eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2013
824

Brauchen wir eine neue Definition des Analphabetismus?

101
2013
Birte Egloff
Louis Henri Seukwa
Die hier diskutierte vorgelegte Definition ist das Ergebnis der Arbeit in der Fachgruppe Zielgruppenanalyse, die 2008 im Kontext des vom BMBF eingerichteten Förderschwerpunktes Forschungs- und Entwicklungsvorhaben im Bereich Alphabetisierung/Grundbildung für Erwachsene als eine von insgesamt acht Fachgruppen gegründet wurde. An den fünf Arbeitstreffen der Fachgruppe Zielgruppenanalyse nahmen projektübergreifend und in wechselnder Besetzung bis zu 45 Forscherinnen und Forscher teil, die sich in intensiven Diskussionen und im fachlichen Austausch auf diese Definition geeinigt haben. Die Definition folgt einem Baukastenprinzip: In einem knappen Kernsatz wird das Problem zunächst allgemein benannt, um es in den weiteren Ausführungen näher zu bestimmen. Je nach Fragestellung oder Projektkontext ist es möglich, die angebotenen Erläuterungen zu variieren oder zu ergänzen.
5_082_2013_004_0344
344 Brauchen wir eine neue Definition des Analphabetismus? Birte Egloff Frankfurt am Main Louis Henri Seukwa Hamburg DIALOG VHN 4 | 2013 Die hier diskutierte vorgelegte Definition ist das Ergebnis der Arbeit in der Fachgruppe „Zielgruppenanalyse“, die 2008 im Kontext des vom BMBF eingerichteten Förderschwerpunktes „Forschungs- und Entwicklungsvorhaben im Bereich Alphabetisierung/ Grundbildung für Erwachsene“ als eine von insgesamt acht Fachgruppen gegründet wurde. An den fünf Arbeitstreffen der Fachgruppe „Zielgruppenanalyse“ nahmen projektübergreifend und in wechselnder Besetzung bis zu 45 Forscherinnen und Forscher teil, die sich in intensiven Diskussionen und im fachlichen Austausch auf diese Definition geeinigt haben. Die Definition folgt einem „Baukastenprinzip“: In einem knappen Kernsatz wird das Problem zunächst allgemein benannt, um es in den weiteren Ausführungen näher zu bestimmen. Je nach Fragestellung oder Projektkontext ist es möglich, die angebotenen Erläuterungen zu variieren oder zu ergänzen. „Funktionaler Analphabetismus ist gegeben, wenn die schriftsprachlichen Kompetenzen von Erwachsenen niedriger sind als diejenigen, die minimal erforderlich sind und als selbstverständlich vorausgesetzt werden, um den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Diese schriftsprachlichen Kompetenzen werden als notwendig erachtet, um gesellschaftliche Teilhabe und die Realisierung individueller Verwirklichungschancen zu eröffnen. Unter schriftsprachlicher (literaler) Kompetenz ist die Fähigkeit zu verstehen, sich der Schrift als Kommunikationsmittel zu bedienen. Schriftsprachliche (literale) Kompetenzen in entfalteter Form sind: (1) sinnverstehendes Lesen in einem angemessenen Tempo (neben dem Lesen von Texten gehören hierzu auch das Verstehen von Tabellen, Grafiken, Listen oder quantitativen Darstellungen, ebenso das Deuten von Symbolen, Schildern, Beschriftungen etc.); (2) die Fähigkeit, sich schriftlich in einem angemessenen Tempo auszudrücken (neben dem Schreiben von Texten gehören hierzu auch das Ausfüllen und Beschriften von Grafiken, Tabellen, Listen, Formularen sowie das Beherrschen von Rechtschreibung und Zeichensetzung etc.). Eine sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft kritische Ausprägung literaler Kompetenz ist gegeben, wenn die literalen Fertigkeiten nicht ausreichen, um schriftsprachliche Anforderungen des täglichen Lebens und einfachster Erwerbstätigkeiten zu bewältigen. Dies ist gegenwärtig zu erwarten, wenn eine Person nicht in der Lage ist, aus einem einfachen Text eine oder mehrere direkt enthaltene Informationen sinnerfassend zu lesen und/ oder sich beim Schreiben auf einem vergleichbaren Kompetenzniveau befindet. Nicht zum Personenkreis der funktionalen Analphabeten gehören: TH EME NSTR ANG Funktionaler Analphabetismus VHN 4 | 2013 345 BIRTE EGLOFF, LOUIS HENRI SEUKWA Brauchen wir eine neue Definition des Analphabetismus? DIALOG n Menschen, die noch der Schulpflicht der allgemeinbildenden Schulen unterliegen (werden); n Erwachsene mit Migrationsstatus, die in ihrem Herkunftsland eine literale Sozialisation erfahren haben und trotz eingeschränkter Kompetenzen in Bezug auf Sprache bzw. Schriftsprache des Aufenthaltslandes gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten im Herkunftsland hatten; n Erwachsene, die infolge organischer oder psychischer Beeinträchtigungen grundsätzlich nicht oder nicht mehr in der Lage sind, sich literale Kompetenzen anzueignen. Innerhalb des Personenkreises der funktionalen Analphabeten kann unterschieden werden zwischen: n Erwachsenen mit Lernrückständen infolge unzulänglicher pädagogisch-didaktischer Angebote während der Schulzeit; n Erwachsenen, die als Kinder infolge schwieriger Lebensumstände bei der Aneignung literaler Kompetenzen behindert wurden; n Erwachsenen, denen zwar grundsätzlich die Aneignung von literalen Kompetenzen möglich ist, die aber aufgrund psycho-organischer Beeinträchtigungen Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb hatten oder haben; n Erwachsenen, denen bereits vorhandene literale Fertigkeiten infolge fehlender Praxis verloren gingen; n Erwachsenen mit Migrationshintergrund, die während ihrer Schulzeit aufgrund unzureichender Deutschkenntnisse Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb hatten oder haben. Funktionaler Analphabetismus kann einhergehen mit prekären Lebensumständen, wie z. B. Arbeitslosigkeit, sozialer Vererbung, schwachen Schriftsprachleistungen, Bildungsferne sowie permanenter Abhängigkeit von sozialstaatlicher und/ oder privater Hilfe. Ebenso können Kompetenzen in anderen Bildungsbereichen, z. B. Mathematik, Medien, Gesundheit, Ökonomie eingeschränkt sein.“ (Egloff u. a. 2011, 14f) Louis Henri Seukwa an Birte Egloff Liebe Frau Egloff, haben Sie vielen Dank für die von Ihrer Fachgruppe vorgeschlagenen definitorischen Überlegungen. Die erarbeitete Definition assoziiert funktionalen Analphabetismus mit einem individuellen Defizit an schriftsprachlichen Kompetenzen von Erwachsenen, was eine Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Partizipation der betroffenen Menschen zur Folge hat. Die Stärke dieser Definition liegt m. E. vor allem in ihren Folgen für die pädagogische Praxis. Denn dadurch wird ein Set von Fertigkeiten identifiziert, das es bis zu einem bestimmten messbaren Niveau zu erwerben, zu vermitteln oder weiterzuentwickeln gilt. Die Ähnlichkeit der hier vorgelegten Definition von funktionalem Analphabetismus mit der PISA-Studie der OECD ist jedoch sowohl in ihren konstitutiven Elementen als auch in funktionaler Hinsicht nicht zu übersehen. PISA hat im letzten Jahrzehnt einen neuen bildungstheoretischen Diskurs um Literacy ausgelöst. PISA, genauso wie Ihre Fachgruppe, betrachtet Literalität als eine Art individualisiertes, kontextunabhängiges und technologisches Vermögen für die ideale Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf persönliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen der Zukunft. Nun wirft m. E. diese „autonome“ und funktionale Sichtweise auf literarische Kompetenzen etliche Fragen epistemischer und praktischer Natur auf, über die ich mich gerne mit Ihnen austauschen würde. Ich beschränke mich zunächst auf zwei Fragen: 1. Die so genannten New Literacy Studies stellen dem Ihrer Fachgruppe zugrunde liegenden autonomen Modell von Literalität ein kontextrelationales Modell gegenüber, welches auf der Grundlage einer großen Anzahl VHN 4 | 2013 346 BIRTE EGLOFF, LOUIS HENRI SEUKWA Brauchen wir eine neue Definition des Analphabetismus? DIALOG ethnografischer Untersuchungen ausgearbeitet wurde. Literacy wird als eine kontextspezifische soziale Praxis im Umgang mit schriftsprachlichen Gegenständen resp. Texten betrachtet. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir etwas genauer erläutern könnten, welche Rolle dieser soziale Kontext in Ihrer Definition von schriftsprachlichen Kompetenzen spielt. 2. Literale Kompetenzen werden im kontextrelationalen Modell nicht mehr als ein bloßer Erwerb von Basiskompetenzen für „das sinnverstehende Lesen in einem angemessenen Tempo“, die Fähigkeit, „sich schriftlich auszudrücken“ oder korrekt mit Zahlen umzugehen gesehen, sondern beinhalten mehrere Dimensionen und Praktiken, die in verschiedenen kulturellen Prozessen, individuellen Umständen und kollektiven Strukturen verankert sind. Deswegen plädiert dieser Ansatz dafür, nicht nur die Kontexte, in denen die literalen Praktiken eingebettet sind, zu analysieren, sondern auch und vor allem die individuelle Bedeutung dieser schriftsprachlichen Praktiken für die darin involvierten Menschen an einem spezifischen Ort, zu einer spezifischen Zeit, unter spezifischen Bedingungen und spezifischen Anwendungsbereichen zu untersuchen. Dieser kontextrelationale Blick auf Literacy als ein für das Individuum bedeutungsvolles literales Ereignis spricht ebenfalls gegen ein autonomes Verständnis des Phänomens. Was halten Sie davon? Birte Egloff an Louis Henri Seukwa Lieber Herr Seukwa, erklärtes Ziel der gemeinsamen Arbeit in der Fachgruppe sollte keine gänzlich „neue“ Definition sein, sondern eine, die sich an bisherigen, allgemein anerkannten Definitionen (etwa die der UNESCO) orientiert und an diese anknüpft, dabei aber auch neuere Erkenntnisse der Alphabetisierungs- und Grundbildungsforschung mit einbezieht. Vor allem aber sollte es eine Definition sein, die konkrete Operationalisierungen erlaubt - etwas, was den anderen Definitionen fehlt -, um die Frage, wer denn nun funktionaler Analphabet ist und wer nicht, eindeutiger klären zu können. Die Antwort darauf führt unmittelbar zur Problematik des Ausmaßes von funktionalem Analphabetismus, denn je nachdem, wo die Grenze gezogen wird, gibt es mehr oder weniger funktionale Analphabeten und gerät das Thema stärker oder weniger stark ins Zentrum bildungspolitischer, aber auch (erziehungs-)wissenschaftlicher und (erwachsenen-)didaktischer Aufmerksamkeit. Ergebnis dieser prinzipiellen Überlegungen ist nun eine definitorische Grundlage, die für Wissenschaft und Praxis nutzbar und vielseitig verwendbar ist bzw. sein soll. Gleichwohl standen wir bei der Erarbeitung der Definition vor dem grundlegenden Problem - und hier komme ich nun zu Ihrer ersten Frage -, dass funktionaler Analphabetismus immer zwei Dimensionen beinhaltet: eine individuelle Dimension, insofern der einzelne Mensch mit seinen Kompetenzen im Mittelpunkt steht, und eine gesellschaftliche Dimension, insofern dieser Mensch mit gewissen Normen, Erwartungen und Anforderungen hinsichtlich Literalität konfrontiert wird, die zu einem gewissen Zeitpunkt innerhalb einer Gesellschaft als gültig angenommen werden, die jedoch nicht starr und eindeutig sind, sondern sich eben je nach Zeit, Ort und Kontext wandeln können. Die Voraussetzungen, unter denen man jeweils von funktionalem Analphabetismus sprechen kann, sind der Fachgruppe also durchaus bewusst: Immer geht es um die konkrete Gesellschaft, in der ein Mensch lebt. Darauf will die erarbeitete Definition