eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Zur Frage diskriminierender Wirkungen der Pränatalen Diagnostik (PD) auf Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung

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2013
Markus Dederich
In seinem Text beschäftigt sich Bonfranchi mit der Frage, ob die Pränatale Diagnostik diskriminierende Wirkungen auf Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung habe. Ich begnüge mich nachfolgend damit, auf einige Inkonsistenzen und Widersprüche seiner Argumentation hinzuweisen.
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VHN 2 | 2013 147 Die kontroverse Debatte In seinem Text beschäftigt sich Bonfranchi mit der Frage, ob die Pränatale Diagnostik diskriminierende Wirkungen auf Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung habe. Ich begnüge mich nachfolgend damit, auf einige Inkonsistenzen und Widersprüche seiner Argumentation hinzuweisen. Ich beginne mit einigen Hinweisen zur spezifischen Eingrenzung des Personenkreises sowie zur Terminologie des Textes. Bonfranchi geht es ausdrücklich um den Personenkreis schwer geistig und mehrfach behinderter Menschen und nicht um Menschen mit Behinderungen im Allgemeinen. Dieser Eingrenzung liegt die Annahme zugrunde, die gesellschaftliche Akzeptanz dieser beiden Gruppen sei sehr unterschiedlich. Allerdings fangen mit dieser Unterscheidung die Probleme bereits an, denn angesichts der historisch gut belegten Erfahrungen von Benachteiligung, Ausgrenzung und Missachtung beispielsweise von Menschen mit körperlichen Behinderungen oder von psychisch kranken Personen ist das eine Behauptung, die in dieser Pauschalität kaum haltbar ist. Dies zeigt die Pränatale Diagnostik, die im Mittelpunkt der Überlegungen Bonfranchis steht. Betrachtet man heute vorliegende Studien zu Schwangerschaftsabbrüchen nach der Diagnose einer Behinderung, so ist nämlich umgekehrt zumindest der Tendenz nach davon auszugehen, dass der (mutmaßliche) Schweregrad einer Behinderung keinesfalls das alleinige oder ausschlaggebende Entscheidungskriterium darstellt. Ein weiteres grundlegendes Problem des Textes ist die Terminologie. So unterscheidet Bonfranchi nicht eindeutig und systematisch zwischen Diskriminierung, Ablehnung und Behindertenfeindlichkeit, obwohl das höchst angebracht wäre. Ablehnung beruht auf der negativen Bewertung eines Sachverhaltes oder einer Person, während Behindertenfeindlichkeit zumindest eine deutliche Steigerung bloßer Ablehnung ist. Man könnte auch argumentieren, dass Prozesse der Diskriminierung aktiv sind, während Ablehnung eine bloße Vorenthaltung positiver Wertschätzung ist, die sich beispielsweise in Gleichgültigkeit artikulieren kann, ohne aktive Verächtlichmachung, die häufig mit Diskriminierung in Verbindung gebracht wird. Demgegenüber ist Behindertenfeindlichkeit zumindest eine gerichtete Einstellung, unter Umständen aber auch ein beobachtbarer Handlungstypus (was aber davon abhängt, wie man den Begriff operationalisiert). Zur Frage diskriminierender Wirkungen der Pränatalen Diagnostik (PD) auf Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung Eine Antwort auf Riccardo Bonfranchi Markus Dederich Universität zu köln VHN 2 | 2013 148 Markus DeDericH Pränatale Diagnostik Die kontroverse Debatte Möglicherweise resultieren einige der schwer verständlichen Aussagen aus diesen begrifflichen Unklarheiten. Drittens schließlich versucht sich Bonfranchi darin, die Gesetze der Logik außer Kraft zu setzen, was ihm jedoch auf beeindruckende Weise misslingt. Dies zeigt sich, wenn man sich sein vorweggenommenes Fazit genauer ansieht. Die Frage, ob die Pränatale Diagnostik diskriminierende Wirkungen auf Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung habe, wird verneint. Die Pränatale Diagnostik „spiegelt […] weder mehr noch weniger die Ablehnung von Behinderung wider, wie sie seit Menschengedenken bereits bestanden hat und auch heute noch besteht“ (S. 143). Es folgt die