eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Über die Ignoranz der Schule

71
2013
Jürg Jegge
Zusammenfassung: Ungefähr die Hälfte aller Kinder kommt in der Schule nicht auf ihre Rechnung. Ihre Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten werden schlicht ignoriert. Der Beitrag geht der Frage nach, wie sich dieser (Nicht-)Vorgang abspielt und wie sich dieses enorme brachliegende Potenzial ausschöpfen lässt.
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185 Über die Ignoranz der Schule Jürg Jegge Rorbas (CH) Zusammenfassung: Ungefähr die Hälfte aller Kinder kommt in der Schule nicht auf ihre Rechnung. Ihre Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten werden schlicht ignoriert. Der Beitrag geht der Frage nach, wie sich dieser (Nicht-)Vorgang abspielt und wie sich dieses enorme brachliegende Potenzial ausschöpfen lässt. Schlüsselbegriffe: „Schulische Schwächen“, Lernerfahrungen, Entwicklungsfähigkeit, Schule als echter Lernort About the Ignorance of the School Summary: About half of the children don’t get their money’s worth in school. Their talents, skills, and know-how are simply ignored. The article deals with the question, how that (non-)process happens and how this enormous idle potential can be exploited. Keywords: “Weaknesses in school”, learning experiences, potential for development, school as genuine learning location DAS PRovok AtIve eSSAy Es handelt sich ja um eine Binsenweisheit. Eine Binsenweisheit allerdings, die meist weit draußen im Schilf stehen gelassen wird. Sie lautet: Menschen entwickeln sich ganz unterschiedlich. Unterschiedlich schnell und in unterschiedliche Richtungen. Die Unterschiede sind schon beim Baby sichtbar. Sie dauern ein Leben lang an. Ein Remo Largo etwa wird nicht müde, darauf hinzuweisen. René zum Beispiel. Er wuchs in einem Sonderschulheim für „Schwachbegabte“ auf. Gegen Ende seiner Schulzeit wurde ihm erklärt, dass er nie die Fähigkeit zum Bestehen einer Berufslehre haben werde. Er wollte aber Töpfer werden. Im Heim schlug man ihm eine Anlehre als Drahtwickler vor. Er blieb aber stur bei seinem Berufswunsch. Schließlich erkämpfte er sich eine Lehrstelle. Die Lehre erwies sich als äußerst schwierig. Drei Mal trat er zur Abschlussprüfung an. Vor der dritten Prüfung fragte ihn der Experte: „Was werden Sie tun, wenn Sie diesmal wieder durchfallen? “ Er antwortete: „Dann sehen Sie mich in drei Jahren wieder.“ Er bestand die Prüfung, und er sagt, er wisse bis heute nicht, ob wegen dieser Drohung oder wegen seiner Leistung. Heute ist er Lehrmeister am Märtplatz, unserer kleinen, aber feinen Ausbildungsstätte für junge Menschen mit „Startschwierigkeiten“. Parallel dazu machte er kürzlich, mit seinen 51 Jahren, berufsbegleitend die Ausbildung zum Keramiker. Er, der „Schwachbegabte“, bestand letzten Sommer die Abschlussprüfung mit der Gesamtnote von 5,1 (Höchstnote 6). Wer heute seine Arbeiten sieht (er hat sie im In- und Ausland ausgestellt), wer mitbekommt, mit welchem Geschick er mit seinen Lehrlingen umgeht und wie er sich für die Belange der Lehrlingsausbildung einsetzt, dem muss der Gedanke, dass er heute auch Draht wickeln könnte, etwas seltsam vorkommen. Ich habe im Laufe der Jahre viele solcher Geschichten kennengelernt. Die von René ist insofern ein Sonderfall, als er auch öffentlich VHN 3 | 2013 186 VHN 3 | 2013 Jürg Jegge über die Ignoranz der Schule DAS PRovok AtIve eSSAy dazu steht. Die meisten dieser Menschen sind durch die Erlebnisse am Anfang ihrer persönlichen Lerngeschichte derart traumatisiert, dass sie nicht mehr daran erinnert werden wollen. Und doch sind aufs