eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2013
822

Aktuelle Forschungsprojekte

41
2013
Mirjam Pfister
Meret Stöckli
Verena Schindler
Lis Reusser
 u.a.
PRiMa ist eine vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Längsschnittstudie, die untersucht, wie rechenschwache Kinder innerhalb des regulären Mathematikunterrichts in der dritten Klasse der Primarschule gefördert werden können.
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VHN 2 | 2013 158 Aktuelle Forschungsprojekte priMa - produktives rechnen im integrativen Mathematikunterricht Mirjam pfister, Meret stöckli, Verena schindler, lis reusser, elisabeth Moser opitz Universität Zürich PRiMa ist eine vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Längsschnittstudie, die untersucht, wie rechenschwache Kinder innerhalb des regulären Mathematikunterrichts in der dritten Klasse der Primarschule gefördert werden können. Forschungshintergrund In der Schweiz zeigen Lernende im internationalen Vergleich gute mathematische Leistungen (Zahner Rossier/ Holzer 2007). Es gibt jedoch eine beträchtliche Anzahl von Schülerinnen und Schülern, die nur über mangelhafte Grundkenntnisse verfügen und als rechenschwach bezeichnet werden können. Diese Lernenden haben oft basale Kompetenzen der Grundschulmathematik, den sogenannten „mathematischen Basisstoff“, nicht erworben, und ihre mathematische Kompetenz gegen Ende der Schulzeit entspricht kaum dem Primarschulniveau (Moser Opitz 2007; für Deutschland: Frey u. a. 2007; Humbach 2008; Schäfer 2005). Rechenschwache Lernende auf verschiedenen Intelligenzniveaus weisen gegenüber ihren Kameradinnen und Kameraden einen großen Leistungsrückstand auf, der sich insbesondere in fehlendem konzeptionellem Verständnis von Zahlen und Zahlbeziehungen - vor allem beim dezimalen Stellenwertsystem - sowie in Schwierigkeiten beim Zählen, beim Operationsverständnis und Problemlösen und beim Abrufen von einfachen Kopfrechenaufgaben zeigt. Diese Bereiche sind somit bedeutsam für die Förderung. Förderung soll jedoch nicht erst einsetzen, wenn sich Probleme verfestigt haben, sondern möglichst früh bzw. präventiv angeboten werden. Bezüglich der Entstehung von Rechenschwäche ist von vielen verschiedenen Einflussfaktoren auszugehen, deren Wirkungszusammenhänge momentan noch unzureichend erforscht sind. Die Variable Unterricht und die Fachkompetenz der Lehrperson - insbesondere Unterstützungsmaßnahmen im Sinn von Scaffolding - scheinen für die Entwicklung mathematischer Kompetenzen generell eine zentrale Rolle zu spielen. Das gilt insbesondere für schwächere Schüler und Schülerinnen und für Lernende in den ersten Schuljahren (Lipowsky 2007 und 2009). Es gibt zudem Hinweise, dass ein klar strukturiertes und explizites Vorgehen der Lehrpersonen bedeutsam ist und dass ein erfolgreicher weiterführender Lernprozess begünstigt wird, wenn eine aktive Auseinandersetzung mit dem mathematischen Lerngegenstand und ein kognitiv aktivierender Unterricht stattfinden (vgl. u. a. Lipowsky 2009; Seidel/ Shavelson 2007). Gefordert wird deshalb, dem Aufbau von fachlichen bzw. fachdidaktischen Kompetenzen bei den Lehrpersonen vermehrt Rechnung zu tragen (z. B. Ball/ Forzani 2009; Greer/ Meen 2009). Im Zuge verbreiteter integrativer Schulung gewinnen zudem unterrichtsintegrierte Fördermaßnahmen zunehmend an Bedeutung. Forschungsergebnisse zu Interventionsmöglichkeiten liegen erst wenige vor. Positive Effekte auf der Primarschulstufe zeigten sich bei Interventionen bezüglich des Zählens, der Einsicht in die Beziehung Teile - Ganzes, der „Kraft der Fünf bzw. Zehn“, des Bündelns, des Stellenwertprinzips, des