eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Wirkt sich die Pränatale Diagnostik (PD) diskriminierend auf Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung aus?

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2013
Riccardo Bonfranchi
Ist die Pränatale Diagnostik (PD) behindertenfeindlich? Das Fazit vorneweg: Nein, sie ist es nicht; jedenfalls spiegelt sie weder mehr noch weniger die Ablehnung von Behinderung wider, wie sie seit Menschengedenken bereits bestanden hat und auch heute noch besteht.
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VHN 2 | 2013 143 Wirkt sich die Pränatale Diagnostik (PD) diskriminierend auf Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung aus? Riccardo Bonfranchi Wolfhausen/ CH Ist die Pränatale Diagnostik (PD) behindertenfeindlich? Das Fazit vorneweg: Nein, sie ist es nicht; jedenfalls spiegelt sie weder mehr noch weniger die Ablehnung von Behinderung wider, wie sie seit Menschengedenken bereits bestanden hat und auch heute noch besteht. In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die heute in der Gesellschaft größtenteils akzeptierten Methoden der Pränatalen Diagnostik (PD) sowie der Spätabtreibung Auswirkungen auf die Akzeptanz von Menschen insbesondere mit geistiger Behinderung haben. Damit wird der Fokus nicht auf Menschen mit Behinderung in einem allgemeinen Sinn gelegt, sondern es betrifft ganz spezifisch Menschen mit schweren, schwersten und mehrfachen Behinderungen. Die Problematik der gesellschaftlichen Akzeptanz scheint mir in Bezug auf die beiden genannten Gruppierungen sehr verschieden zu sein, sodass eine gesonderte Betrachtung notwendig ist. Aus historischer Sicht kann festgestellt werden, dass das Lebensrecht von Menschen mit geistiger Behinderung schon immer infrage gestellt wurde bzw. dass es in der Geschichte der Menschheit schon immer Tötungen geistig behinderter Menschen gegeben hat. Deshalb sind die PD bzw. die Spätabtreibung nicht neue Phänomene, sondern aus meiner Sicht die logische Konsequenz technologischer Entwicklungen, die der schweren Behinderung, die nicht zu kompensieren ist, im Grunde immer schon mit Nicht-Akzeptanz begegnet sind. Dies sollen Erörterungen aus der Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik belegen (vgl. Solarova 1983; Anstötz 1987; Haeberlin 1996; Ellger-Rüttgardt 2007). Aufgrund des heutigen Forschungsstandes (vgl. Bonfranchi 2011) bin ich zu der Ansicht gelangt, dass die PD wie die Spätabtreibung keinerlei Auswirkungen auf die gesellschaftliche Akzeptanz von schwer- und mehrfachbehinderten Menschen bzw. Föten haben, weil diese durch die Hochtechnologie-Medizin erschaffenen Möglichkeiten im Grunde lediglich eine Weiterentwicklung einer bereits seit Menschengedenken bestehenden Haltung/ Einstellung gegenüber schwerer behinderten Menschen darstellen. Es hat sich eigentlich, was die von mir gewählte Fragestellung anbelangt, nichts geändert. Oder doch? Zwei mögliche Gegenargumente Zwei Überlegungen können diese meine Meinung beeinflussen. Da ist zum einen das Gas-Wasser-Eis-Argument. Wasser verändert seine Qualität in Abhängigkeit von quantitativen Parametern der Temperatur, wird zu Eis (0° C <) oder zu Gas DIe kOntROve Rse DeBatte VHN 2 | 2013 144 RiccaRdo BoNfRaNcHi Pränatale diagnostik DIe kOntROve Rse DeBatte (>100°C). Was bedeutet dies bezogen auf unsere Frage? Es könnte bedeuten, dass sich durch die quantitative Vermehrung von bzw. den leichteren Zugang zu pränatalen Daten (Bluttest) auch die Einstellung zum Phänomen Behinderung (Qualität) verändert. Konnte man früher eine Behinderung pränatal entweder gar nicht oder nur sehr ungenau diagnostizieren, so ist dies heute viel leichter möglich. D. h. es stellt sich die Frage, ob nicht ein Umschlagen von Quantität in Qualität erfolgt? Wenn man diese Frage bejaht, so muss man zu der Ansicht gelangen, dass die PD und die Spätabtreibung sehr wohl einen Einfluss auf die Akzeptanz von behinderten Föten bzw. Menschen