abzielen, indem sie auf unsere aktuelle Gesellschaft Bezug nimmt und darin festgelegte Kompetenzen im Lesen und Schreiben benennt. Diesen Überlegungen liegt auch die Entscheidung der VHN 4 | 2013 347 BIRTE EGLOFF, LOUIS HENRI SEUKWA Brauchen wir eine neue Definition des Analphabetismus? DIALOG Fachgruppe zugrunde, sich im Sinne einer handhabbaren, theoretisch nicht überfrachteten Definition tatsächlich nur auf schriftsprachliche Kompetenzen und damit auf ein spezifischeres Verständnis von Literalität zu konzentrieren, das sich von dem Konzept „multipler Literalitäten“ der New Literacy Studies unterscheidet. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich „unsere“ Definition dieser Herangehensweise verschließt oder gar eine konträre Haltung dazu einnehmen würde. Vielmehr sieht die Fachgruppe die Definition in gewisser Weise als eine Art „Baukasten-System“ an, das an spezifische Bedürfnisse der jeweiligen Fragestellung ohne Weiteres angepasst werden kann. In diesem Sinne könnten die Erläuterungen in der Definition so umformuliert oder ergänzt werden, dass auch andere als schriftsprachliche Kompetenzen in den Blick kommen. Mit Ihrer zweiten Frage fühle ich mich als biografische Alphabetisierungsforscherin (vgl. Egloff 1997; Egloff/ Grotlüschen 2011) direkt angesprochen und stimme Ihrer Einschätzung voll und ganz zu. Gesellschaftliche Anforderungen an Lese- und Schreibkompetenzen - seien sie auch noch so detailliert und nachprüfbar formuliert - sind nicht nur historisch wandelbar, sondern stehen immer auch im Spannungsfeld von individuellen Deutungen und Aneignungspraktiken. Ob, und wenn ja welche literale Praktiken im Alltag eines Menschen für ihn selbst eine Rolle spielen oder nicht, kann folglich nicht mit einem Bündel an Kompetenzbeschreibungen oder einem normativen Verständnis von Literalität empirisch erfasst werden. Um dies herauszufinden, sind andere Methoden vonnöten, wie sie etwa die Biografieforschung oder eben die Ethnografie, auf die die New Literacy Studies ja zurückgreifen, vorsehen, also etwa narrative Interviews, teilnehmende Beobachtungen, Fotodokumentationen usw. Diese Zugänge erweitern die Perspektive, mit der man funktionalen Analphabetismus betrachten kann, indem sie den Blick auch auf andere Kompetenzen richten, über die ein Individuum verfügt und die ihm Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeiten jenseits bestimmter schriftsprachlicher Kompetenzen einräumen. Die Frage ist, ob diese Feststellung nun im Widerspruch zur vorgelegten Definition steht? Ich denke nicht. Zwar hat die Fachgruppe entschieden, diesen Aspekt der subjektiven Deutungsmuster hinsichtlich der eigenen Lese- und Schreibfähigkeiten (zunächst) nicht weiter zu berücksichtigen, doch eine entsprechende Erweiterung der Definition ist durchaus impliziert. Biografische und ethnografische Zugänge fördern häufig zudem ganz andere (Lebens-)Themen bei den Befragten zutage, die nur auf den ersten Blick in Zusammenhang mit dem Analphabetismus bzw. den konkreten Lese- und Schreibkompetenzen stehen. In diesem Fall würde unsere Definition nicht greifen bzw. wäre sogar eigentlich irrelevant für Fragestellungen und Erkenntnisse dieser Art. Louis Henri Seukwa an Birte Egloff Liebe Frau Egloff, erlauben Sie mir - bezugnehmend auf Ihre Ausführungen zur Bedeutung des Kontexts bei der Erarbeitung der von der Fachgruppe vorgelegten Definition von funktionalem Analphabetismus - einen kritischen Kommentar hinzuzufügen. Sie schreiben: „Immer geht es um die konkrete Gesellschaft, in der ein Mensch lebt. Darauf will die erarbeitete Definition abzielen, indem sie auf unsere aktuelle Gesellschaft Bezug nimmt und darin festgelegte Kompetenzen im Lesen und Schreiben benennt.