Herstellens von Beziehungen zwischen Rechenaufgaben und des Lösens alltagsbezogener Probleme (z. B. Pedrotty Bryant u. a. 2008; Ennemoser/ Krajewski 2007; Fuchs/ Fuchs 2005). Interventionen, die den Fokus auf Lernstrategien, metakognitive Kompetenzen und den Transfer legten, zeigten, dass Transferleistungen auf andere Bereiche nur beschränkt möglich sind (z. B. Desoete 2009; Fuchs u. a. 2008). Forschungsziel und Forschungsfragen Das Projekt will folgende Fragen beantworten: 1) Kann durch eine unterrichtsintegrierte, von den Lehrpersonen durchgeführte Förderung bei rechenschwachen Schülerinnen und Schülern eine Verbesserung der Mathematikleistungen erreicht werden? VHN 2 | 2013 159 Aktuelle Forschungsprojekte 2) Hat die Form, mit der die Lehrpersonen angeleitet werden (Begleittreffen versus schriftliche Unterlagen), einen Einfluss auf die Leistungsfortschritte der Schülerinnen und Schüler? 3) Inwiefern gelingt es Lehrpersonen in der Primarschule, Hinweise zur gezielten Unterstützung der Schülerinnen und Schüler im Sinne materialer und interaktiver Lerngerüste („Scaffolds“) umzusetzen, insbesondere mit Blick auf die rechenschwachen Schülerinnen und Schüler? 4) Über welches Wissen zum Thema Rechenschwäche verfügen Lehrpersonen? Außerdem sollen explorativ Erkenntnisse zum Zusammenhang von Zweitspracherwerb und Mathematiklernen gewonnen werden. Forschungsdesign Es handelt sich um eine quasi-experimentelle Untersuchung mit vier Messzeitpunkten (Vortest Ende Klasse 2, Nachtest nach Abschluss der Förderung und Ende Klasse 3 und Follow-up Ende Klasse 4). Die Stichprobe setzt sich aus 62 dritten Klassen (N = ca. 980) aus neun Deutschschweizer Kantonen zusammen, welche das Schulbuch „Schweizer Zahlenbuch 3“ oder „Mathematik 3“ im Unterricht verwenden. Die Klassen wurden in zwei Interventionsgruppen A (22 Kl.) und B (19 Kl.) und eine Kontrollgruppe C (21 Kl.) aufgeteilt. Das Förderprogramm ist auf das jeweils verwendete Schulbuch abgestimmt. Die Lehrpersonen setzen es während sechs Monaten in ihrem Mathematikunterricht ein. Es enthält drei Unterrichtseinheiten zu den Themenschwerpunkten „Aufbau Dezimalsystem“, „Orientierung am Zahlenstrahl“ und „Halbschriftliche Addition und Subtraktion“ sowie zwei Übungskarteien „Zählen“ und „Kopfrechnen“ und ein Übungsangebot zum „Operationsverständnis“. Bezeichnend für alle sechs Einheiten ist, dass Vorschläge gemacht werden zur Auswahl zentraler Inhalte und zum Einsatz von Vorgehensweisen, die es den rechenschwachen Schülerinnen und Schülern erlauben sollen, tragfähige mathematische Repräsentationen aufzubauen. Besonderes Gewicht wird dabei auf die Hinführung zur Abstraktion gelegt. Das Programm enthält zudem Hinweise zur adaptiven Unterstützung der Lernenden (aktivierende Fragen/ Impulse und adäquate Reaktionen auf Fragen und Fehler der Lernenden). Die Lehrpersonen der Interventionsgruppen A und B nehmen an einer Einführungsveranstaltung teil, für die Gruppe A gibt es im Verlauf der Interventionsphase zwei weitere Begleitveranstaltungen. In der Kontrollgruppe C wird das Förderprogramm nicht eingesetzt, die Lehrpersonen erhalten die Fördermaterialien zu einem späteren Zeitpunkt. Beim ersten Messzeitpunkt werden folgende Daten erhoben: Mathematikleistung, allgemeine Denkfähigkeiten (CFT-1), SES (Bücheraufgabe), Herkunft, Familiensprache/ Erstsprache (L1), Einschätzung Sprachstand Zweitsprache (L2) Deutsch, Förderbedarf und spezielle Diagnosen (Rechenschwäche, LRS, Logopädie-Therapie usw.). Zudem wird den Lehrpersonen ein Fragebogen zum Wissen über Rechenschwäche vorgelegt. In den Interventionsgruppen wird eine Mathematiklektion