Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Lehrerausbildung und Inklusion
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Christiane Hofmann
Urs Haeberlin
Lieber Herr Haeberlin, In Deutschland beginnt eine Debatte, inwieweit wir überhaupt noch eine Disziplin Sonderpädagogik brauchen. Ich bin der Meinung, dass meine Fachrichtungen „Beeinträchtigungen im Lernen“ und „Erziehungshilfe“ (früher: Verhaltensgestörtenpädagogik) in die Allgemeine Schulpädagogik gehören.
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246 Lehrerausbildung und Inklusion Zwischen Hoffnung und Angst vor Enttäuschung Christiane Hofmann Gießen Urs Haeberlin Zürich DialoG VHN 3 | 2013 Christiane Hofmann an Urs Haeberlin 5. März 2013 Lieber Herr Haeberlin In Deutschland beginnt eine Debatte, inwieweit wir überhaupt noch eine Disziplin Sonderpädagogik brauchen. Ich bin der Meinung, dass meine Fachrichtungen ‚Beeinträchtigungen im Lernen‘ und ‚Erziehungshilfe‘ (früher: Verhaltensgestörtenpädagogik) in die Allgemeine Schulpädagogik gehören. Zu befürchten ist allerdings, dass wir dann - wie Herr Baumert es schon für die Neuordnung der Lehrerbildung gefordert hat - eine abgespeckte Variante der sonderpädagogischen Ausbildung für alle Lehrer bekommen. Wie das aussieht, kann man in Italien beobachten. Dort ist die Ausbildung zum Integrationslehrer sehr schmal und die Diagnostik völlig in den Händen sehr traditionell ausgebildeter Psychologen, die an die Qualität unserer Diagnostik sensu Probst und Nachfolger nicht heranreicht. So gibt es denn dort nur eine wenig aussage- und an schulisches Lernen wenig anschlussfähige Statusdiagnostik („durchschnittliche Intelligenz, Probleme bei der visuellen Wahrnehmung, Konzentrationsstörungen …“)! Herzliche Grüße von Christiane Hofmann Urs Haeberlin an Christiane Hofmann 5. März 2013 Liebe Frau Hofmann Ihr Hinweis auf die Debatte, inwieweit wir in Zukunft eine Disziplin Sonderpädagogik überhaupt noch brauchen, hat mich zwar nicht überrascht, aber noch nachdenklicher gemacht. Als ich vor etwa 25 Jahren gegenüber einem Professor für Lernbehindertenpädagogik die Meinung äußerte, dass es gar keine Lernbehindertendidaktik gebe, sondern ausschließlich eine gute oder schlechte Didaktik, hatte ich damit bewirkt, dass er anschließend kaum mehr mit mir sprach. Meine einfache Begründung der These: Schulschwache Schülerinnen und Schüler machen nur mit einer guten Didaktik Lernfortschritte, schulleistungsstarke Schülerinnen und Schüler hingegen können auch ohne gute Didaktik und bei Lehrkräften mit unzureichender Methodik vorwärtskommen. Seither habe ich meine Meinung nicht geändert, aber weiterhin finde ich in den sonderpädagogischen Ausbildungsplänen ‚Lernbehindertendidaktik‘. Somit kann ich ihre Meinung gut verstehen, dass die ‚Fachrichtungen‘ Ihres Lehrstuhls in Gießen institutionell zur Allgemeinen Schulpädagogik verschoben werden sollten. VHN 3 | 2013 247 CHristiaNe HofmaNN, Urs HaeberliN lehrerausbildung und inklusion DialoG Sie stellen die Frage, was die Lehrerbildung im Hinblick auf die oft ungewohnte Situation von Integrationsklassen leisten müsste und heute zum Teil noch nicht leistet. Ihre Erfahrungen mit Integration in Südtirol veranlassen Sie zur Befürchtung, dass es in Deutschland zu einer bedenklich ‚abgespeckten Variante der sonderpädagogischen Ausbildung‘ kommen könnte, die dann die von Ihnen beobachteten Unzulänglichkeiten der Ausbildung zum Integrationslehrer aufweisen würde. Bei uns in der Schweiz ist eine ‚abgespeckte Variante‘ der sonderpädagogischen Ausbildung