wichtige, ja entscheidende Erläuterung, es habe seit Menschengedenken eine Ablehnung von Menschen mit Behinderung gegeben, die sich in der Pränatalen Diagnostik durchaus widerspiegle, wenn auch nicht mehr und nicht weniger als in anderen potenziell ablehnenden oder diskriminierenden Handlungsweisen. Sehen wir uns das Fazit hinsichtlich seiner logischen Struktur genauer an. Die erste Tatsachenbehauptung lautet: Seit Menschengedenken gibt es eine Ablehnung/ Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Die zweite Tatsachenbehauptung lautet: Die Pränatale Diagnostik spiegelt diese Ablehnung/ Diskriminierung wider. Logisch gesehen kann hieraus nur folgen (immer eingedenk der terminologischen Unschärfen, die verunklaren, wovon eigentlich die Rede ist): Also ist die Pränatale Diagnostik ablehnend/ diskriminierend/ behindertenfeindlich. Wie Bonfranchi dazu kommt, das Gegenteil von dem zu behaupten, was er faktisch sagt, will aus den folgenden Erläuterungen und seiner Ergebnisoffenheit vortäuschenden Diskussion möglicher Einwände nicht recht deutlich werden. Damit gibt es eigentlich zu seinem Text nichts mehr zu sagen. Trotzdem ist es interessant zuzusehen, welche Argumentation zu diesem eigentümlichen Syllogismus führt. Gegen Ende des Textes hebt Bonfranchi erneut hervor, „dass sowohl die PD wie der Fetozid eine ununterbrochene (historische) Linie der Haltung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung darstellen“ (S. 145). Aber auch dies ändert nichts an dem grundlegenden logischen Problem, denn auch hier bleibt der Schluss zwingend, dass Pränatale Diagnostik ablehnend/ diskriminierend/ behindertenfeindlich ist. Oder will uns Bonfranchi damit sagen, es gebe historisch und aktuell so viele Formen von Ablehnung/ Diskriminierung/ Behindertenfeindlichkeit, dass die Aufregung in der Heil- und Sonderpädagogik über die Pränatale Diagnostik schlicht unangemessen sei? Davon abgesehen aber bedarf die Annahme von der ununterbrochenen Linie der Haltung der Gesellschaft erheblicher Differenzierungen, da sie in dieser Pauschalität gewiss unhaltbar ist. Denn gegenüber der schlichten Alternative von historischen Kontinuitäten vs. neuartigen historischen Phänomenen ist eher von einem Ineinander von Kontinuität und Diskontinuität, von Konstanten und Brüchen auszugehen. Bonfranchi ist in seiner Kritik an der in der Heil- und Sonderpädagogik immer wieder vorgenommenen undifferenzierten Verknüpfung zwischen dem Tötungsprogramm der Nationalsozialisten und der Pränatalen Diagnostik zuzustimmen. Es ist völlig unangemessen, dass diese auf die gleiche Stufe gestellt wird. Dennoch scheint mir, dass die historische Kontextualisierung der Pränatalen Diagnostik nicht vom Tisch ist. Stellt man beide in VHN 2 | 2013 149 Markus DeDericH Pränatale Diagnostik Die kontroverse Debatte einen übergreifenden Kontext, etwa in eine historische und philosophische Untersuchung der Biomacht und Biopolitik (vgl. Gehring 2006), zeigen sich gleichermaßen Brüche und Kontinuitäten. Auf der anderen Seite aber ist die Einreihung der Pränatalen Diagnostik in ein schlichtes Kontinuum (das sich mit der Losung beruhigt „Es war schon immer so und ist deshalb halb so schlimm“) ebenfalls unzulässig. So ist es kaum zu bestreiten, dass sich der ‚Blick‘ auf Behinderungen allein durch die Entwicklung der modernen Technik verändert hat. Hierfür ist wiederum die Pränataldiagnostik ein guter Beleg - sie ist eine Technik der Sichtbarmachung von zuvor Unsichtbarem, die zu ganz neuartigen Praktiken (nämlich dem Schwangerschaftsabbruch, der mit dem Vorliegen einer Behinderung des ungeborenen Kindes begründet wird), spezifischen Gesetzen (in der BRD der § 218 StGB), spezialisierten Institutionen (z. B. der Schwangerschaftskonfliktberatung), einem neuen fachärztlichen Segment (Pränatalmedizin) und nie dagewesenen moralphilosophischen Problemen (etwa der Frage nach dem moralischen Status des Ungeborenen) geführt hat. Dies zu bestreiten beruht