videografiert und bezüglich des Unterstützungsverhaltens der Lehrpersonen analysiert. Mit 50 Kindern mit L2 Deutsch (je 25 mit durchschnittlichen bzw. unterdurchschnittlichen Mathematikleistungen) und mit 25 Kindern mit L1 Deutsch und unterdurchschnittlichen Mathematikleistungen erfolgt eine ausführliche Diagnostik in den Bereichen Sprache und Mathematik, um nähere Auskunft über den Zusammenhang des Sprachstands in der L2 Deutsch und den mathematischen Fähigkeiten zu erhalten. Die Studie dauert bis August 2014. Weitere Informationen sowie literaturangaben können bei mpfister@ife.uzh.ch eingeholt werden sowie unter http: / / www.ife.uzh.ch/ research/ sbi/ forschung/ prima.html VHN 2 | 2013 160 Aktuelle Forschungsprojekte effektivität lexikalischer strategietherapie im schulalter. rct mit ein- und mehrsprachigen kindern hans-joachim Motsch, Dana-kristin Marks Universität zu Köln theoretischer hintergrund Störungen des Wortschatzes sind häufige Teilsymptome einer Sprachentwicklungsstörung bei Kindern, die oftmals bis ins Erwachsenenalter persistieren (Hall/ Tomblin 1978). Gieseke/ Harbrucker (1991) beziffern den Anteil lexikalisch gestörter Schüler an Sprachheilschulen auf 60 % (vgl. auch Glück 2003; German 1994). Lehrer und Sprachtherapeuten sehen sich zunehmend mit einer Schülerschaft mit einem zu geringen und undifferenzierten Wortschatz konfrontiert. Lexikalische Defizite haben nicht nur Einfluss auf andere sprachliche Bereiche - wie zum Beispiel den grammatischen oder kommunikativpragmatischen - sondern auch Auswirkungen auf die Sozial- und Leistungsentwicklung des Betroffenen. Gerade mit zunehmendem Alter laufen diese Kinder dann Gefahr, die schulischen Leistungserwartungen nicht erfüllen zu können und ihre akademische Entwicklung zu gefährden (Dannenbauer 2002). Ein Aufholen der stetig größer werdenden lexikalischen Defizite kann nur über ein eigenaktives Lernen über das zeitlich begrenzte Therapiesetting hinaus möglich werden: Eine effektive lexikalische Therapie muss demnach auch Transfereffekte auf ungeübtes Wortmaterial erzielen (Motsch/ Brüll 2009). 2009 -2010 wurde im Rahmen der international größten kontrollierten und randomisierten Interventionsstudie (RCT) die Wirksamkeit eines neu entwickelten Therapieformates - der lexikalischen Strategietherapie „Der Wortschatz- Sammler“ - erstmalig für die Zielgruppe der Vorschulkinder untersucht. Die Ergebnisse weisen selbst bei dieser jungen Altersgruppe auf eine Überlegenheit des Strategieansatzes gegenüber der klassischen Elaborationstherapie hin, insbesondere im Hinblick auf die vorgefundenen Langzeit- und Transfereffekte auf ungeübtes Wortmaterial (Motsch/ Ulrich 2012). Die nachgewiesene Wirksamkeit der „Wortschatz-Sammler“-Therapiemethode im Vorschulalter liefert den Anlass, die Effektivität des Konzepts für die Altersgruppe der Schulkinder zu überprüfen. Da im Grundschulalter von weiter entwickelten metakognitiven und -linguistischen Fähigkeiten auszugehen ist (Büttner 2003), erscheint die nun gewählte Altersgruppe für den strategieorientierten Ansatz noch empfänglicher und lässt größere positive Effekte als bereits im Vorschulalter erwarten. Unter Berücksichtigung der Weiterentwicklung des mentalen Lexikons (Menuyk 2000), kindlicher Interessen und Spielformate sowie der Erfahrungen aus der Vorgängerstudie wurde die „Wortschatz-Sammler“-Therapiemethode theoriegeleitet überarbeitet und an die spezifischen Bedürfnisse und Möglichkeiten von lexikalisch gestörten Schulkindern adaptiert. Besonders berücksichtigt wird in der Folgestudie nun auch die Frage nach dem Nutzen der Strategietherapie für