seit jeher Realität. Sie baut auf dem Diplom für die Regelschule (heute: Bachelor) auf und führt in teils nur drei, teils vier Semestern sowie teilweise berufsbegleitend zum Diplom in Schulischer Heilpädagogik (heute: Master). Dieses Diplom muss für alle Fachrichtungen der Sonderpädagogik ausreichen. Leider gibt es keine Vergleichsstudien zur Frage, ob und wie sich die sonderpädagogischen Kompetenzen, die in einer aktuellen deutschen sonderpädagogischen Ausbildung erworben werden, von jenen aus der vergleichsweise stark ‚abgespeckten‘ Ausbildung in Schweizer Ausbildungsinstituten unterscheiden. Aufgrund von subjektiv gedeuteten Beobachtungen vermute ich, dass nicht nur Lehrkräfte in der Praxis, sondern auch Dozenten in der Ausbildung kaum konkret zeigen können, wie man integrativen Unterricht gestaltet und wie man didaktisch vorgeht. Zur Zeit lese ich einen Bericht über Gemeinsamen Unterricht in Thüringen (Benkmann, R./ Chilla, S./ Stapf, E.: Inklusive Schule - Einblicke und Ausblicke. Immenhausen 2012) und stelle fest, dass dort die Situation nicht anders ist. Also frage ich mich: Ist vielleicht das Engagement des Pädagogenteams in einer Schule nicht doch viel wichtiger für das Gelingen von Gemeinsamem Unterricht in Integrationsklassen als das in der Ausbildung vermittelte Wissen? Aber genau dieses Engagement lässt sich nicht ausbilden! Oder doch? Herzliche Grüsse Urs Haeberlin Christiane Hofmann an Urs Haeberlin 6. März 2013 Lieber Herr Haeberlin Wenn Sie gerade das Buch von Benkmann u. a. in der Hand haben, finden Sie dort auch meinen Artikel zum Verhältnis von überflüssiger Lernbehindertenbzw. Integrationsdidaktik und einfach gutem Unterricht. Unsere gut geförderten und mit aller häuslichen Liebe und Sorgfalt ausgestatteten Kinder lernen doch ‚trotz Lehrer‘; guter Unterricht kommt auch bei diesen Kindern gut an; existenziell notwendig ist er aber - wie Sie schreiben - für die schwachen Schüler. Das ist zuweilen nicht mal in den Förderschulen angekommen! Wenn Schüler nach 7 - 8 Jahren trotz knapp durchschnittlicher Intelligenz die Förderschule verlassen, ohne sinnerfassend lesen zu können, keine Orientierung im Zahlenraum bis 1000 haben, nicht wissen, wie man schriftlich multipliziert, keine Einsicht in das Positionssystem haben, nie auf- oder abrunden oder schätzen mussten, und das Ganze dann Legasthenie oder Dyskalkulie genannt wird, möchte man diese Diagnosen am liebsten verwünschen. Sie schaffen Alibis für häufig unzureichenden Unterricht. Wenn dann noch zur weiteren Entlastung auf die schwierige häusliche Situation verwiesen wird und immer mehr Lehrer für immer kleinere Klassen gefordert werden, ohne dass der Lernerfolg irgendwo überprüft wird, sondern immer mehr Diagnosen gestellt werden, möchte ich nicht mehr Sonderpädagogin sein! Herzliche Grüße aus Deutschland Christiane Hofmann VHN 3 | 2013 248 CHristiaNe HofmaNN, Urs HaeberliN lehrerausbildung und inklusion DialoG Urs Haeberlin an Christiane Hofmann 7. März 2013 Liebe Frau Hofmann Da in Förderschulen oft mit wenig didaktischer Kompetenz und Kreativität gearbeitet wird, scheint die lange sonderpädagogische Ausbildung an den deutschen Universitäten nicht in der Lage zu sein, der Praxis in Förder- oder in Integrationsschulen didaktisch kompetente Lehrkräfte zur Verfügung zu stellen. So stellt sich die Frage, ob die didaktische Güte der Lehrkräfte proportional zu Dauer und Umfang ihrer Hochschulausbildung ist? Bisher ist nicht untersucht worden, ob Regelschullehrkräfte didaktisch schlechter sind als sonderpädagogische