Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2013.art04d
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Trend: Diversity
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Melanie Plößner
Der Begriff Diversity ist in den vergangenen Jahren zu einem Leitbegriff differenztheoretischer Überlegungen avanciert. In pädagogischen wie auch in wirtschaftlichen Diskursen ist die Rede von Diversity-Trainings, Diversity-Instituten, Diversity-Management, Diversity-Ansätzen und Diversity-Methoden. Ist Diversity also die aktuelle Trend-Strategie im Umgang mit Differenzen? Und was meint Diversity überhaupt?
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60 < RubRik > VHN, 82. Jg., S. 60 -63 (2013) DOI 10.2378/ vhn2013.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Diversity Melanie Plößer Fachhochschule bielefeld TRend Der Begriff Diversity ist in den vergangenen Jahren zu einem Leitbegriff differenztheoretischer Überlegungen avanciert. In pädagogischen wie auch in wirtschaftlichen Diskursen ist die Rede von Diversity-Trainings, Diversity-Instituten, Diversity-Management, Diversity-Ansätzen und Diversity-Methoden. Ist Diversity also die aktuelle Trend-Strategie im Umgang mit Differenzen? Und was meint Diversity überhaupt? Zunächst steht „Diversity“ für ein Verständnis von Differenz, im Rahmen dessen die Vielzahl von Differenzen zu berücksichtigen gesucht wird. Anders als in Ansätzen der interkulturellen, feministischen oder der integrativen Pädagogik, in denen es vor allem um die Anerkennung einer Hauptdifferenz geht, will Diversity der Verengung auf eine Kategorie entgehen und stattdessen Differenz im Plural denken. Hintergrund dieser Perspektiverweiterung bildet die differenztheoretische Einsicht, dass Subjekte nicht nur entlang einer, sondern im Gegenteil entlang einer Vielzahl sozialer Differenzkategorien wie etwa „Geschlecht“, „Klasse“, „sexuelle Orientierung“, „Alter“, „Ethnizität“, „Behinderung“ oder „Religion“ wahrgenommen und eingeordnet werden, entlang dieser Kategorien Ressourcen zugewiesen oder abgesprochen bekommen, identitäre Zuordnungen erfahren oder selber vornehmen. Die daraus folgende Forderung der Anerkennung, dass Subjekte „unterschiedlich verschieden“ (Lutz/ Wenning 2001) sind, kann deshalb als zentrale Grundlage von Diversity-Ansätzen verstanden werden. Dabei werden Unterschiede in Diversity- Ansätzen nicht mehr als Ausnahme, sondern anerkennend als positive Regel gewertet: Jede/ r ist unterschiedlich verschieden. Gehen alle Diversity-Ansätze zwar insgesamt von einer Vielfalt von Differenzlinien aus, werden aus dieser Annahme dennoch keine einheitlichen Konsequenzen gezogen und keine einheitlichen Forderungen entwickelt (vgl. Munsch 2010, 26). Ganz im Gegenteil finden sich in den aktuellen Diskussionen Positionen, in denen Diversity mit ganz unterschiedlichen, zum Teil sogar widersprüchlichen Zielen und Ansprüchen beschrieben wird (vgl. Scherr 2011). Während Diversity in einigen Lesarten als Möglichkeit der Sensibilisierung für die Verwobenheit von Differenzlinien und der Veränderung von Diskriminierungsverhältnissen verstanden wird, gibt es ebenso Positionen, in denen Diversity vor allem als eine positive Affirmation sozialer Unterschiede beschrieben wird und Ungleichheitsverhältnisse wenig bis gar nicht berücksichtigt werden. Diese recht konträren Verständnisse von Diversity mögen dabei auf unterschiedliche Entwicklungslinien der Perspektive zurückgeführt werden: nämlich in einem eher in der Wirtschaft verbreiteten Ansatz der „Managing Diversity“, bei dem es vor allem um die Anerkennung von Unterschieden unter dem Fokus der Nützlichmachung und Gewinnmaximierung geht, und einer eher gerechtigkeitstheoretisch fundierten, auf die Beseitigung von Ungleichheiten und Ausgrenzungen abzielenden „Diversity-Politik“ (vgl. Abdul- VHN 1 | 2013 61 MElaNIE PlöSSER Diversity TRend Hussain/ Baig 2009; Munsch 2010). Angesichts der daraus resultierenden politisch wie ethisch so unterschiedlichen Ansprüche und Ziele des Begriffs „Diversity“, erweist es sich für eine pädagogisch motivierte Beschäftigung mit Diversity als unausweichlich zu fragen, „ob das Verständnis von Diversity, auf das ich mich in meiner Praxis beziehe, zu den politischen Ansprüchen, die ich vertreten möchte, passt“ (Kuhn 2012, o. S.). Insofern pädagogisches Handeln als auf die Herstellung von Chancengleichheit und gerechter gesellschaftlicher Teilhabe abzielend verstanden werden kann, muss Diversity