bilinguale, insbesondere türkischdeutsche, Schüler/ innen mit einer lexikalischen Störung. Tracy (2003) spricht von einer sehr frühen Notwendigkeit eines bewussteren Umgangs mit Sprache und dem erhöhten Einsatz metalinguistischer Analysefähigkeiten bei Mehrsprachigkeit. Jene Probanden könnten demzufolge von einem strategieorientierten Therapieansatz in enormem Maße profitieren. Darüber hinaus besteht die Hypothese, dass sich die erlernten Strategien und Organisationsprinzipien im Sinne eines cross-linguistischen Transfers auf beide Sprachen positiv auswirken (Wahn 2009). Dies gilt es in der geplanten Studie zu überprüfen, indem die Ergebnisse der mehrsprachigen Probanden gesondert evaluiert und die der türkisch und deutsch sprechenden Probanden im Speziellen auf mögliche positive Transferleistungen auf die türkische Sprache hin untersucht werden. In Zeiten sich verändernder Schullandschaften und auf der Suche nach therapieintegrierenden Unterrichtsformaten bzw. qualitativ hochwertigen, aber ökonomischen Therapieformaten stellt sich unweigerlich die Frage nach der Effektivität von (Klein-)Gruppentherapien, die sich in VHN 2 | 2013 161 Aktuelle Forschungsprojekte die Organisationsstruktur einer Schule oft leichter integrieren lassen als Einzeltherapieformate. Diesem Forschungs- und Praxisinteresse soll durch die Evaluation von zwei unterschiedlichen Therapiesettings - Einzeltherapie vs. Kleingruppentherapie - nachgegangen werden. Methode Das Projekt ist als randomisierte und kontrollierte Interventionsstudie (N =160) angelegt und evaluiert die Effektivität des für das Schulalter adaptierten Therapiekonzepts „Der Wortschatz- Sammler“. Die Effekte dieser lexikalischen Strategietherapie werden in einem Prä-Post-Test-Design (T1 - Intervention - T2) mit denen einer nicht spezifischen Strategietherapie (KG) verglichen. Durch einen Follow-up-Test (T3) vier Monate nach Interventionsabschluss sollen mögliche (langfristige) Generalisierungseffekte nachgewiesen werden. Ergänzt wird das Forschungsdesign durch eine Variation des Settings in der Experimentalgruppe (EG 1: Einzeltherapie, EG 2: Kleingruppentherapie, n = 2). Zu diesem Zweck wurden über 200 Schüler der dritten Klassen von 12 Sprachheilschulen in NRW hinsichtlich ihrer lexikalischen Leistungen überprüft und ab einem T-Wert < 40 in dem Wortschatz- und Wortfindungstest (WWT 6 -10, Glück 2011) als lexikalisch gestört klassifiziert und in die Studie aufgenommen. Insgesamt wird die Studie ca. 160 lexikalisch gestörte Schüler/ innen umfassen, davon ist etwa die Hälfte mehrsprachig aufwachsend. Die 80 Kinder der Experimentalgruppe verteilen sich auf die EG 1 (40 Einzeltherapien) und die EG 2 (20 Kleingruppentherapien à 2 Schüler). Die Intervention wird in den Förderschulen erfolgen. Sie wird über einen Zeitraum von 5 Monaten einmal wöchentlich (30 -45 Minuten je nach Therapiesetting) durchgeführt und beinhaltet 20 Therapiesitzungen. Darüber hinaus wird ein wesentliches Prinzip der Therapiemethode - das Entdecken lexikalischer Lücken im Alltag - in Form des „Unterrichtspiraten“ in den Klassen und des „Wochenendpiraten“ im familiären Umfeld eingeführt, um die erlernten lexikalischen Strategien auf den Alltag der Schüler zu transferieren. ermittlung der therapieeffekte Der unmittelbare Therapieeffekt wird über den Vergleich der Leistungen im bereits erwähnten WWT 6 -10 (Glück 2011) vor und direkt nach Interventionsabschluss erfasst. Wichtiger ist darüber hinaus erneut der Nachweis eines langfristigen Therapieeffektes. Dazu wird der bereits erhobene Leistungsstand mit den Leistungen der Probanden im WWT 6 -10 vier Monate