“ Ich glaube, dass wir an dieser Stelle ein unterschiedliches Verständnis vom Begriff ,Kontext‘ haben. Diese Divergenz ist jedoch folgenreich für eine adäquate phänomenologische Bestimmung von funktionalem Analphabetismus. So ist m. E. der Rekurs auf „die konkrete Gesellschaft“ oder „unsere aktuelle Gesell- VHN 4 | 2013 348 BIRTE EGLOFF, LOUIS HENRI SEUKWA Brauchen wir eine neue Definition des Analphabetismus? DIALOG schaft“ nicht sehr hilfreich, denn der Topos Gesellschaft scheint mir zu allgemein, sozialräumlich multidimensional, lebensweltlich ausdifferenziert und für die Alltagshandlungen des Einzelnen extrem vielfältig zu sein, um für die Definition ein adäquates Referenzsystem zu konstituieren; es sind Aspekte, die im etymologischen Sinne von con-texere, „zusammenweben“, „etwas verknüpfen“, mit dem Begriff Kontext gegeben sind. Ich spreche in diesem Zusammenhang von der Soziokontextualität von Kompetenzen (vgl. Seukwa 2007). Ich kenne etliche mittelschichts- und einsprachig sozialisierte deutsche Forscherinnen und Forscher, die Bände davon erzählen könnten, wie sie trotz abgesichertem Feldzugang und guter Methodenkompetenz in Forschungen mit sog. Randgruppen weder über die im Milieu erforderlichen Sprachnoch über die sonstigen Lebensweltkompetenzen zur Alltagsbewältigung verfügen, um beispielsweise erfolgreich eine teilnehmende Beobachtung von Jugendlichen in einem Hamburger Stadtteil durchzuführen. Können diese Kolleginnen und Kollegen in diesem Kontext „unserer Gesellschaft“ nicht auch als funktionale Analphabeten betrachtet werden? Spielt denn die Frage der Bestimmungsmacht eine Rolle bei Ihrer Definition von funktionalem Analphabetismus? Birte Egloff an Louis Henri Seukwa Lieber Herr Seukwa, in der Tat übt die Fachgruppe hier eine gewisse Bestimmungsmacht aus und hat bezogen auf die Frage, welche Gesellschaft gemeint ist bzw. welche Norm zugrunde liegt, wenn es um die konkret erwartbaren Anforderungen an Schriftsprachkompetenz geht, eine Setzung vorgenommen - ganz so, wie es der Begriff der definitio in seiner lateinischen Ursprungsbedeutung im Sinne von Abgrenzung vorsieht: So werden bestimmte Aspekte des Phänomens mit eingeschlossen, andere bleiben außen vor. Unsere Definition geht davon aus, dass es in der (deutschen) Gesellschaft etwa seit Mitte der 1970er Jahren infolge (welt-)wirtschaftlicher Krisen, aber auch infolge von Technisierung und Rationalisierung der Arbeitswelt einen enormen Wandel hinsichtlich der konkreten Lese- und Schreib-Anforderungen, die an das Individuum gestellt werden, gegeben hat. Mögen in Zeiten der Vollbeschäftigung beispielsweise Bewerbungsschreiben keine große Rolle gespielt haben, werden sie plötzlich zum Selektionskriterium, mit dem Individuen von Teilhabe am Arbeitsmarkt ausgeschlossen, mindestens aber stark eingeschränkt werden. Unserer Ansicht nach lassen sich so eine Reihe konkreter Lese- und Schreibanforderungen benennen, die Individuen zur Bewältigung ihres Alltags benötigen und die im Übrigen auch von den Individuen selbst als wichtig erachtet werden, wie Interviews mit ihnen offenlegen: Kann jemand einen Bus- oder Zugfahrplan, eine Speisekarte, eine Stellenanzeige oder die Anleitung für eine Maschine lesen? Kann jemand den Beipackzettel eines Medikaments sinnentnehmend lesen und eventuelle Gesundheitsrisiken abschätzen? Kann jemand die Unterlagen für Krankenkasse, Versicherung, Bank u. Ä. eigenständig ausfüllen und seine Interessen gegenüber Dritten angemessen vertreten? Ist eine Person in der Lage, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen und sie in schulischen Belangen zu unterstützen? Vor diesem Hintergrund kann die Fachgruppe