - 2009) abb. 2 Schwangerschaften von Frauen mit ID in den Jahren 1998 -2009 nach Art der ID (n = 176) VHN 1 | 2013 30 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag zusammen 102 Fällen (57,9 %) mehr als die Hälfte aller registrierten Schwangerschaften bei Frauen mit ID. Teilt man die Schweiz in die Regionen Deutschschweiz (hier: ZH, BE, SO, GR, SG, AG, ZG, BL, BS, LU, OW und SZ) und Romandie mit Tessin (hier: VD, GE, FR, VS, NE und TI), so ergibt sich für die Deutschschweiz ein prozentualer Anteil von 49,4 % und für die Romandie mit Tessin von 50,6 %; d. h. im Erhebungszeitraum gibt es in beiden Regionen etwa gleich viele Schwangerschaften bei Frauen mit ID, obwohl der Bevölkerungsanteil in den beiden Regionen unterschiedlich ist. In 118 Fällen (67 %) handelt es sich um Gestation bei Frauen mit Schweizer Nationalität. In 47 Fällen (26,7 %) haben die Frauen eine andere als die Schweizer Nationalität, und in 11 Fällen (6,3 %) fehlen Angaben zur Nationalität der Schwangeren mit ID. 7.4 entwicklung der Inzidenz von Schwangerschaften über die Zeit Betrachtet man die Häufigkeit von Schwangerschaften bei Frauen mit ID pro Jahr (Abb. 1), fallen zunächst die starken Schwankungen der Fallzahlen von Jahr zu Jahr auf. Unter Beachtung der geringen absoluten Zahlen sind diese jedoch nicht ungewöhnlich. Testet man die Korrelation zwischen Inzidenz von Schwangerschaften und Jahr einseitig, d. h. unter der Hypothese der Zunahme über die Zeit, wie sie in der Fachliteratur z. T. propagiert wird, so ergibt sich eine mittlere Korrelation, die auf dem 0.05- Niveau signifikant ist (Korrelationskoeffizient Spearman-Rho 0.62; Signifikanz 1-seitig = 0.017). Die Anzahl von Schwangerschaften pro Jahr bei Frauen mit ID nimmt demnach im Zeitraum von 1998 bis 2009 signifikant zu. 8 Diskussion Die folgende Diskussion der Ergebnisse bezieht sich auf zwei ausgewählte Schwerpunkte, nämlich die Interpretation der ermittelten Häufigkeitsangaben zur Gestation bei Frauen mit ID im internationalen Vergleich einerseits und die Interpretation des Verhältnisses von Geburten zu Aborten andererseits. abb. 3 Anzahl der Schwangerschaften bei Frauen mit ID im Zeitraum 1998 -2009 nach Kanton (n = 176) VHN 1 | 2013 31 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag Im Untersuchungszeitraum wurden in der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser der Schweiz 176 Schwangerschaften bei Frauen mit ID identifiziert, von denen 93 (52,8 %) mit einer Entbindung von insgesamt mindestens 98 Kindern und 83 (47,2 %) mit einem Abort endeten. Wie sind diese Zahlen zu bewerten? Nach Angaben des Zivilstandsregisters der Schweiz (BEVNAT) wurden im Erhebungszeitraum in der Schweiz 904’771 Kinder geboren. Unter der Annahme, dass mindestens 95 % davon im Krankenhaus geboren wurden, entsprechen die 98 Geburten von Frauen mit ID einer Inzidenzrate von 0,114 von 1’000 Geburten. Diese Inzidenzrate ist im internationalen Vergleich als äußerst gering einzustufen. Für Schweden beispielsweise errechneten Weiber u. a. (2011) jüngst eine jährliche Inzidenzrate von 2,12 von 1’000 Kindern, welche von Müttern mit ID geboren werden; eine Angabe also, die fast zwanzigmal höher ist als jene für die Schweiz. Wie sind diese enormen Differenzen zu erklären? Ein zentraler Aspekt sind zunächst die methodischen Unterschiede zwischen beiden Studien. In Schweden entsprechen die über die besuchte Schulart als geistig behindert definierten Frauen einem Bevölkerungsanteil von ca. 0,83 % (Weiber u. a. 2011, 1082). In unserer Studie entsprechen die über die ICD-10- Codes als geistig behindert definierten Frauen nur einem Anteil an Behandlungsfällen von 0,32 % (vgl. Tab. 1). Wir erfassen also einen wesentlich kleineren Bevölkerungsanteil als geistig behindert. In den Kodierregeln für die Medizinische Statistik ist festgelegt, dass Diagnosen dann zu kodieren sind, wenn sie behandlungsrelevant sind (BFS 2009). Unter Beachtung dieser Vorgabe ist es wahrscheinlich, dass Mediziner insbesondere bei leichteren Formen von ID häufig keinen Code für eine Intelligenzminderung angeben, weil ihnen diese nicht behandlungsrelevant erscheint. Unsere Definitionskriterien für ID sind in diesem Sinne strenger als jene der Schwedischen Studie. Auch ist es wahrscheinlich, dass die diesbezüglich ungeschulten Mediziner leichte Formen von ID gar nicht erkennen - schließlich gibt es bei einem Spitalaufenthalt im Zusammenhang