nach Abschluss der Intervention verglichen. Mögliche positive Transferleistungen auf die türkische Sprache der bilingualen Schüler werden mithilfe der türkischen Version des WWT 6 -10 analog zu den lexikalischen Leistungen im Deutschen erhoben. Mittels eines Subtests des Sprachstanderhebungstests für Fünfbis Zehnjährige (SET 5 -10, Petermann 2010) soll überprüft werden, ob sich Verbesserungen der lexikalischen Fähigkeiten auch auf das Verstehen von Sätzen positiv auswirken. Varianzanalytisch wird ebenfalls der potenzielle Einfluss mehrerer im Prätest erhobener Parameter (nonverbale Intelligenz, Kapazität des Arbeitsgedächtnisses) überprüft. erwartungen Es wird erwartet, dass sich die lexikalischen Leistungen in beiden Experimentalgruppen stärker als in der Kontrollgruppe verbessern. Darüber hinaus soll die Studie Antworten auf folgende Forschungsfragen liefern: n Sind die zu erwartenden Therapieeffekte der „Wortschatz-Sammler“-Therapie abhängig vom gewählten Therapieformat oder profitieren die geförderten Kinder gleichermaßen vom Einzelbzw. Kleingruppensetting? n Profitieren mehrsprachige Kinder in gleichem Maße von der lexikalischen Strategietherapie wie monolinguale Kinder? Lassen sich Transferleistungen auf die nicht-deutsche Sprache feststellen (in Form von signifikanten Verbesserungen in der türkischen Sprache)? Erste Ergebnisse werden im Herbst 2013 vorliegen. Weitere Informationen sowie literaturangaben können eingeholt werden bei j.motsch@unikoeln.de VHN 2 | 2013 162 Aktuelle Forschungsprojekte Freiburger studie zum peereinfluss in schulen (FrI-peers): Fortsetzung des längsschnitts in die 8. und 9. klasse christoph Michael Müller, gérard Bless Universität Freiburg/ Schweiz Im Februar 2011 begann die vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte „Freiburger Studie zum Peereinfluss in Schulen“ (FRI-PEERS; s. a. Müller/ Bless 2011). In dieser Untersuchung werden die Häufigkeit und Entwicklung dissozialen Verhaltens von Schüler/ innen nach dem Übergang in die Sekundarstufe I untersucht. Zweiter Forschungsschwerpunkt ist die Frage, inwiefern die Klassenzusammensetzung hinsichtlich des Anteils von Jugendlichen mit dissozialem Verhalten einen Einfluss auf die individuelle Verhaltensentwicklung von Schüler/ innen hat. Die Laufzeit dieses Projekts endet im Juli 2013 (SNF- 100013_132210/ 1). Der Schweizerische Nationalfonds hat nun eine Fortsetzung der Längsschnittstudie mit erweiterten Fragestellungen von August 2013 bis Juli 2015 genehmigt (SNF- 100013_143459/ 1). Das Projekt wird am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg/ Schweiz unter der Leitung von Dr. Christoph Müller und der Mitarbeit von zwei Forschungsassistentinnen sowie mehreren studentischen Hilfskräften durchgeführt. Zu spezifischen Fragestellungen sind informelle Kooperationen mit Forschungsgruppen der Rutgers University New Jersey (Social Development Group/ Prof. Dr. Paul Boxer) und der FU Berlin (Cluster Languages of Emotion/ Dr. Isabel Dziobek) geplant. problemstellung Wenn Jugendliche dissoziales Verhalten wie Aggression, Delinquenz und schulisches Problemverhalten zeigen, bedeutet dies für potenzielle Opfer eine Bedrohung und für Lehrpersonen eine erhebliche pädagogische Herausforderung. Für die betroffenen Jugendlichen selbst gehen Verhaltensprobleme oftmals mit ungünstigen Entwicklungsperspektiven einher (Quinn/ Poirier 2004). Um in diesem Problemfeld Lösungen zu erarbeiten, werden als Erstes genaue Angaben über die Häufigkeit und Entwicklung verschiedener Formen dissozialen Verhaltens im Schulsystem benötigt. Konkret stellt sich beispielsweise die Frage, welche