ihre Festlegung in jedem Fall legitimieren. Sie entspricht den im Rahmen der „Lea“-Studie (Grotlüschen u. a. 2011) und der „Leo“-Studie (Grotlüschen/ Riekmann 2012) entwickelten Alpha-Levels, die bezogen auf Lesen und Schreiben, aber auch auf Rechnen und Sprachempfinden Items festgelegt haben, mit denen Grenzziehungen vorgenommen werden können. VHN 4 | 2013 349 BIRTE EGLOFF, LOUIS HENRI SEUKWA Brauchen wir eine neue Definition des Analphabetismus? DIALOG Die Fachgruppe offenbart damit auch eine bestimmte Position innerhalb des (wissenschaftlichen) Feldes, die - um Ihr Beispiel aufzugreifen - auch eine Gruppe Hamburger Jugendlicher offenbaren würde, die bezogen auf ihr spezifisches Milieu Zugehörigkeiten und Nichtzugehörigkeiten sowie die darin als notwendig erachteten Kompetenzen definieren würde und mit Recht Personen in diesem Kontext als eine Art funktionale Analphabeten bezeichnen könnte, die nicht über diese Kompetenzen verfügen. Insofern stimme ich Ihnen hier zu. Es geht also nicht nur darum, was definiert wird, sondern auch darum, wer von welchem Standpunkt aus und mit welchem Interesse definiert. Denn natürlich haben solche Setzungen Folgen: Die mithilfe der Alpha-Levels festgestellten 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland stellen eine bildungspolitisch brisante Gruppe dar. Wäre dies auch der Fall, wenn man von niedrigeren Schriftsprachkompetenzen ausgehen würde und es nur um ein paar hunderttausend Personen ginge? Ich denke, dass man aus diesem Dilemma der Bestimmungsmacht grundsätzlich nicht herauskommt, dass man es - ganz im Sinne der Forderung Bourdieus nach Reflexion des Einflusses der Forschungspraxis auf den zu untersuchenden Gegenstand - möglicherweise aber stärker explizieren, d. h. als Standpunkt kenntlich machen müsste und sich natürlich anderen Zugängen und Positionen nicht verschließen darf - was ja auch nicht der Intention der Fachgruppe entspricht. Louis Henri Seukwa an Birte Egloff Liebe Frau Egloff, die Fachgruppe schließt u. a. „Erwachsene mit Migrationsstatus, die in ihrem Herkunftsland eine literale Sozialisation erfahren haben und trotz eingeschränkter Kompetenzen in Bezug auf Sprache bzw. Schriftsprache des Aufenthaltslandes dort gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten haben“, vom Personenkreis der funktionalen Analphabeten aus. Damit werden die ‚mitgebrachten‘ literalen Kompetenzen der „Erwachsenen mit Migrationsstatus“ als nutzbare Ressourcen für ihre gesellschaftliche Partizipation erachtet. So sympathisch mir diese Position persönlich ist, ist sie doch nicht unumstritten. Denn dieser Ansatz, so der Einwand, sei hinderlich für die gesellschaftliche Teilhabemöglichkeit des angesprochenen Personenkreises, weil er zur Benachteiligung bspw. im Prozess der Bildung und beruflichen Integration in der Migrationsgesellschaft beitrage und somit auch Aufstiegschancen verschließe. Birte Egloff an Louis Henri Seukwa Lieber Herr Seukwa, bezogen auf die Zielgruppe der Migrantinnen und Migranten hat unsere Fachgruppe eine grundsätzliche Einschränkung gemacht: Diejenigen Personen, die auch in ihrer Muttersprache - aus verschiedenen Gründen - nicht literalisiert sind, sind keine „funktionalen“, sondern sogenannte „primäre“ Analphabeten und spielen folglich in unserer Definition keine Rolle. Personen, die in ihrer Muttersprache literalisiert sind und dann in ein anderes Land und/ oder eine andere Sprachkultur wechseln, haben wir auch nicht zu den funktionalen Analphabeten gerechnet, da sie generell über Lese- und Schreibkompetenzen in ihrer Muttersprache verfügen, lediglich die Sprache des Ziellandes noch erwerben müssen und so mit der Zeit ihre Teilhabemöglichkeiten, die