Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2013.art05d
41
2013
822
Funktionaler Analphabetismus
41
2013
Joachim Schroeder
Nachdem sich in Deutschland in den 1980er Jahren eine eher randständig gebliebene und wenig beachtete Analphabetismusforschung etabliert hat, sind seit 2006 mit einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit beachtlichen Geldern ausgestatteten Programm „Forschung und Entwicklung zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ die wissenschaftlichen Aktivitäten zu dieser Thematik spürbar intensiviert worden (www.alphabund.de).
5_082_2013_2_0002
99 VHN, 82. Jg., S. 99 -101 (2013) DOI 10.2378/ vhn2013.art05d © Ernst Reinhardt Verlag Funktionaler Analphabetismus - Ein altes Problem wird neu sichtbar Einführung in den neuen Themenstrang Joachim Schroeder Universität Hamburg FacHbeitrag / einFüHrUng tH emenStrang Funktionaler analphabetismus Nachdem sich in Deutschland in den 1980er Jahren eine eher randständig gebliebene und wenig beachtete Analphabetismusforschung etabliert hat, sind seit 2006 mit einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit beachtlichen Geldern ausgestatteten Programm „Forschung und Entwicklung zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ die wissenschaftlichen Aktivitäten zu dieser Thematik spürbar intensiviert worden (www.alpha bund.de). An dem interdisziplinären Forschungsschwerpunkt beteiligen sich unter anderem die Erwachsenenbildung, die Sonderpädagogik, die Lernpsychologie, die Wirtschafts- und Berufspädagogik sowie die Soziologie. Erstmals werden in der Analphabetismusforschung in Deutschland systematisch statistische bzw. quantitative Erhebungen mit ethnografischen, biografischen und sozialräumlichen Methoden verknüpft. Das Forschungsprogramm war in der ersten Förderperiode nicht zuletzt deshalb sehr ertragreich, weil die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen eng mit den Bildungsträgern und der Bildungspolitik, den Wirtschaftsverbänden und mit zahlreichen Betrieben, dem Deutschen Volkshochschulverband sowie dem Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung zusammengearbeitet haben. Der Zusammenschluss verschiedener Akteure in Forschungs- und Entwicklungsverbünden hat sich bewährt, und dieser Ansatz wird deshalb auch in der zweiten Programmphase fortgesetzt. In über hundert Forschungs- und Entwicklungsprojekten sind zahlreiche neue wissenschaftliche Erkenntnisse zum quantitativen Umfang des Analphabetismus in Deutschland sowie zu Definitionen und Klassifikationen erarbeitet worden. Es wurden wichtige neue Begriffe geprägt, theoretisch begründet und empirisch abgesichert, und in der interdisziplinären Kooperation wurden innovative Erklärungsmodelle zu den Ursachen des Phänomens erarbeitet. Das diagnostische Instrumentarium wurde erweitert und validiert, die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen für ein Bildungsmonitoring wurden geklärt und in Modellprojekten umgesetzt, die eine kontinuierliche, kleinräumige und datengestützte Bildungsberichterstattung über Analphabetismus etablieren können. Nicht zuletzt wurde eine Vielzahl pädagogischer Konzepte für die Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit entwickelt und evaluiert. Gleichwohl tauchten auch viele neue ungeklärte Fragen auf, von denen die meisten die Handlungsfelder der Behinderten- und Benachteiligtenpädagogik berühren: Lange Zeit wurde „das Problem“ des Analphabetismus mit einem sonderpädagogischen Deutungsmuster interpretiert: Der VHN 2 | 2013 100 JOacHIm ScHROEDER Neuer Themenstrang: Funktionaler analphabetismus FacHbeitrag / einFüHrUng funktionale Analphabet - das war der ehemalige Sonderschüler. Milieu- und lebenslagenorientierte Forschungen erbrachten indes differenzierte Einsichten zu den unterschiedlichen sozialen Gruppen, die markant häufig über lediglich unzureichende Literalitätskompetenzen verfügen (beruflich Reisende, Teenager-Mütter, Roma, Flüchtlinge, Straffällige, die Bevölkerung in ländlichen Regionen usw.). Ungeklärt ist jedoch