eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Trend: Nationale Strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland

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2013
Peter Hubertus
Seit gut 30 Jahren gibt es Lese- und Schreibkurse für Erwachsene, vor allem an den Volkshochschulen. Die Zahl der Lernerinnen und Lerner – wie sie häufig genannt werden – beläuft sich seit Jahren relativ konstant auf etwa 20’000 Personen.
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VHN 2 | 2013 140 Nationale Strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland Peter Hubertus Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V., Münster Seit gut 30 Jahren gibt es Lese- und Schreibkurse für Erwachsene, vor allem an den Volkshochschulen. Die Zahl der Lernerinnen und Lerner - wie sie häufig genannt werden - beläuft sich seit Jahren relativ konstant auf etwa 20’000 Personen. Im Frühjahr 2011 wurden erstmals Zahlen zur Größenordnung des (funktionalen) Analphabetismus in Deutschland veröffentlicht, die im Rahmen einer empirischen Studie erhoben wurden (Grotlüschen/ Riekmann 2011). Nachgewiesen werden dort 7,5 Millionen (funktionale) Analphabeten im erwerbsfähigen Alter, darunter 4,4 Millionen Menschen mit Deutsch als erster Muttersprache. Erwachsene ohne ausreichende mündliche Kompetenzen im Deutschen wurden dabei nicht erfasst. Erstaunlicherweise verfügen nur 19,3 Prozent über keinen formalen Bildungsabschluss. Angesichts der nun bekannten Anzahl von Menschen mit geringer Grundbildung einerseits und der geringen Bildungsbeteiligung in den Lese- und Schreibkursen andererseits haben sich Bund und Länder auf eine „Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ verpflichtet (BMBF 2012). Weitere Akteure sind u. a. der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, der Deutsche Volkshochschul-Verband, die Stiftung Lesen und die Kirchen. Weitere gesellschaftliche Gruppen und deren Dachverbände sind zur Mitwirkung aufgerufen. Ein wichtiges Ziel der „Nationalen Strategie“ besteht darin, mehr Menschen als bisher zum nachträglichen Schriftspracherwerb zu motivieren und die entsprechenden Lernangebote bereitzustellen. Wegen der fehlenden Zuständigkeit kann der Bund - anders als bei Integrationskursen mit Alphabetisierungskursen für Migrantinnen und Migranten - keine Finanzierung der Kurse vornehmen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das bereits seit vielen Jahren Projektförderung in diesem sensiblen Bereich der Erwachsenenbildung leistet, stellt für den im Herbst 2012 gestarteten Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkt „Arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung“ zwanzig Millionen Euro zur Verfügung. (Informationen zu den Projekten unter www.alphabund.de.) Weiterhin setzt das BMBF für die im September 2012 begonnene Medienkampagne „Lesen & Schreiben - Mein Schlüssel zur Welt“ fünf Millionen Euro ein (s. www.mein-schluesselzur-welt.de). Mit Fernsehspots, auf Plakaten und in einer multimedialen Ausstellung wird das Thema unzureichender schriftsprachlicher Kompetenzen einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Betroffene sollen zum Lernen motiviert, ihre Vertrauenspersonen erreicht und Multiplikatoren sensibilisiert werden. Das Alfa-Telefon des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung wird in der Medien- Trend TH eMensTrAnG Funktionaler Analphabetismus VHN 2 | 2013 141 Peter Hubertus Nationale strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland Trend kampagne beworben. Anrufer erhalten dort Beratung und werden in wohnortnahe Lese- und Schreibkurse vermittelt (s. www.alfa-telefon.de). Auch die Länder beteiligen sich an der Nationalen Strategie. Sie wollen die Zahl der Lese- und Schreibkurse erhöhen und z.B. die Vernetzung der Akteure verbessern. Zum jetzigen Zeitpunkt liegen weder Ergebnisse aus den vom BMBF geförderten Projekten noch eine Auswertung der Medienkampagne vor. Auch die Beiträge der Bundesländer für die finanzielle Förderung der Kurse und zum Aufbau einer Infrastruktur sind noch nicht zu überblicken. Eine Bewertung der Aktivitäten kann somit noch nicht stattfinden. Dennoch soll hier eine erste Standortbestimmung und Einschätzung erfolgen. Die Versorgung mit Lese- und Schreibkursen ist nach