Unterschiede zwischen den Bildungsgängen bestehen und wie diese im Detail aussehen. So ist beispielsweise offen, ob sich Bildungsgangunterschiede nur im Bereich schwerwiegender Verhaltensprobleme zeigen, leichtere Verhaltensauffälligkeiten jedoch gleich verteilt sind. Insbesondere liegen widersprüchliche Angaben zur Häufigkeit dissozialen Verhaltens in sonderpädagogischen Klassen für lernschwache Jugendliche in der Schweiz vor (Willi/ Hornung 2002; Müller u. a. 2012). Weiter muss untersucht werden, ob sich Schüler/ innen nicht nur aufgrund der Eingangsselektivität der verschiedenen Schultypen unterscheiden, sondern sich ihr Verhalten durch den jeweils besuchten Bildungsgang auch spezifisch verändert. Ausgehend von ungünstigen Effekten des Besuchs niedriger Bildungsgänge auf die Schulleistungsentwicklung (z. B. van Houtte 2004) ist daher zu prüfen, ob sich ähnliche Muster auch im Verhaltensbereich zeigen. Diese Fragen werden aktuell im ersten Teil des FRI-PEERS-Projekts bearbeitet. Die Analysen beziehen sich dabei auf die Verhaltensentwicklung direkt nach dem Übergang von der Primarin die Sekundarstufe, im Schulsystem des Kantons Freiburg also auf die 7. Klasse. Im Folgeprojekt können die Fragestellungen nun auf den Längsschnitt von der 7. bis zur 9. Klasse ausgeweitet werden. Dies ermöglicht auch die Analyse altersspezifischer Entwicklungen. So legen Schweizer Querschnittstudien beispielsweise einen Höhepunkt dissozialen Verhaltens in der 8. Klasse und einen Rückgang in der 9. Klasse nahe (Killias u. a. 2007; Müller u. a. 2012). Diese Beobachtungen gilt es im Fortsetzungsprojekt im Längsschnitt zu überprüfen. Neben der Generierung genauer Daten zur Häufigkeit und Entwicklung soll in der Untersuchung auch ein Beitrag zur ursächlichen Erklärung dissozialen Verhaltens geleistet werden. Die Freiburger Studie zum Peereinfluss in Schulen fokussiert im multikausalen Gefüge der Entstehung von Verhaltensproblemen dabei auf die Rolle der Schule als Sozialisationsort für Schüler/ innen. Im hier vorgestellten Forschungsprojekt interes- VHN 2 | 2013 163 Aktuelle Forschungsprojekte siert dabei vor allem, welche Effekte die Klassenzusammensetzung auf die Entwicklung individuellen dissozialen Verhaltens hat. Die hohe Bedeutung der Peers für Jugendliche lässt erwarten, dass das Niveau an Verhaltensproblemen unter den Klassenkamerad/ innen ein wichtiger Orientierungspunkt für das eigene Verhalten von Schüler/ innen ist (s. a. Dishion/ Tipsord 2011). So sind Anpassungs- und Verstärkungsprozesse zwischen den Jugendlichen zu erwarten, welche das Niveau dissozialen Verhaltens in der Klasse zu einem Prädiktor individueller Entwicklungen machen könnten (Müller 2011). Neben dem Mittelwert dissozialen Verhaltens in der Klasse spielt dabei vielleicht auch das Verhalten der populären Jugendlichen, der am stärksten abweichenden Schüler/ innen und der persönlichen Freunde in der Klasse eine entscheidende Rolle. Bisherige Querschnittbefunde zu solchen Effekten auf der Sekundarstufe (Müller u. a. 2012; Müller u. a., eingereicht) müssen an dieser Stelle im Längsschnitt überprüft werden. Im ersten FRI-PEERS-Projekt werden deshalb mögliche Effekte der Klassenzusammensetzung innerhalb des 7. Schuljahres untersucht. Im Folgeprojekt gilt es dann mögliche Wirkungen bis in die 9. Klasse hin zu verfolgen. Erweiternd wird dort untersucht, welche Schüler/ innen unter welchen Bedingungen am leichtesten durch ihre Peers beeinflussbar sind. Eine systematische Übersicht zu dieser Frage (Müller/ Minger, eingereicht) zeigt bisher noch widersprüchliche Befunde, die in der Studie aufgenommen werden