haben. Die zweite Überlegung hat mit dem Geburtsvorgang zu tun. War es bis vor einigen wenigen Jahren erst nach der Geburt möglich, eine Behinderung festzustellen, so kann das heutzutage bereits pränatal geschehen. Das wirft die Frage auf, ob diese Vorverschiebung der Diagnostik die Hemmschwelle zur Beseitigung des Fötus bzw. Embryos sinken lässt. Auch dies ist im Grunde ein quantitatives Argument, weil es sich „lediglich“ um eine Vorverschiebung auf der Zeitachse handelt. Aber die psychologischen Gründe können sehr wohl evident sein, weil ein Embryo, aber auch ein Fötus, noch nicht geboren worden sind, eventuell noch keinen Namen tragen, die Mutter dieses Kind noch nicht in den Armen gehalten hat usw. Es hat also noch kaum eine Beziehung zu diesem Lebewesen aufgebaut werden können. Dies verhält sich nach einer Geburt schon wesentlich anders, sodass man auch hier die Frage nach dem Umschlag von Quantität in Qualität stellen kann. Bejaht man auch diese Frage, dann muss man zwangsweise ebenfalls zu der Meinung gelangen, dass die PD und die Spätabtreibung die Einstellung der Gesellschaft zu Behinderung ganz allgemein verändert haben. Die im Folgenden dargestellten Argumente sollen die beiden o. g. Relativierungen wieder aufheben. argumente P 1: Die PD ist eine in der heutigen Gesellschaft anerkannte Form, Behinderungen bei Embryos bzw. Föten zu diagnostizieren. P 2: Bei einem positiven Befund kommt es in ca. 96 % aller Fälle zu einer Abtreibung. Diese ist als sogenannte Spätabtreibung (Fetozid) bis unmittelbar zur Geburt möglich, wenn die Mutter glaubhaft versichert, dass sie die Geburt bzw. das Leben mit einem behinderten Kind psychisch und/ oder physisch nicht verkraftet. Liegt keine diagnostizierte Behinderung vor, so gibt es hier keine auch nur annähernd ähnliche Vorgehensweise. P 3: Eine Abtreibung, insbesondere auch eine Spätabtreibung, bedeutet die Beendigung der Schwangerschaft. Die Schwangerschaft wird von der angehenden Mutter als unerwünscht taxiert, weil sie das Kind mit Behinderung (Potentialität) nicht als ihr Kind akzeptiert bzw. weil sie kein Kind mit einer Behinderung aufziehen will. P 4: Ist der Grund für den Abbruch der Schwangerschaft die Behinderung bzw. die daraus folgende Unerwünschtheit des Kindes, so ist generell ein Kind mit Behinderung unerwünscht. P 5: PD ist flächendeckend (screening) durchzuführen und hat durch ihre massenweise Anwendung keine weitergehenden Auswirkungen auf die gesellschaftliche Akzeptanz von Behinderung. Ebenso verhält es sich mit der zeitlichen Vorverschiebung der Diagnostik in den pränatalen Raum: Die Hemmschwelle zur Abtreibung sinkt, weil das Lebewesen noch nicht geboren worden ist und noch keine Beziehung zu ihm hat aufgebaut werden können, wie das i. d. R. nach der Geburt der Fall ist. VHN 2 | 2013 145 RiccaRdo BoNfRaNcHi Pränatale diagnostik DIe kOntROve Rse DeBatte C 1: Diese Prämissen enthalten keine qualitativen Aussagen bzgl. der Haltung/ Einstellung der Gesellschaft schwer geistig und mehrfach behinderten Menschen gegenüber. C 2: Insbesondere aufgrund der Tatsache bzw. Möglichkeit des Fetozids kann geschlossen werden, dass das Leben von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung zur Disposition steht, weil eine erfolgte Tötung eines lebensfähigen Fötus die Aussage rechtfertigt, dass das Lebensrecht dieser Menschen durch die Gesellschaft als eingeschränkt bzw. gemindert bewertet wird. C 3: C 1 und C 2 stellen aber keine neue Entwicklung in der Haltung der Gesellschaft gegenüber dieser Personengruppe dar, sodass der Schluss nahe liegt, dass sowohl die PD wie der Fetozid eine ununterbrochene (historische) Linie der Haltung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung darstellen. Es kann festgehalten werden, dass führende deutschsprachige akademische Vertreter der etablierten Heil- und Sonderpädagogik unisono davon ausgehen, dass PD für Menschen mit Behinderung diskriminierend bzw. lebensbedrohlich sei. Letzterem fehlt