wie vor nicht in allen Regionen gewährleistet, und die Kursdichte ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich (s. Hubertus 2011). Was fehlt, sind auch aufsuchende Bildungsangebote in sozialen Brennpunkten, spezielle Angebote für junge Erwachsene, lebensweltorientiertes Lernen in der Grundbildung und Lernen am und für den Arbeitsplatz. Wünschenswert ist eine engere Kooperation zwischen Sonder- und Förderschulen, Angeboten der Jugendberufshilfe und der Alphabetisierung Erwachsener. Erforderlich sind der Ausbau und die Bereitstellung erwachsenengerechter Lernangebote zum Lesen- und Schreibenlernen und in anderen Bereichen der Grundbildung - unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Herkunft und Kenntnisstand. Die Lernangebote müssen für Interessierte erreichbar und bezahlbar sein. Mindeststandards im Hinblick auf eine obligatorische Anfangsberatung, die Gruppengröße sowie die Qualifizierung der Kursleiter bzw. Lehrenden und deren Bezahlung müssen formuliert und umgesetzt werden. Insbesondere für Menschen ohne Arbeit müssen intensivere Angebote geschaffen werden. Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung hält einen Ausbau der Kursplätze auf 100’000 für erforderlich. Analog den Regelungen für die Integrationskurse sollten Erwachsene mit unzureichenden Lese-, Schreib- und Grundbildungskompetenzen einen Anspruch auf bis zu 1’245 Stunden möglichst kostenlosen Unterricht erhalten. Mit dem ebenfalls vom Bund geförderten Lernportal www.ich-will-lernen.de des Deutschen Volkshochschul-Verbandes und dem beim Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung angesiedelten Projekt iCHAN- CE werden neue mediale Anspracheformen und Lernangebote genutzt. Insbesondere junge Erwachsene, die in den klassischen Lese- und Schreibkursen der Volkshochschulen unterrepräsentiert sind, werden bei iCHANCE über die sozialen Netzwerke und mit Unterstützung von vielen Prominenten wie z. B. Kaya Yanar und Jan Delay erreicht. (S. Jugendportal www. iCHANCE.de und www.profi.ichance.de und www.youtube.de/ alphabetisierung.) In der Vergangenheit war die Projektförderung des BMBF nicht mit den jeweiligen Aktivitäten der Bundesländer abgestimmt. Mit der Nationalen Strategie besteht nun zum ersten Mal die Chance auf ein gemeinsames Vorgehen. Im Jahr 2003 begann die Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen. Auch Deutschland hatte sich dazu verpflichtet, innerhalb von zehn Jahren die Zahl der Analphabeten drastisch zur reduzieren. Am Ende der Dekade steht nun fest, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Nun gilt es - und dazu ist die zunächst bis 2016 geplante Nationale Strategie eine Chance - der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit eine verlässliche Basis, klare Zielvorgaben und einen realistischen Zeitplan zu verschaffen. Denn eins ist sicher: Neben präventiven Maßnahmen und verbesserten schulischen Lernmöglichkeiten bleiben die Alphabetisierung und die Grundbildung eine Daueraufgabe. VHN 2 | 2013 142 Peter Hubertus Nationale strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland Trend Literatur bMbF/ bundesministerium für bildung und Forschung (2012): Vereinbarung über eine gemeinsame nationale strategie für Alphabetisierung und Grundbildung erwachsener in Deutschland 2012 -2016. Online unter: http: / / www.bmbf.de/ pubrD/ strategiepapier_Alphabetisierung_KMK_bF.pdf, 24. 10. 2012 Grotlüschen, Anke; riekmann, Wibke (2011): leo. - Level-One studie. Presseheft. Hamburg: universität Hamburg. Online unter: http: / / blogs. epb.uni-hamburg.de/ leo/ files/ 2011/ 12/ leo- Presseheft_15_12_2011.pdf, 24. 10. 2012 Grotlüschen, Anke; riekmann, Wibke (Hrsg.) (2012): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. ergebnisse der ersten leo. - Level-One studie [= Alphabetisierung und Grundbildung, band 10]. Münster: Waxmann Hubertus, Peter (2011): Alphabetisierung in Deutschland: Kursangebote im Jahr 2011. Kursdichte in den bundesländern. Online unter www.alphabetisierung.de/ service/ downloads/ fachtexte.html, 24. 10. 2012 Anschrift des Autors Peter Hubertus Geschäftsführer im Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. Postfach 10 02 53 D-48051 Münster Tel. +49 (0) 2 51 4 90 99 60 bundesverband@alphabetisierung.de www.alphabetisierung.de