mit Gestation kaum Anforderungen für die Patientin, in denen eine leichte kognitive Beeinträchtigung besonders augenfällig wäre. Für solche Unsicherheiten der Mediziner spricht z. B. auch die Tatsache, dass innerhalb der Gruppe der durch einen F7*-Code eindeutig als ID identifizierten Frauen die Kodierer häufig den unspezifischen Code F79* wählen, welcher Verwendung finden soll, wenn die Informationen nicht ausreichend sind, um die Intelligenzminderung näher zu bestimmen. Es ist also zu vermuten, dass insbesondere leichtere Formen von ID nicht ausreichend erfasst wurden. Zu beachten ist zusätzlich, dass innerhalb der Gruppe der Frauen mit ID vor allem jene mit leichten Beeinträchtigungen Eltern werden (z. B. Willems u. a. 2007). Wenn also 0,32 % einer Population - im Vergleich zu 0,83 % - als geistig behindert erfasst werden, so hat dies nicht nur eine gute Verdoppelung, sondern eine Vervielfachung der Inzidenzrate zur Folge. Für die Nichterfassung von Behandlungsfällen bei leichten Formen von ID ohne Syndrom spricht auch die Tatsache, dass unsere Stichprobe 92 schwangere Frauen mit Down-Syndrom und nur 84 Frauen mit F7*-Diagnose enthält. Es gibt in der internationalen Forschung keinerlei Hinweise darauf, dass Frauen mit Down-Syndrom häufiger schwanger werden als Frauen mit anderen Formen von ID. Da der Anteil von Personen mit Down-Syndrom an der Gesamtgruppe der Personen mit ID nur ca. 15 - 20 % ausmacht (z. B. Häßler 2011), sollten bei vollständiger Erfassung auf eine Schwangerschaft bei Frauen mit Down-Syndrom ca. 4 - 5 Schwangerschaften von Frauen mit F7*-Diagnosen kommen. Es ist unwahrscheinlich, dass das Down-Syndrom bei schwangeren Frauen falsch positiv kodiert wurde - deshalb ist zu vermuten, dass eine leichte ID ohne Syndrom bei schwangeren Frauen in der Medizinischen Statistik nicht vollständig erfasst wird. VHN 1 | 2013 32 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag Mit der von uns gewählten Methode legen wir also eine sehr konservative Messung vor. Diese erfasst sicher und zuverlässig jene Fälle von Gestation bei Frauen mit ID, in denen die Frauen ein erkennbares Syndrom (Down- Syndrom) oder im Sinne der Behandlungsrelevanz im Spital deutlich ausgeprägte Formen von ID aufweisen. Die Nichterfassung von Frauen mit leichteren Formen von ID erklärt vermutlich den Großteil der Inzidenzunterschiede im Vergleich zu aktuellen Studien in anderen Ländern. Darüber hinaus kann die in unserer Studie ermittelte Inzidenzrate auch auf eine tatsächlich geringere Zahl von Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit ID in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern hinweisen. Weiber u. a. (2011) betonen die Gemeinsamkeiten in den Lebensbedingungen der westeuropäischen Länder und halten deshalb systematische Unterschiede in der Prävalenz von Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit ID z. B. zwischen Schweden, Norwegen, den Niederlanden und Deutschland für unwahrscheinlich. Allerdings ist unserer Ansicht nach zu beachten, dass auch vor dem Hintergrund sehr ähnlicher gesellschaftspolitischer, ökonomischer und sozialrechtlicher Rahmenbedingungen durchaus erhebliche Unterschiede für die tatsächlichen Entfaltungsmöglichkeiten des hier betrachteten Personenkreises bestehen können. Der große Handlungsspielraum von „Entscheidern“, die (mit)bestimmen, wer wie leben soll, ist z. B. ein solcher Einflussfaktor. Gemeint sind Einflüsse der Herkunftsfamilien, der Beistände, der Fachleute und der Institutionen, welche - aus jeweils eigenen, durchaus nachvollziehbaren Gründen - Optionen von Menschen mit ID zulassen, befördern oder einschränken. Unsere Analyse zeigt, dass viele Schwangerschaften von Frauen mit ID nicht mit einer Geburt, sondern vorzeitig abortiv enden. Auch dies senkt die Inzidenzrate von Geburten bei Frauen mit ID. Um den Ausgang der Schwangerschaften bei Frauen mit ID einzuschätzen, kann folgender Vergleich mit der Gesamtpopulation herangezogen werden: Im Jahr 2004 wurden nach Angaben des BFS (2007) insgesamt 11’899 Frauen im Zusammenhang mit einem Abort im Spital behandelt. Im Vergleich dazu endeten 69’952 Schwangerschaften mit einer Entbindung im Spital. Auf 100 Entbindungen gab es demnach ca. 17 Aborte. Das Jahr 2004 wird hier als exemplarisch für den Erhebungszeitraum 1998 bis 2009 betrachtet (es liegt in der Mitte des Erhebungszeitraumes, und es gibt keine Hinweise dafür, dass