zwar der empirische Beweis völlig, doch wird er immer wieder mittels des Dammbruch-Arguments einerseits und des Verweises auf den Nationalsozialismus andererseits zu erhärten versucht. Diese Argumentation lehne ich ab. Zum einen werden die verschiedenen Gruppen von Menschen mit Behinderung nicht sorgfältig unterschieden, was aber m. E. zwingend notwendig ist, und zum anderen wird an keiner Stelle auf die Historie (mit Ausnahme des Nationalsozialismus) eingegangen, obwohl erst durch sie belegt werden kann, dass insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung in ihrem Lebensrecht schon immer bedroht waren bzw. ihr Lebensrecht schon immer infrage gestellt worden ist. Dabei wird immer wieder auf die Auswüchse während der Zeit des Nationalsozialismus verwiesen (vgl. Eid 1985). Aus meiner Sicht konnte zwar nie ein direkter Zusammenhang zwischen dem Tötungsprogramm der Nationalsozialisten und z. B. der PD hergestellt werden. Aber bereits die gleichzeitige Nennung führte dazu, dass die PD bzw. eine allfällige Diskussion um die Lebenschancen von schwerst behindert geborenen Säuglingen mit dem Tötungsprogramm der Nazis auf die gleiche Stufe gestellt wurde. Diesen Vergleich habe ich allerdings bereits vor 15 Jahren als absurd bezeichnet. Gerade die tägliche Arbeit mit Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung zeigt mir, dass eine Auseinandersetzung mit der Frage der Menschenwürde nicht so einfach abgetan werden kann. Wer die Literatur von Vertretern der sogenannten Krüppelbewegung aufmerksam liest, wird unschwer feststellen können, dass ihre Vertreter nahezu immer auf die Menschenwürde bzw. deren Verletzung rekurrieren und beklagen, dass ihrem Person-Sein nicht die gebotene Achtung entgegengebracht werde. Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung können dies natürlich nicht tun, und es geht hierbei um Äußerungen in Form einer advokatorischen Stellvertretung. Ein anderes Gegenargument bzgl. der Menschenwürde bei geistig und mehrfach behinderten Menschen ist die Feststellung, dass ihnen der Person-Status aberkannt wird. Auf die umfangreiche Diskussion über den Person- Status von schwer geistig behinderten Menschen, die durch Singer (1994) in den (philosophischen und heilpädagogischen) Diskurs im deutschen Sprachraum eingebracht wurde, will ich hier nicht weiter eingehen (vgl. hierzu Düwell 2003; Bonfranchi 2004). Es sei hier nur so viel angefügt, dass ich den Standpunkt einnehme, dass der Personen-Status von schwer geistig und mehrfach behinderten Menschen sehr wohl zur Disposition gestellt werden VHN 2 | 2013 146 RiccaRdo BoNfRaNcHi Pränatale diagnostik DIe kOntROve Rse DeBatte kann bzw. muss. Diese Haltung scheint mir weit sinnvoller zu sein, als von einem Person- Status ‚per se‘ auszugehen, den die Gesellschaft als solchen ohnehin nicht teilt. Literatur anstötz, christoph (1987): Grundriss der Geistigbehindertenpädagogik. Berlin: Volker Spiess Bonfranchi, Riccardo (Hrsg.) (2004): Zwischen allen Stühlen. die Kontroverse zu Ethik und Behinderung. 2. aufl. Erlangen: Harald fischer Bonfranchi, Riccardo (2011): Ethische Handlungsfelder der Heilpädagogik. integration und Separation von Menschen mit geistigen Behinderungen. Bern: Peter Lang düwell, Marcus (2003): der moralische Status von Embryonen und feten. in: düwell, Marcus; Steigleder, Klaus (Hrsg.): Bioethik. frankfurt a. M.: Suhrkamp Eid, Volker (Hrsg.) (1985): Euthanasie oder Soll man auf Verlangen töten? 2. erw. aufl. Mainz: Matthias-Grünewald Ellger-Rüttgardt, Sieglind Luise (2007): Geschichte der Sonderpädagogik. München: Reinhardt Haeberlin, Urs (1996): Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft. Bern: Haupt Solarova, Svetluse (1983): Geschichte der Sonderpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer Singer, Peter (1994): Praktische Ethik. Stuttgart: Reclam anschrift des autors Dr. phil. Riccardo Bonfranchi Schachenstraße 31 CH-8633 Wolfhausen Tel.: ++41 (0) 79 5 01 79 89 bonif@bluewin.ch