Ganze gesehen Geschichten wie die von René eher selten. Viel öfter wird so eine Entwicklung auf einer niedrigeren Stufe gewissermaßen „einbetoniert“ und damit erst geschaffen. Genau das passiert in den Schulen jeden Tag. Ich war zwanzig Jahre lang Lehrer und leitete anschließend sechsundzwanzig Jahre lang den bereits erwähnten Märtplatz. Nach allem, was ich in diesen Berufsjahren gesehen habe, bin ich heute überzeugt: Die meisten der sogenannten „schulischen Schwächen“ sind ganz gewöhnliche Fertigkeiten, die nicht die Möglichkeit bekamen, sich in Ruhe zu entfalten. Ohne diesen Freiraum ist für etwa die Hälfte aller Kinder (nämlich für alle, die egal wie weit unter dem Gesamtdurchschnitt liegen) keine oder nur eine schwache Entwicklung möglich. Für diese Kinder sind die grundlegenden Lernerfahrungen in der Schule anstrengend, im schlimmeren Fall sogar negativ, sie verlieren die Freude am Lernen, werden entmutigt oder resignieren. Das soll jetzt kein Angriff auf die Lehrerinnen und Lehrer sein. Viele von ihnen versuchen mit großem Aufwand, diesen Schaden einigermaßen auszuwetzen. Das Problem liegt tiefer: Jeder Mensch verfügt über eigene, spezielle Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ihn in ihrer Gesamtheit einmalig machen. Diese entwickeln sich im Laufe seines Lebens, bei jedem Menschen in unterschiedlichem Tempo. Was in der „Länge“ gilt, gilt auch in der „Breite“. Es ist wichtig, dass die Lernbemühungen auf einem Feld erfolgen können, das dem lernenden jungen Menschen der Anstrengung wert scheint und auf dem ihm ein gewisser Erfolg möglich ist. (Später, aber das ist auch bei jedem Menschen wieder unterschiedlich, lernt man dann auch Dinge, die einen weniger begeistern. Dann sieht man aber meist einen guten Grund dafür.) Und ebenso wichtig ist, dass der Fortschritt auf diesem einen Gebiet nicht von Anforderungen auf ganz andern Gebieten (und das sind in der Schule Rechnen und Sprache) abhängig gemacht wird. Denn: Es existiert in unserer Welt eine unübersehbare Fülle von Dingen, für die sich Menschen interessieren, an denen sie ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten erproben und entwickeln, an denen sie wachsen können. Und mancher Mensch bestreitet später seinen Lebensunterhalt oder erhält sich seinen Lebenssinn dadurch, dass er sich einem solchen „Ding“ voll und ganz widmet. Aber aus dieser ganzen Fülle, einerseits von Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, andererseits von „Dingen“, greift die Schule in erster Linie die sogenannten „Hauptfächer“ heraus. Das sind eben zunächst Rechnen und (deutsche) Sprache. Hier fördert, fordert und misst sie „Leistungen“, von denen das Weiterkommen in der Schule und der spätere Start ins Erwachsenenleben abhängen. Der ganze, unglaublich große Rest von „Dingen“ wird bestenfalls eingeteilt in „Nebenfächer“ oder er fällt überhaupt unter den Tisch. Und so besteht die Gefahr, dass die Schule - und damit das Lernen überhaupt - für viele junge Menschen von Anfang an im besseren Falle uninteressant, im schlechteren hoffnungslos wird. Niemand hat das so schön ausgedrückt wie vor Jahren der Erstklässler Hanspeter Müllener im Turbachtal bei Gstaad. Der besuchte keinen Kindergarten und keine Vorschule. Es gab auf dem elterlichen Bauernhof genug zu schauen, zu helfen und zu lernen. Dann begann die Schule. Nach etwa zwei Wochen fragte ihn eine Nachbarin, wie es ihm denn dort gehe. Darauf machte er ein ganz ernstes Gesicht und sagte mit einem Seufzer: „S versumt eim halt.“ (Zu Deutsch: Man versäumt halt so manches.) 