mehr sein als die affirmative Bestätigung, dass ja „alles so schön bunt ist“. Da nämlich, wie María do Mar Castro Varela (2010, 254) schreibt, „Buntheit (…) nicht das Ziel sein [kann], sondern eher das Problem [ist]“ (Einfügung M. P.), gilt es Diversity an macht- und ungleichheitssensible Ansätze der Differenzforschung, die sich gerechtigkeitstheoretischen Verständnissen verpflichtet sehen, rückzubinden. Ohne eine solche Rückkoppelung verbleibt Diversity auf der Ebene des Feierns von Buntheit, drohen Ungleichheitsverhältnisse ausgeblendet, Differenzen essentialisiert und bloß als (nützliche) Ressourcen wahrgenommen zu werden. Als hilfreiches Konzept, das Diversity dabei hilft, Differenzverhältnisse als komplexe Diskriminierungsverhältnisse analytisch und reflexiv in den Blick zu nehmen, kann das Konzept der Intersektionalität verstanden werden. Ebenso wie Diversity ist Intersektionalität mittlerweile auch zu einem Trendbegriff der Differenzforschung avanciert. Beiden Ansätzen ist der Blick auf die Vielfalt und Verwobenheit von Differenzlinien gemein. Anders als bei dem zunächst offenen Konzept „Diversity“ zeichnen sich intersektionale Perspektiven durch eine explizit macht- und ungleichheitskritische Fundierung aus. So wurde das Konzept in den 1980er Jahren im Kontext der US-amerikanischen Genderforschung entwickelt, um den komplexen Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen ungleichheitsgenerierenden Differenzkategorien gerechter werden zu können. Hier hatte Kimberlé Crenshaw (1989) den Begriff „intersectionality“ in die Debatten eingeführt, um auf die komplexen Kreuzungen von Diskriminierungsmechanismen und -erfahrungen schwarzer Frauen verweisen zu können. Das analytische Interesse intersektionaler Ansätze gilt damit explizit den mit den Kreuzungen von Differenzlinien einhergehenden Ungleichheitsformen und -erfahrungen und nicht den daraus resultierenden Kompetenzen und Ressourcen. Und: Bleiben in Diversity-Konzepten die Antworten auf die Frage, wie denn die unterschiedlichen Differenzlinien in ihren Verknüpfungen analytisch zu erkennen und zu bedenken sind, eher vage, zeigen intersektionale Ansätze konkret auf, wie und auf welchen Ebenen solche Analysen und Reflexionen methodisch erfolgen können (vgl. dazu etwa Winker/ Degele 2009; Riegel 2011). Gleichwohl bleibt insgesamt die Frage zu klären, welche und wie viele Differenzen überhaupt berücksichtigt werden sollen. Durch eine Einengung der Perspektive auf bestimmte Differenzkategorien (z. B. race, class, gender) drohen auf der einen Seite wirkmächtige Differenzen ausgeblendet zu werden (z. B. disability). Auf der anderen Seite sind aber auch nicht alle Differenzen gesellschaftlich als gleich bedeutsam zu betrachten. So kann etwa gegen die mögliche Interpretation von Diversity als Anerkennung, dass ja „jede/ r irgendwie anders sei“, eingewendet werden, dass es Differenzen gibt, die auf der Ebene gesellschaftlicher Strukturen und Diskurse wirkmächtiger sind als andere und als solche die Lebenswelten von Subjekten auch stärker beeinflussen und beschränken können. Beispielsweise haben ableistische oder rassistische Diskurse einen größeren Einfluss auf die sozialen Positionierungen von Subjekten als 62 MElaNIE PlöSSER Diversity TRend VHN 1 | 2013 die neuen Raucher/ innen-Gesetze (vgl. dazu auch Leiprecht 2011, 31). Für Davina Cooper (2011, 95) gilt es deshalb „zwischen Formen von Ungleichheit zu unterscheiden, welche als soziale Grundsätze operieren, und denjenigen wie zum Beispiel dem Rauchen, die dies derzeit nicht tun“. Eine machtkritische Fundierung erhalten Diversity-Ansätze nun aber nicht nur durch den Anspruch, die vielfältigen Differenzverhältnisse als Diskriminierungsverhältnisse wahrzunehmen, sondern dadurch, diese Machtverhältnisse auch ändern zu wollen. Geht es Diversity darum, Vielfalt anzuerkennen und wertschätzend zur Geltung zu bringen, gilt es umkehrt, strukturelle und institutionelle Bedingungen wie auch normative Diskurse, die zur Nicht-Anerkennung und zur Ausblendung von Vielfalt führen, kritisch in den Blick zu nehmen und das Ziel der Anerkennung mit Fragen nach gerechteren Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu verknüpfen. Im Rahmen einer solchen transformativen Wendung von Diversity als „Antidiskriminierungspraxis“ kann sich eine Orientierung an bestehenden differenzpädagogischen Diskursen - wie z. B. denen der Heilpädagogik, der feministischen oder der rassismuskritischen Pädagogik - als