weiterhin, wie sich lebenslagenbezo-gene- Förderkonzepte passgenau entwickeln lassen und wie Grundbildungsangebote organisatorisch gestaltet werden müssen, wenn alle diese verschiedenen sozialen Gruppen erreicht werden sollen. In den empirischen Untersuchungen konnte sehr präzise gezeigt werden, dass es sich beim funktionalen Analphabetismus in Deutschland überwiegend um einen postschulischen- Analphabetismus handelt. Anders als in Ländern der sogenannten Dritten Welt, wo Analphabetismus überwiegend auf den fehlenden Zugang zu schulischer Bildung rückführbar ist, wird „das Problem“ in der Bundesrepublik vor allem beim Abgang aus dem Schulsystem erkennbar. Was aber sind die Ursachen des Analphabetismus trotz eines neunbis zehnjährigen Schulbesuchs? Sichtbar wurde auch, dass wir in den einzelnen Teilsystemen des Bildungswesens vielfältige Grundbildungsangebote haben, im Übergangssystem-Schule/ Arbeitswelt jedoch allenfalls am Rande auf „das Problem“ reagiert wird. Welche Konsequenzen für die Pädagogik des Übergangs sind somit aus dem postschulischen Analphabetismus zu ziehen? Wie lässt sich insbesondere in den Abgangsklassen der Regel- und Förderschulen sowie in den Berufsvorbereitungsschulen die schulische Literalitätsförderung mit Angeboten der postschulischen Literalitätssicherung verbinden? Sehr relevant ist der empirische Befund, dass etwa zwei Drittel der funktionalen Analphabeten in Deutschland dauerhaft in das Erwerbssystem integriert sind; zwischen funktionalem Analphabetismus und Erwerbslosigkeit besteht folglich kein kausaler Zusammenhang. Vielmehr sind Menschen mit eingeschränkten Lese- und Schreibkompetenzen häufig und oftmals über viele Jahre in die schriftarmen- Arbeitsplätze des Beschäftigungssystems integriert. Es ist somit für die Berufsvorbereitung, Arbeitsvermittlung und für Grundbildungsträger wichtig, die spezifischen Anforderungenan- Schriftsprachlichkeit dieser Tätigkeiten präzise zu kennen, um maßgeschneiderte Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen anbieten zu können. Denn die Forschungsergebnisse verdeutlichten auch, dass die Mehrsprachigkeit der Arbeitswelt nicht immer in ausreichender Weise in den Konzepten für die arbeitsplatznahe Alphabetisierung und Grundbildung bedacht wird. Zudem wird unterschätzt, dass auch schriftarme Tätigkeiten ein hohes Maß an Multimodalität auszeichnet, das heißt, die an solchen Arbeitsplätzen zu lesenden „Texte“ sind nicht nur schriftsprachlich verfasst, sondern ebenso diskontinuierlich und ikonisch strukturiert. Diese mehrsprachigen und multimodalen Verhältnisse der Arbeitswelt machen eine grundlegende Reflexion der curricularen, didaktischen und methodischen Fundamenteder- Bildung erforderlich. Mit dem neuen Themenstrang ist intendiert, einen Einblick in zentrale Ergebnisse des Programms zu geben, die Kontroversen aufzunehmen und die Diskussionen darüber fortzusetzen. Sehr umstritten ist beispielsweise die von einer Fachgruppe erarbeitete „neue“ Definition von „Analphabetismus“ - in einem „Dialog“ werden deshalb die Pro- und Contra-Argumente ausgetauscht. Einwände finden VHN 2 | 2013 101 JOacHIm ScHROEDER Neuer Themenstrang: Funktionaler analphabetismus FacHbeitrag / einFüHrUng sich ebenso hinsichtlich einer unzureichenden theoretischen, empirischen und konzeptionellen Berücksichtigung des Migrationshintergrundes und insbesondere der fehlenden transnationalen Einbettung der Problematik, beispielsweise bei der Gruppe der Flüchtlinge. Der interdisziplinären Struktur des Forschungsprogrammes folgend sind Fachbeiträge aus der sonder- und sozialpädagogischen Forschung, der Erwachsenenbildung und der beruflichen Weiterbildung, der Migrationspädagogik und der Monitoringforschung aufgenommen worden; in der Rubrik „Trend“ werden zudem bildungspolitische Stellungnahmen zur Diskussion gestellt. anschrift des autors Prof. Dr. Joachim Schroeder Universität Hamburg Fachbereich Erziehungswissenschaft 2 Behindertenpädagogik Sedanstr. 19 (Raum 235) D-20146 Hamburg Joachim.Schroeder@uni-hamburg.de