187 VHN 3 | 2013 Jürg Jegge über die Ignoranz der Schule DAS PRovok AtIve eSSAy Wenn ich einen Vortrag halte, frage ich hin und wieder die Leute im Publikum: „Wer von Ihnen verdient sein Geld hauptsächlich mit Rechnen oder mit dem möglichst fehlerfreien Gebrauch der deutschen Sprache? “ Da meldet sich dann vielleicht ein Mittelschullehrer oder eine Bankfachfrau. Aber sonst… Vieles, was Kinder wirklich interessieren könnte, etwa Kunst, Theater oder Astronomie, lernen sogenannte „schwache“ Schüler, also solche, die in Rechnen und Sprache nicht in der vorgegebenen Zeit die vorgesehenen Lernfortschritte gemacht haben, gar nicht kennen. Die Kinder werden rechtzeitig aussortiert und in einem Schultyp mit geringeren Anforderungen irgendeinem Förderprogramm unterworfen. Und zwar einem Förderprogramm in Rechnen und Sprache. Anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre wirklichen Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln, versucht man, aus furchtbar schlechten Rechnern wenigstens schlechte zu machen. Natürlich sind sie nicht völlig ausgeschlossen. Aber die Förderung, die sie auf andern Gebieten erfahren, ist abhängig von den Interessen und der Einsatzbereitschaft ihrer „Lehrperson“. Wenn die bloß „Person“ und nicht ein wirklich kulturell interessierter Mensch ist, erfahren sie recht wenig von solchen Dingen. Dabei: Wenn Menschen ihren Interessen wirklich nachgehen können und dabei Erfolgserlebnisse haben, dann wächst auch ihre Sicherheit auf Gebieten, auf denen sie zunächst weniger sattelfest sind, zum Beispiel eben in Rechnen und in Sprache. Mein 96-jähriger Vater, lebenslang ein begeisterter Lehrer, erzählte mir kürzlich von einer ehemaligen Schülerin, die im Rechnen in der fünften Volksschulklasse noch nicht einmal den Zehnerübergang begriffen hatte. Er habe sie trotzdem nicht zurückgestellt. Jahre später habe er sie wieder angetroffen - hinter dem Schalter einer Filiale der Zürcher Kantonalbank. Hin und wieder gelingen Entwicklungen auf Umwegen, gewissermaßen trotz der Schule. Mein Jugendfreund Ruedi, der wegen ungenügenden Rechen- und Schreibleistungen durch alle Schulen fiel, hatte bis zu seiner Pension eine Professur für Orgelspiel in Deutschland inne, und zwar im „leistungsorientierten ehemaligen Westen“. Mein ehemaliger Schüler Markus aus der Sonderklasse für Schwachbegabte leitet heute eine sozialpädagogische Institution. Aber in all diesen Fällen war das mit enormen zusätzlichen Kraftanstrengungen und viel Glück verbunden - und halt eben: mit viel Zeit. Kurz und schlecht: Etwa die Hälfte aller Kinder wird in der Schule nicht ausgebildet, sondern eingeteilt. Für sie funktioniert die Schule lediglich als Kindersortieranstalt. Alle diese jungen Menschen erhalten nicht die Möglichkeit, ihr eigenes Lerntempo zu finden, ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entdecken und zu entwickeln. (Erwarteter Einwand: „Aber das geht doch nicht. Fünfundzwanzig Kinder so zu unterrichten, dass alle auf ihre Rechnung kommen - das ist doch unmöglich.“ Antwort: „Doch, das geht. Das beweisen viele mehrklassige Bergschulen jeden Tag. Auch in der Geschichte unserer Schule und vereinzelt in der heutigen Praxis sind Beispiele zu finden. Natürlich gibt es Kinder, die eine besondere Betreuung brauchen. Aber das sind nur ganz wenige.