Lehrkräfte mit ihrer längeren Ausbildung. Wenn man frei von Statusverteidigung sprechen und schreiben kann, wie es uns aus dem berufspolitischen Gerangel Ausgeschiedenen allmählich möglich wird, dann kann man zum Fazit kommen, dass die Rückkehr zu einer guten gemeinsamen Ausbildung der Regel- und Sonderschullehrkräfte sinnvoll wäre, dass durch das Ausmisten von Ballast die Ausbildungszeiten verkürzt werden könnten und dass eine sonderpädagogische Spezialisierung im Anschluss an die zusammengelegte Ausbildung möglich wäre. Dies gilt dann, wenn in Zukunft den Lehramtsstudierenden insbesondere didaktisches Wissen und Können vermittelt und auf einigen akademischen und forschungsbezogenen Ballast verzichtet werden würde. Ich komme immer mehr zur Einsicht, dass die universitäre Lehrerbildung mit dem Doppelanspruch auf den praktischen Lehrberuf und auf eine Forscher- und Wissenschaftlerlaufbahn meistens fehlschlägt, weil sie sowohl oft unbefriedigend kompetente Lehrer und Lehrerinnen als auch oft ebenso unbefriedigend kompetente Forscher und Wissenschaftler produziert. Weil viele Dozenten und Dozentinnen in der Regel den Glauben an die Doppelqualifikation während der eigenen Ausbildung internalisiert haben, bleibt die Wendung zur didaktischen Kompetenz und Kreativität bei vielen Lehrkräften aus. Herzliche Grüsse Urs Haeberlin Christiane Hofmann an Urs Haeberlin 13. März 2013 Lieber Herr Haeberlin Ich möchte auf Ihre zentralen Punkte zur Lehrerausbildung grundsätzlich antworten: Das Lehren und Lernen von guter Unterrichtspraxis scheitert nicht nur an dem ebenfalls nicht eingelösten Anspruch, universitäre Wissenschafts- und Forschungspraxis in der Lehrerausbildung verlässlich zu etablieren, sondern auch daran, dass Didaktik innerhalb der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen eine inferiore Position einnimmt - zumindest in Deutschland. Dazu kommt, dass einige Dozenten innerhalb der Lehrerausbildung nicht nur das Unbehagen mit der ambivalenten Doppelqualifikation verinnerlicht haben, sondern mitunter eine unbefriedigende Schulpraxis zugunsten der Universität tauschen (möchten). Ich halte es für sehr wichtig, dass wir als Lehrende vermitteln, dass Unterrichten etwas ist, das einem Spaß machen sollte - was sich auch in interessanten Vorlesungen und Seminaren zeigt. Wenn ehemalige Lehrer an der Universität den Studenten sagen, wie furchtbar Schule sei, dass man bloß nicht Verhaltensgestörtenpädagogik studieren solle, dass man dann mit spätestens 40 Jahren ausgebrannt sei, und wenn wir es nicht durch unser Vorbild schaffen, Interesse und Begeisterung für gute Unterrichtspraxis zu wecken, müssen wir uns auch an die eigene Nase fassen. Eine didaktische Schwerpunktsetzung würde ich sehr unterstützen, aber nur, wenn - wie VHN 3 | 2013 249 CHristiaNe HofmaNN, Urs HaeberliN lehrerausbildung und inklusion DialoG z. B. in Finnland - Schulen an die Universität angeschlossen sind, sodass der Wechsel in die Praxis schnell herstellbar ist, und wenn Dozenten sich auch vor die Klasse stellen und zeigen müssen, was sie häufig nur theoretisch, mitunter höchst anspruchsvoll vermitteln, und damit auch im Kontakt zur Schulpraxis bleiben. Da mir oft die Arbeit in der Schule fehlte, habe ich einige Projekte sehr schulnah angelegt, sodass ich regelmäßig in Schulen unterwegs sein konnte. Meine eigene Berufsbiografie spiegelt dieses Mäandern um Schule und Wissenschaft wider. Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass die sonderpädagogische Spezialisierung nicht für alle Fachrichtungen gelten sollte; der Umgang mit Schwierigkeiten im Lernen und Verhalten gehört in den Regelschulbereich und benötigt keine sonderpädagogische Fachrichtung. Notwendig bleiben die Fachrichtungen für geistige Behinderung, für psychische Krankheiten und für Beeinträchtigungen durch Sinnesschädigungen. Deshalb gehören die beiden erstgenannten Fachrichtungen (Lern- und Verhaltensschwierigkeiten) in die Ausbildung aller Lehrer. Allerdings ist zu befürchten, dass aus der richtigen Entscheidung die falschen Konsequenzen gezogen werden, nämlich zu sparen. Inzwischen mehren sich in Deutschland die Stimmen, die die Inklusion als Sparprogramm kritisieren. Dazu gehört auch eine abgespeckte Sonderpädagogik für alle Lehrämter, die den Anforderungen in der Praxis nicht gerecht wird und vor der ich nur warnen kann! Ihre Frage, ob die Lehrkompetenz bei den ausgebildeten Förderschullehrern höher ist, ist meines Wissens nicht systematisch untersucht. Ich glaube eher, dass das Gegenteil der Fall ist, weil die öffentliche Kontrolle durch die Eltern der Regelschüler höher ist. Wie ich bereits geschrieben habe, ist das Lernniveau, mit dem Förderschüler bei uns die Schule für Lernhilfe verlassen, zu niedrig. Diese Schüler haben in der Regel keine Lobby, keine Eltern, die darauf schauen, dass man mit dem Abschluss auch eine Ausbildung beginnen kann. Das emotionale Klima in den Lernhilfeschulen ist schon allein durch die familiäre Gruppenstruktur besser als an manchen Regelschulen, dennoch sinkt das Lernniveau nach zwei Jahren Förderschule. Sie sollten - solange sie (noch) bestehen - nur den Status von Durchgangsschulen haben, um die Schüler wieder in die Regelschule zu bringen (wie z. B. in Kanada). Davon sind wir weit entfernt. Was in der Förderschule geschieht, spielt sich überwiegend auf der Beziehungsebene ab, was durchaus wichtig ist. Es fehlt aber oft an leistungsbezogener Motivation und Evaluation. Interessanterweise möchte der größere Anteil unserer Gießener Studenten trotz der Vorgaben durch die UN-Behinderten-Konvention lieber an Förderschulen als an Regelschulen arbeiten. Dieses Schonklima hat offensichtlich auch für manche zukünftigen Förderschullehrer immer noch einen gewissen Reiz. Für heute grüße ich Sie herzlich aus Brixen Christiane Hofmann Urs Haeberlin an Christiane Hofmann 17. März 2013 Liebe Frau Hofmann Einerseits teile ich Ihre kritische Einschätzung der Lehrerbildung. Andererseits sehe ich, dass mit der Forderung, zuerst die Lehrerbildung zu verändern, jede Schulreform in Richtung Integration verhindert werden kann. Kommt dazu, dass ‚Inklusion‘ eine radikal veränderte Haltung aller Beteiligten erfordert. Haltungen sind dem (hochschul)didaktischen Zugriff verwehrt. So bleibt nur der Rückgriff auf die alte pädagogische Kategorie des Vorbildes, die außerhalb von Machbarkeitsvorstellungen VHN 3 | 2013 250 CHristiaNe HofmaNN, Urs HaeberliN lehrerausbildung und inklusion DialoG liegt. So bleibe ich pragmatisch: Engagierten Lehrerteams mehr Spielraum lassen für Schritte zu gemeinsamem Unterricht! Stopp einem fahrlässig inflationären Umgang mit dem Wort „Inklusion“! anmerkung: auslöser für den mail-Wechsel ist der artikel ,Wie inklusion misslingen kann‘ von Christiane Hofmann in der faZ vom 30. 8. 2012. er kann angefordert werden bei christiane.hof mann@erziehung.uni-giessen.de. anschriften der autoren Prof. em. Dr. Urs Haeberlin Regensbergstrasse 162 CH-8050 Zürich urs.haeberlin@unifr.ch Prof. i. R. Dr. Christiane Hofmann Mengesstraße 11 D-35423 Lich/ Hessen Christiane.Hofmann@erziehung.uni-giessen.de