sollen. Zusammenfassend werden in dem FRI-PEERS Folgeprojekt also genaue Daten zur Häufigkeit und Entwicklung dissozialen Verhaltens über die gesamte Sekundarstufe I hinweg erhoben sowie langfristige Effekte und Wirkmechanismen der Klassenzusammensetzung auf individuelles dissoziales Verhalten überprüft. Methodik Die Freiburger Studie zum Peereinfluss in Schulen umfasst eine längsschnittliche Kompletterhebung eines Schuljahrgangs im deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg. Die Sekundarstufe I beginnt im Kanton Freiburg in der 7. Klasse und ist in die drei Regelbildungsgänge des Progymnasiums, der Sekundarschule und der Realschule sowie in die sonderpädagogischen Werkklassen für lernschwache Jugendliche aufgegliedert. Die Schüler/ innen besuchen während der Sekundarstufe I Klassen mit weitgehend gleich bleibender Schülerzusammensetzung. Am ersten FRI-PEERS-Projekt nahmen 879 Schüler/ innen aus acht Oberstufenzentren und 55 Klassen teil. Die Jugendlichen wurden zu vier Messzeitpunkten innerhalb des 7. Schuljahres befragt (n = 54 Jugendliche besuchten im Rahmen der jahrgangsgemischten Werkklassen die 8. oder 9. Stufe). Im Folgeprojekt werden die zuvor teilnehmenden Siebtklässler/ innen noch einmal in der 8. und in der 9. Klasse um Auskunft gebeten. Die Datenerhebung erfolgt an den Schulen vor Ort mit Hilfe standardisierter Tests und schriftlicher Befragungen, die anonymisiert durchgeführt werden. Dissoziales Verhalten wird dabei durch die Ausprägung aggressiven, delinquenten und schulischen Problemverhaltens sowohl in Bezug zu einer Testnorm (Screening Psychischer Störungen - Jugendliche) als auch in absoluten Häufigkeiten durch Selbstauskünfte und Peerratings erhoben. Die in Vorstudien entwickelten und evaluierten „Freiburger Selbst- und Peerauskunftsskalen“ ermöglichen dabei detaillierte Angaben über die Häufigkeit verschiedener Verhaltensweisen in den letzten 14 Tagen (Müller, im Druck; Müller u. a. 2012). Die Entwicklung der sozialen Netzwerke und des individuellen Status von Schüler/ innen innerhalb der Klassen wird durch Peernominationen erfasst. Die statistische Analyse der Daten erfolgt aufgrund der geschachtelten Datenstruktur (Ebene 1: Messzeitpunkte; Ebene 2: Individuen; Ebene 3: Klassen) überwiegend mithilfe mehrebenenanalytischer Verfahren. Auf allen Ebenen der Datenstruktur werden dabei zentrale Kontrollvariablen berücksichtigt. relevanz der studie Die Ergebnisse der Freiburger Studie zum Peereinfluss in Schulen können erstens genaues Wissen zur Häufigkeit und Entwicklung dissozialen Verhaltens in einem gegliederten Schul- VHN 2 | 2013 164 Aktuelle Forschungsprojekte system geben. Die numerischen Inzidenzangaben erlauben dabei relativ genaue Schätzungen, welche Verhaltensprobleme bei welchem Personenkreis und zu welcher Zeit während der Sekundarstufe I am häufigsten vorkommen. Solches Wissen ist notwendig, um bei der Prävention dissozialen Verhaltens gezielte Schwerpunktsetzungen vornehmen zu können. Zweitens lassen sich aus Erkenntnissen zu den Effekten der Klassenzusammensetzung Hinweise auf günstige und weniger günstige Klassenkonstellationen ableiten sowie mögliche Folgen der Zusammenführung verhaltensauffälliger Jugendlicher in tiefen Bildungsgängen analysieren. Eine besondere Relevanz der Studienergebnisse ergibt sich durch die aktuelle Diskussion über die Erfolge und Schwierigkeiten der Integration von sonderpädagogisch geförderten Schüler/ innen mit Verhaltensproblemen in allgemeinen Schulen (s. a. Müller u. a. 2011). Weitere Informationen: unifr.academia.edu/ ChristophMüller kontakt und literaturangaben: christoph.mueller2@unifr.ch