“) Was macht ein Leben lebenswert? Das kann natürlich Verschiedenes sein. In den entwickelten Gesellschaften westlicher Prägung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine befriedigende, einen Menschen erfüllende Tätigkeit, sei es als Arbeit oder sei es wenigstens in der Freizeit, ganz wesentlich mit dazugehört. Genau dieser Zugang zu einer solchen Tätigkeit wird mit unserem Schul- und Ausbildungssystem jungen Menschen erschwert oder sogar verunmöglicht. Das hat gleich zwei üble Auswirkungen. Zum einen wird auf diese Weise ungefähr die Hälfte aller jungen Menschen um ganz wichtige bio- VHN 3 | 2013 188 Jürg Jegge über die Ignoranz der Schule DAS PRovok AtIve eSSAy grafische Chancen betrogen. Die Möglichkeit, später ein erfülltes Leben zu führen, indem man einen Beruf ausübt, der einen wirklich ausfüllt, und sich in seiner Freizeit einer Tätigkeit hingibt, die einen freut und die einem entspricht, diese Möglichkeit wird für sie von allem Anfang an kleiner, im schlimmsten Fall sogar sehr klein. Damit steigt der Anteil an dem, was Erich Fromm „ungelebtes Leben“ genannt hat. Das Gefühl: Da, in mir drin, steckt einiges, das nicht herauskommen kann, mit dem ich nichts anzufangen weiß, von dem ich nicht weiß, wohin ich damit soll. Das entlädt sich dann oft in Neid und Ressentiments, in Aggression oder in Selbstaufgabe. Auf jeden Fall schafft es Entmutigung, zum Teil tiefgehende Entmutigung und damit zusätzliches, oft unendlich großes Leid. In jeder Sek. B- oder Sek. C-Klasse findet man Kinder, die eigentlich eher intellektuell organisiert wären, deren Intellektualität sich aber nicht im vorgesehenen Tempo entwickelt hat und jetzt keine oder zuwenig Nahrung bekommt. Und die dabei recht unglücklich sind. Die zweite üble Seite ist gesellschaftlicher Natur. Viele wichtige Innovationen und Impulse in der geistigen und wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes und der Welt im Ganzen kamen in der Vergangenheit von Quereinsteigern und von Aufsteigern. Wenn wir solche Ein- und Aufstiege über Jahre hin erschweren oder gar verunmöglichen, bedeutet das einen massiven gesellschaftlichen Verlust. Dazu kommt noch ein ebenso schwerwiegender emotionaler Verlust: Eine Schule kann auf die Dauer nicht auf Lehrerinnen verzichten, die aus eigenem Erleben wissen, was es wirklich heißt, eine schwache oder auch eine nur mässig erfolgreiche Schülerin zu sein. Es macht einen großen Unterschied, ob ich solche Dinge aus eigenem Erleben kenne oder nur aus Büchern. Genauso wenig kann eine Gesellschaft ohne Ärzte auskommen, die selber behindert oder schwer krank sind oder waren. Ohne Techniker, die selber zuinnerst Handwerker geblieben sind. Ohne Journalistinnen, welche die Sprache der einfachen Leute verstehen und sprechen. Ohne Arbeitgeber, die aus eigener Erfahrung wissen, was es heißt, lohnabhängig zu sein, und dies nicht nur in Form eines Praktikums während der Handelshochschule. Von Egon Friedell, dem bedeutenden Kulturhistoriker der Zwischenkriegszeit, stammt die kluge Bemerkung, „… dass die geistige Gesundheit, die Entwicklungsfähigkeit und die fortschreitende Kraft jeder Epoche von der Menge geistigen Dynamits abhängt, die ihr zur Verfügung steht“ (Friedell 2007, 1106). Dynamit - das ist das Widerständige, das Ungewohnte, das Unbequeme, auf jeden Fall keinesfalls die „Schulbravheit“. Eine Gesellschaft ohne all diese Quellen verarmt auf Dauer unweigerlich. Ungefähr die Hälfte des geistigen Potenzials der jungen Generation liegt brach. Ich weiß, wovon ich rede. Kürzlich wurde ich zu einem Klassentreffen meiner ehemaligen Oberschüler eingeladen. Ich war Ende der Sechzigerjahre ihr Lehrer gewesen. Die Embracher Oberschule (heute Sek. C) war damals eine ziemlich uneinheitliche Veranstaltung. Die jungen Leute absolvierten ihr siebtes, achtes oder neuntes Schuljahr, auch die Oberstufe der Sonderklasse B war mit dabei. Da kam einiges an Vielfalt zusammen. Jetzt organisierten sie also vierzig Jahre später eine