sich die Angaben für 2004 von denen für die anderen Jahre nennenswert unterscheiden). Für Frauen mit ID wurden zwischen 1998 und 2009 93 Entbindungen sowie 83 Aborte im Spital registriert. Bei diesem Personenkreis gab es demnach auf 100 Entbindungen etwa 89 Aborte. Damit kommen auf 100 Entbindungen bei Frauen mit ID etwa fünfmal mehr Aborte als in der Gesamtbevölkerung. Noch zu leistende genauere Analysen der entsprechenden Behandlungsfälle sollen helfen, mögliche Erklärungen dafür zu finden. Zu beachten ist, dass sich dieser extreme Unterschied im Verhältnis zwischen Entbindungen und Aborten ausschließlich auf Ereignisse in Spitälern bezieht. Für beide Gruppen sind in der Medizinischen Statistik nur jene Fälle von Aborten / Fehlgeburten erfasst, die entweder ärztlich induziert sind oder die einen Spontanabort darstellen, bei welchem es zu ärztlicher Behandlung kommt. Es fehlen Angaben über Aborte, bei denen keine oder nur eine ambulante Behandlung erforderlich war. Die Statistik des Schwangerschaftsabbruchs, in welcher sämtliche vorzeitige Beendigungen von Schwangerschaften erfasst werden, enthält z.B. Angaben zu Alter, Wohnkanton, Zeitpunkt und Methode des Abbruchs, nicht jedoch Angaben zu geistiger Behinderung und ist deshalb für einen Vergleich von Personen mit und ohne ID nicht nutzbar. Ob der Anteil von Aborten im Spital an der Gesamtheit der Aborte bei Frauen mit und ohne ID vergleich- VHN 1 | 2013 33 DagmaR ORtHmaNN BlESS Schwangerschaft und geburt bei Frauen mit geistiger Behinderung FachBeITrag bar ist, kann nicht bestimmt werden. Er könnte bei Frauen mit ID größer sein als bei Frauen ohne ID. Gründe dafür könnten zum einen darin liegen, dass bei Frauen mit ID während einer Schwangerschaft häufiger gesundheitliche Probleme auftauchen, die eine stationäre Behandlung erforderlich machen. Dabei könnte es sich sowohl um häufigere ärztlich induzierte Aborte als auch um häufigere Spontanaborte (bei bereits fortgeschrittener Schwangerschaft) handeln als bei Frauen ohne ID. Zum anderen könnte bei vergleichbaren Ausgangslagen (z. B. unerwünschte Schwangerschaft) bei Frauen mit ID eher ein Spitalaufenthalt erwogen werden als bei Frauen ohne ID, etwa um dem erwarteten höheren Betreuungsbedarf besser gerecht werden zu können. 9 ausblick Schwangerschaften und Geburten bei Frauen mit ID in der Schweiz sind recht selten und betreffen dabei fast ausschließlich eher leichter beeinträchtige Personen. Diesbezüglich bestätigt die vorliegende Untersuchung Befunde aus anderen Ländern. Mit der Analyse der Datensätze der Medizinischen Statistik über 12 Jahre konnte in einem echten Längsschnitt eine signifikante Zunahme der Zahl von Schwangerschaften bei Frauen mit ID, bezogen auf ein ganzes Land, festgestellt werden. Dies ist im internationalen Kontext nach unserem Kenntnisstand bisher einmalig. Die Untersuchung zeigt: Auch wenn Elternschaft bei ID ein eher seltenes Phänomen ist, werden regelmäßig und über die Zeit hinweg zunehmend Kinder von Frauen mit ID geboren. Die wissenschaftliche Erforschung dieser Situationen kann dazu beitragen, Mythen von Realitäten zu unterscheiden und dem Hilfebedarf von Kindern und Eltern besser gerecht zu werden. Weitere Auswertungen des umfangreichen Datenmaterials der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser werden sich u.a. auf die genauere Analyse der Entbindungen und der abortiven Geschehnisse beziehen. Von besonderem Interesse ist beispielsweise eine Analyse der Art und Häufigkeit von Risiken und Komplikationen im Zusammenhang mit diesen beiden Situationen. Damit könnten die medizinische und die psychosoziale Versorgung während der Gestation möglicherweise optimiert und Entwicklungsrisiken für die Kinder reduziert werden. Literatur aaIDD/ american association on Intellectual and Developmental Disabilities (2010): Intellectual Disability: Definition, Classification, and Systems of Support. 11th Ed. Washington: aaIDD Booth, tim; Booth, Wendy (1998): growing Up With Parents Who Have learning Difficulties. london: Routledge BFS/ Bundesamt für Statistik (2007): gebären in Schweizer Spitälern. Neuchâtel: BFS BFS/ Bundesamt für Statistik (2009): Kodierungshandbuch. Der offizielle leitfaden der Kodierregeln. Neuchâtel: BFS BFS/ Bundesamt für Statistik (2010): Schweizerische Operationsklassifikation (CHOP). Systematisches Verzeichnis - Version 2011. 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