sie im Herkunftsland hatten, auch in der neuen Gesellschaft wieder erlangen können. Im Blick waren hier beispielsweise solche gut ausgebildeten Migrant/ innen, die infolge der Migration im neuen Aufenthaltsland auf Barrieren und Hindernisse gestoßen sind (etwa fehlende Anerkennung VHN 4 | 2013 350 BIRTE EGLOFF, LOUIS HENRI SEUKWA Brauchen wir eine neue Definition des Analphabetismus? DIALOG von im Herkunftsland erworbenen Bildungsabschlüssen) und deshalb in ihrer Teilhabe eingeschränkt sind. Dieser Gruppe helfen jedoch keine Alphabetisierungs- und Grundbildungsangebote - sie benötigen vielmehr grundsätzliche Regelungen, die beispielsweise die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen erleichtern, was zunächst einen politischen Willen voraussetzt. Im Blick war auch jene besondere Gruppe der „highly skilled migrant ohne Alphabetisierungsbedarf und mit politisch-institutioneller Bevorzugung“ (Sahrai u. a. 2011, 40), die etwa von großen Unternehmen angeworben werden und dabei zahlreiche Unterstützungsangebote und Vergünstigungen innerhalb ihrer „community“, aber auch vonseiten der Politik erhalten. Und doch bleiben Unschärfen. Mit unserer Definition könnte man ebenso gut folgendermaßen argumentieren: Kommt ein Erwachsener in irgendeiner Schriftsprache zurecht, dann ist er kein funktionaler Analphabet, solange er sich in seiner Herkunftsgesellschaft aufhält und sich die Anforderungen an Schriftsprachkompetenz nicht grundlegend verändern; lebt diese Person jedoch in Deutschland und verfügt nach einiger Zeit noch immer nur über geringe, als nicht ausreichend definierte Lese- und Schreibkompetenzen in der deutschen Sprache, zählt sie zur Gruppe der funktionalen Analphabeten - so jedenfalls hat auch die schon erwähnte Leo- Studie entschieden und diese Personen dieser Kategorie zugeordnet. Letztlich sind wohl auch diese Entscheidungen kontingent. Literatur Egloff, B. (1997): Biographische Muster funktionaler Analphabeten. Eine biographieanalytische Studie zu Entstehungsbedingungen und Bewältigungsstrategien von funktionalem Analphabetismus. Frankfurt: DIE (Deutsches Institut für Erwachsenenbildung) Egloff, B.; Grotlüschen, A. (Hrsg.) (2011): Forschen im Feld der Alphabetisierung/ Grundbildung. Ein Werkstattbuch. Münster: Waxmann Egloff, B.; Grosche, M.; Hubertus, P.; Rüsseler, J. (2011): Funktionaler Analphabetismus im Erwachsenenalter: eine Definition. In: Projektträger im DLR e.V. (Hrsg.): Zielgruppen in Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. Bestimmung, Verortung, Ansprache. Bielefeld: Bertelsmann, 11 -31 Grotlüschen, A.; Kretschmann, R.; Quante-Brandt, E.; Wolf, K. D. (Hrsg.) (2011): Literalitätsentwicklung von Arbeitskräften. Münster: Waxmann Grotlüschen, A.; Riekmann, W. (Hrsg.) (2012): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. - Level One Studie. Münster: Waxmann Sahrai, D.; Gerdes, J.; Drucks, S.; Tuncer, H. (2011): Eine Typologie des funktionalen Analphabetismus. In: Projektträger des DLR e. V. (Hrsg.): Zielgruppen in Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. Bestimmung, Verortung, Ansprache. Bielefeld: Bertelsmann, 33 -58 Seukwa, L. H. (2007): Soziokontextualität von Kompetenz und Bildungsprozesse in transnationalen Räumen. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 3, 295 -309 Anschriften der Autoren Dr. phil. Birte Egloff, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Fachbereich Erziehungswissenschaften Grüneburgplatz 1 D-60323 Frankfurt a. M. b.egloff@em.uni-frankfurt.de Prof. Dr. phil. Louis Henri Seukwa Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg Department Soziale Arbeit Alexanderstraße 1 D-20099 Hamburg louishenri.seukwa@haw-hamburg.de