auf einer sowohl ethisch wie kulturwissenschaftlich höchst bedenklichen Abstraktion von wirklichkeitsmächtigen technik- und ideengeschichtlichen Veränderungen. Kommen wir zu den Zahlen, die Bonfranchi ebenfalls zu kennen scheint, ohne sich von ihnen bei seiner ethischen Beurteilung der Pränatalen Diagnostik beeinflussen zu lassen. Dabei müsste ein einigermaßen unbefangener Blick auf diese Zahlen zumindest den Eindruck einer ethischen Schieflage der Pränatalen Diagnostik hervorrufen. Nach Lux (2005, 53) ergibt die Durchsicht der vorhandenen Daten zum Schwangerschaftsabbruch, „dass eine potenzielle Behinderung eine relevante Entscheidungsgröße für die Frau zur Beendigung der Schwangerschaft darstellt“. Lux zitiert - um nur zwei Beispiele zu nennen - eine Untersuchungen aus 13 Ländern zusammenfassende Metaanalyse, die zeigt, dass die Abbruchquoten nach einem auffälligen Befund zwischen 58 % (Klinefelter Syndrom) und 92 % (Trisomie 21) liegen. Die von Lenhard (2003) durchgeführte Metaanalyse von internationalen Studien aus dem Zeitraum zwischen 1972 und 2001 weist folgende Abbruchsquoten aus: 91,9 % bei Trisomie 21, 73,5 % bei Spina bifida, 76,9 % bei Anenzephalie und 54,7 % bei Lippen-Kiefer- Gaumenspalte. Auch wenn es mit Blick auf diese Zahlen überzogen ist, von einem Abtreibungsautomatismus nach auffälligem Befund bzw. positiver Diagnose zu sprechen, so weisen sie doch eindringlich darauf hin, dass ein enger Zusammenhang zwischen positiven Befunden nach Pränataler Diagnostik und Schwangerschaftsabbruch besteht, was Bonfranchi auch gar nicht bestreitet. Dennoch ist es verblüffend bei ihm zu lesen, es gebe keinen empirischen Beleg dafür, dass die Pränatale Diagnostik für Menschen mit Behinderungen „lebensbedrohlich“ sei. Im Licht der referierten Zahlen kann diese Aussage nur dann als überhaupt sinnvoll verstanden werden, wenn man Bonfranchi unterstellt, er meine, die Abtreibungsquote sei für bereits geborene Menschen mit Behinderung nicht lebensgefährlich. Man könnte zur Rettung der Behauptung auch unterstellen, Bonfranchi bestreite historisch signifikante Diskriminierungseffekte, weil Feten über kein Bewusstsein ihrer selbst verfügen und sich daher gar nicht diskriminiert fühlen können. Da sich im Text jedoch keine Erläuterungen in diese Richtungen finden, tappen wir weiter im Nebel. An dieser Stelle möchte ich nochmals auf die Ablehnung/ Diskriminierung/ Behindertenfeindlichkeit zurückkommen und auf ein weiteres Problem hinweisen. Hierbei handelt es sich um Sachverhalte bzw. Tatsachenbehaup- VHN 2 | 2013 150 Markus DeDericH Pränatale Diagnostik Die kontroverse Debatte tungen, die nicht nur an Kriterien festgemacht, sondern auch von jemandem als solche beobachtet werden müssen. Deshalb müsste sich die Untersuchung der Frage, ob Praktiken wie die Pränatale Diagnostik und die Spätabtreibung ablehnend/ diskriminierend/ behindertenfeindlich sind, vorab dem Problem stellen, aus welcher Perspektive diese Frage untersucht werden soll, d. h. wer was als Ablehnung/ Diskriminierung/ Behindertenfeindlichkeit deutet. Solche Deutungen können aus der Perspektive der ersten, zweiten oder dritten Person erfolgen, also aus Sicht der Betroffenen, ihnen eng verbundener Menschen oder nicht direkt beteiligter Dritter. Da eine Befragung unmittelbar Betroffener in diesem Fall nicht möglich ist, bleibt nur, entweder enge Bezugspersonen oder nicht unmittelbar betroffene Dritte zu befragen. Eine Variante der dritten Möglichkeit besteht darin, Menschen zu befragen, die eine Behinderung haben, die, wenn sie pränatal diagnostiziert wird, häufig zum Abbruch der Schwangerschaft führt. Dies ist die Perspektive, die Gerdts (2009) für seine in ihrer Art innovative qualitative Studie gewählt hat. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Menschen mit Behinderungen die Pränatale Diagnostik hinsichtlich ihrer Kränkungs- und Diskriminierungseffekte beurteilen. Während einige Interviewpartner psychologisch Verständnis für die Konflikte der betroffenen Frauen zeigen, bringen andere zum Ausdruck, dass die Praxis der selektiven Pränatalen Diagnostik psychologische Auswirkungen auf lebende Personen mit Behinderung hat und als kränkend oder diskriminierend erlebt wird. Dass Feten, die die gleiche Behinderung wie sie haben, abgetrieben werden, kommentiert eine interviewte Frau wie folgt: „Das ist für mich emotional ‚wegschmeißen‘. (…) Diese Qualitätsgeschichte ist für mich … sehr, sehr … schwierig, also das bezieh’ ich dann wirklich auch auf meine Person, … obwohl mir jeder Gynäkologe sagen würde: ,Na ja, aber in Ihrem Fall hätte man natürlich nicht abgetrieben‘, … aber man [resigniert lachend] weiß ja wie breit die Spanne ist.“ (Gerdts 2009) Die Studie zeigt, dass die Pränatale Diagnostik sehr wohl auf Diskriminierungseffekte hin befragt und ethisch problematisiert werden kann und muss - ungeachtet aller historischen Relativierungen. Es handelt sich um eine ethische Problematik, die nicht einfach durch die Behauptung vom Tisch gewischt werden kann, Vergleichbares habe es immer schon gegeben. Am Ende des Textes schreibt Bonfranchi hierzu: „Es sei hier nur soviel angefügt, dass ich den Standpunkt einnehme, dass der Personen-Status von schwer geistig und mehrfach behinderten Menschen sehr wohl zur Disposition gestellt werden kann bzw. muss. Diese Haltung scheint mir weit sinnvoller zu sein, als von einem Person-Status ‚per se‘ auszugehen, den die Gesellschaft als solchen ohnehin nicht teilt.“ (S. 146) Leider erfahren wir nicht, warum es sinnvoll bzw. gar zwingend ist, den Person-Status der hier diskutierten Menschen zur Disposition zu stellen. Es wäre historisch ein vermutlich vollkommen neuartiges Phänomen, dass die Preisgabe ethischen Schutzes für die Betroffenen dieser Preisgabe von Vorteil ist (was im Umkehrschluss selbstverständlich nicht bedeutet, dass die Gewährung eines solchen Status immer vor einer gesellschaftlichen Praxis der Nichtachtung schützt). Zweitens: Der moralische Status sowohl von Feten als auch von Menschen mit schweren, vor allem kognitiven Beeinträchtigungen wird in der Philosophie sehr unterschiedlich beurteilt. Betrachtet man beispielsweise die verschiedenen Beiträge in dem von Kittay und Carlson (2010) herausgegebenen Band, ist die Suggestion Bonfranchis, der Person-Status von schwer geistig und mehrfach behinderten Menschen sei obsolet, schlichtweg eine Irreführung. Drittens: Der moralische Status ist ein normatives Konzept. VHN 2 | 2013 151 Markus DeDericH Pränatale Diagnostik Die kontroverse Debatte Es wird nicht dadurch falsch, dass eine gesellschaftliche Mehrheit anders denkt bzw. so handelt, dass der moralische Status faktisch nicht geachtet wird. Unabhängig von der Frage, wie man den philosophischen und behindertenpädagogischen Diskurs über den Personenstatus von Menschen mit schweren Behinderungen beurteilt, stellt sich das ethische Problem der Schutzwürdigkeit dieses Personenkreises nach wie vor mit großer Dringlichkeit. Weiterdenken! Literatur Gehring, Petra (2006): Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens. Frankfurt: campus Gerdts, Jan (2009): Bedeutungen von pränataler Diagnostik für Menschen mit Behinderungen. eine qualitative studie. Bochum: Projekt Verlag kittay, eva Feder; carlson, Licia (eds.) (2010): cognitive Disability and its challenge to Moral Philosophy. chichester: Wiley-Blackwell Lenhard, Wolfgang (2003): Der einfluss pränataler Diagnostik und selektiven Fetozids auf die inzidenz von Menschen mit angeborener Behinderung. in: Heilpädagogische Forschung 29 (4), 165 -176 Lux, Vanessa (2005): Die Pränataldiagnostik in der schwangerenvorsorge und der schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik. iMeW expertise 3. Berlin: iMeW anschrift des autors Prof. Dr. Markus Dederich Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Allgemeine Heilpädagogik Frangenheimstr. 4 D-50931 Köln Tel.: ++49 (0) 2 21 - 4 70 19 65 mdederic@uni-koeln.de