hilfreich erweisen. Zum einen, weil diese über ein vertieftes Wissen über die jeweils relevanten Differenz- und Dominanzverhältnisse verfügen (vgl. Leiprecht 2011, 37f), zum anderen, weil sie wichtige Hinweise darauf geben können, wie Angebote gestaltet werden müssen (Barrierefreiheit, Anerkennung von Sprachenvielfalt, gendergerechte Ansprachen), damit sich die Subjekte in diesen überhaupt positionieren, darstellen und Anerkennung erfahren können. Diversity sollte damit gerade nicht als Ablösung von integrativen, antisexistischen oder antirassistischen Pädagogiken verstanden werden. Vielmehr kann Diversity als eine Perspektiverweiterung für solche Angebote und Ansätze gelten, die Differenzverhältnisse eh schon als konstitutiv für soziale Wirklichkeit und damit als analyse- und veränderungsbedürftig erkannt haben. Diversity ist mithin ambivalent zu betrachten. Die analytische und politische Unschärfe lässt die in Diversity-Ansätzen profilierte Perspektive auf die Vielfalt von Differenzen sowohl an affirmative, utilitaristische Konzepte als auch an machtkritische und transformative, d. h. auf Gerechtigkeit und Antidiskriminierung abzielende Positionen anbinden. Für die Pädagogik gilt es deshalb die Verständnisse, Ziele und Effekte von Diversity kritischreflexiv zu bedenken, um zu vermeiden, dass „das Eintreten für Differenz und für die Pluralität von Differenz Machtverhältnisse als Dominanz- und Herrschaftsverhältnisse bestätigt und ermöglicht“ (Mecheril/ Vorrink 2012, 99). Literatur abdul-Hussain, Surur; Baig, Samira (2009): Diversity - eine kleine Einführung in ein komplexes Thema. In: abdul-Hussain, Surur; Baig, Samira (Hrsg.): Diversity in Supervision, Coaching und Beratung. Wien: Facultas, 15 -60 Castro Varela, María do Mar (2010): Un-Sinn: Postkoloniale Theorie und Diversity. In: Kessl, Fabian; Plößer, Melanie (Hrsg.): Differenzierung, Normalisierung, andersheit. Soziale arbeit als arbeit mit den anderen. Wiesbaden: VS, 249 -262 Cooper, Davina (2011): From Blokes to Smokes: Differenzen theoretisieren. In: Castro Varela, María do Mar; Dhawan, Nikita (Hrsg.): Soziale Ungerechtigkeit. Kritische Perspektiven auf Diversity, Intersektionalität und antidiskriminierung. Münster: lIT, 78 -98 Crenshaw, Kimberlé (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: a Black Feminist Critique of antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and antiracist Politics. In: The University of Chicago legal Forum 1989, 139 -167 VHN 1 | 2013 63 MElaNIE PlöSSER Diversity TRend Kuhn, Melanie (2012): Herrschaftskritische Perspektiven auf Diversity-Konzepte in der Pädagogik. Potenzial und Grenzen. Vortrag beim Bundesvorstand der SJD - Die Falken in Oer- Erkenschwick am 28. april 2012. Online unter: http: / / www.wir-falken.de/ themen/ queer/ 6013 561.html, 6. 8. 2012 leiprecht, Rudolf (2011): auf dem langen Weg zu einer diversitätsbewussten und subjektorientierten Sozialpädagogik. In: leiprecht, Rudolf (Hrsg.): Diversitätsbewusste Soziale arbeit. Schwalbach/ Ts.: Wochenschau Verlag, 15 -50 lutz, Helma; Wenning, Norbert (2001) (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: leske und Budrich Mecheril, Paul; Vorrink, andrea J. (2012): Diversity und Soziale arbeit: Umriss eines kritischreflexiven ansatzes. In: archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen arbeit. Themenheft: Diversity Management und soziale arbeit 1/ 2012; 92 -101 Munsch, Chantal (2010): Engagement und Diversity. Der Kontext von Dominanz und sozialer Ungleichheit am Beispiel Migration. Weinheim und München: Juventa Riegel, Christine (2011): Intersektionalität - auch ein ansatz für die Praxis? Perspektiven für Reflexion, Kritik und Veränderung. In: Bibouche, Seddik; leiprecht, Rudolf (Hrsg.): „Nichts ist praktischer als eine gute Theorie“ - Theorie, Forschung und Praxis im Kontext von politischer Kultur, Bildungsarbeit und Partizipation in der Migrationsgesellschaft. Oldenburg: BIS-Verlag, 169 -196 Scherr, albert (2011): Diversity: Unterschiede, Ungleichheiten und Machtverhältnisse. In: leiprecht, Rudolf (Hrsg.): Diversitätsbewusste Soziale arbeit. Schwalbach/ Ts.: Wochenschau Verlag, 79 -90 Winker, Gabriele; Degele, Nina (2009): Intersektionalität. Zur analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript Anschrift der Autorin Prof. dr. Melanie Plößer Fachhochschule Bielefeld Fachbereich Sozialwesen Kurt-Schumacher-Straße 6 D-33615 Bielefeld Tel.: ++49 (0)5 21 1 06 78 41 melanie.ploesser@fh-bielefeld.de