Klassenzusammenkunft. Irgendwann im Verlauf des Abends sagten sie zu mir: „Schau uns an. Alle haben einen Beruf erlernt, vier von uns sogar zwei, und der Franz hat gar eine höchst anspruchsvolle vierjährige Berufsausbildung hinter sich. Für eine Oberschul- und Sonderklasse gar nicht schlecht. Dabei hörten wir die ganze Zeit, von den Eltern, von den Leuten im Dorf, was für ein unzulänglicher Lehrer du seiest und dass wir später bestimmt nicht imstande wären, einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Dazu kommt noch etwas, und das ist uns ganz wichtig: Es VHN 3 | 2013 189 Jürg Jegge über die Ignoranz der Schule DAS PRovok AtIve eSSAy waren gute Jahre. Wir gingen plötzlich gern zur Schule, es interessierte uns und wir fühlten uns dort wohl, nicht wenige von uns zum ersten Mal in ihrem Leben.“ Nun muss man dazu sagen, dass nicht alle ehemaligen Schülerinnen und Schüler an diesem Klassentreffen teilnahmen. Es fehlten ein paar, und ich weiß nicht, was aus denen geworden ist und wie sie heute über ihre Schulzeit denken. Es ist durchaus möglich, dass sich gerade bei diesen ein paar befinden, die von ihrer damaligen Schule weit weniger begeistert sind. Ich erzähle das ja auch nicht, um zu berichten, was für ein toller Hecht von einem Lehrer ich seinerzeit war. Aber es ist ein Hinweis auf diese brachliegenden Fähigkeiten, ein Beispiel dafür, was aus einer ganz gewöhnlichen Oberschulklasse „herausgeholt“ werden kann. Was wäre also zu tun, um dieses brachliegende Potenzial fruchtbar zu machen? Für die Schule würde das heißen: Weg von der Kindersortieranstalt, hin zu einer Schule als echtem Lernort. Dazu brauchen wir keine Revolution, keine neuen Lehrpläne, kaum andere Strukturen. Die Schule, wie wir sie haben, genügt über weite Strecken durchaus. Aber wir müssen sie anders denken, anders interpretieren: als Lernort für möglichst alle Kinder eben. Dazu fünf Punkte: 1. Die Schule stellt eine größtmögliche Fülle von Anregungen bereit, durch welche die staatlichen Lernziele in individueller Ausprägung erreicht werden können. Gleichzeitig sorgt sie für Möglichkeiten gemeinschaftlichen Erlebens und Lernens. 2. Jedes Kind sucht sich aus dem individuellen Angebot seine Interessensgebiete selber aus. 3. Jedes Kind hat das Recht, sich das seinen Interessensgebieten zugrunde liegende Wissen im ihm gemäßen Tempo anzueignen. 4. Die Fortschritte auf diesen Gebieten werden nicht benotet (allenfalls kann allen die gleiche Note gegeben werden), sondern eingehend beschrieben. Auf obligatorische Wettbewerbe wird verzichtet. 5. Der ganze Schulbetrieb ist von gegenseitigem Respekt getragen. Und für die Schule als Ganzes wären ebenfalls 5 Punkte zu beachten: 1. Die Jahrgangsklassen werden aufgelöst. An ihre Stelle treten altersdurchmischte Gruppen. 2. Jede Schule bestimmt ihre eigene, ihr gemäße Leitungsstruktur (Schulleiterin, Gremium, Kollektiv). 3. Jede Schule entwickelt ihre eigenen Formen der Zusammenarbeit (Gemeinschaftsbildung). 4. Die Lehrerin ist in der Gestaltung ihres Unterrichts frei. Auf Lehrerbeurteilungen und -vergleiche wird verzichtet. Im Rahmen der kollegialen Zusammenarbeit müssen auch allfällige Fehlleistungen der Lehrerinnen zur Sprache kommen können. 5. Jede Schule entwickelt ihren speziellen Umständen gemäße Formen der Elternzusammenarbeit. Damit würde die Binsenweisheit, dass sich Menschen unterschiedlich entwickeln, vom Schilf draußen ins Schulzimmer hereingeholt. Literatur Friedell, egon (2007): Kulturgeschichte der Neuzeit. Sonderausgabe in einem Band. München: Beck Anschrift des Autors Jürg Jegge Alte Brücke 4 CH-8427 Rorbas j.jegge@maertplatz.ch