Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2013.art09d
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Anforderungen und Widersprüche arbeitsplatzorientierter Alphabetisierung und Grundbildung
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Marc Thielen
Zusammenfassung: Neuere Forschungen zeigen, dass von funktionalem Analphabetismus betroffene Menschen eine heterogene soziale Gruppe bilden. Nicht wenige sind erwerbstätig und kommen mit arbeitsplatzorientierten Lernbedarfen in Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse. Dort dominierte jedoch lange eine Defizitsicht, die es erschwert, Kursteilnehmende als (weiter-)bildungsmotivierte Arbeitnehmer/innen wahrzunehmen. Auf Basis einer qualitativen Befragung weist der Beitrag auf die Gefahr hin, dass das Bildungsangebot an arbeitsplatzorientierten Erwartungen von Teilnehmer/innen vorbeigeht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich Alphabetisierung und Grundbildung auf eine kontextunabhängige Vermittlung von Kulturtechniken beschränken oder sich Teilnehmende in erster Linie als eine psychosozial belastete und sonderpädagogisch zu fördernde Klientel wahrgenommen erleben. Angesichts der Befunde wird für eine stärkere inhaltliche Differenzierung von Alphabetisierungs- und Grundbildungsangeboten und eine reflexive pädagogische Professionalität plädiert.
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190 VHN, 82. Jg., S. 190 -201 (2013) DOI 10.2378/ vhn2013.art09d © Ernst Reinhardt Verlag Anforderungen und Widersprüche arbeitsplatzorientierter Alphabetisierung und Grundbildung Marc Thielen Universität Bremen Zusammenfassung: Neuere Forschungen zeigen, dass von funktionalem Analphabetismus betroffene Menschen eine heterogene soziale Gruppe bilden. Nicht wenige sind erwerbstätig und kommen mit arbeitsplatzorientierten Lernbedarfen in Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse. Dort dominierte jedoch lange eine Defizitsicht, die es erschwert, Kursteilnehmende als (weiter-)bildungsmotivierte Arbeitnehmer/ innen wahrzunehmen. Auf Basis einer qualitativen Befragung weist der Beitrag auf die Gefahr hin, dass das Bildungsangebot an arbeitsplatzorientierten Erwartungen von Teilnehmer/ innen vorbeigeht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich Alphabetisierung und Grundbildung auf eine kontextunabhängige Vermittlung von Kulturtechniken beschränken oder sich Teilnehmende in erster Linie als eine psychosozial belastete und sonderpädagogisch zu fördernde Klientel wahrgenommen erleben. Angesichts der Befunde wird für eine stärkere inhaltliche Differenzierung von Alphabetisierungs- und Grundbildungsangeboten und eine reflexive pädagogische Professionalität plädiert. Schlüsselbegriffe: Funktionaler Analphabetismus, Grundbildung und Alphabetisierung, Weiterbildung, pädagogische Professionalität Requirements and Contradictions of Workplace-Oriented Literacy Programs and Basic Education Summary: Recent research has shown that functionally illiterate people form a heterogeneous social group. Quite a few of them are in employment and thus have workplace-related learning requirements when joining literacy and basic education courses. Though, a deficit approach regarding the target group has been adopted in these courses for a long time, which fails to acknowledge course participants as employees motivated to attend (further) education. Based on a qualitative survey, this paper highlights the danger that course offerings may fail to meet the workplace-related requirements of their participants. This is particularly true where literacy programmes and basic education are limited to the mere context-independent teaching of cultural techniques or where participants feel perceived as psychosocially stressed individuals who need special educational support. In the context of the survey results, this paper makes a case for a stronger differentiation of literacy and basic education offers with regard to contents as well as for reflective educational professionalism as part of such programmes. Keywords: Functional illiteracy, basic education and literacy, further education, educational professionalism FaChB E iTR ag ThEMEnSTR ang Funktionaler analphabetismus VHN 3 | 2013 191 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag 1 ausgangssituation Etwa 7,5 Millionen Menschen in Deutschland sind vom sogenannten funktionalen Analphabetismus betroffen (vgl. Grotlüschen u. a. 2012). Sie unterschreiten eine Normschwelle basaler Grundbildungskompetenzen, da sie Probleme im Lesen, Schreiben und Verstehen von zusammenhängenden Texten haben. Angesichts der damit einhergehenden begrenzten Chancen auf „gesellschaftliche Teilhabe und die Realisierung individueller Verwirklichungschancen“ (Egloff u. a. 2011, 11) zielen bildungspolitische Strategien auf die Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus, wobei der Schwerpunkt eines neuen, bis 2015 laufenden Förderprogramms des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) auf arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung zielt 1 . Die Betroffenen sollen in ihren Kompetenzen zur Bewältigung von Literalitätsanforderungen am Arbeitsplatz unterstützt werden. Klassische Grundbildungs- und Alphabetisierungskurse sind hierzu nur begrenzt in der Lage, was zum einen daran liegt, dass die Teilnehmer/ innen aus sehr unterschiedlichen Gründen das Kursangebot wahrnehmen und ihre Leseund/ oder Schreibkompetenzen demzufolge für verschiedene Lebens- und Alltagsbereiche verbessern möchten (vgl. Bindl/ Thielen 2011). Darüber hinaus werden Betroffene aus erwachsenenbildnerischer Sicht selten als (weiter-)bildungsmotivierte Arbeitnehmer/ innen wahrgenommen, selbst wissenschaftliche Publikationen nehmen die empirisch nachgewiesene hohe Erwerbsbeteiligung von funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten mit Erstaunen zur Kenntnis (vgl. Grotlüschen 2012, 138). Demgegenüber dominieren defizitorientierte Verallgemeinerungstendenzen, welche die ‚Zielgruppe‘ einseitig als sozial desintegriert, stigmatisiert und hilfsbedürftig beschreiben und unterstellen, Betroffene hätten nahezu identische Lebenserfahrungen und Biografien (zur Kritik vgl. Bittlingmayer u. a. 2010). Pädagogisches Handeln in der Alphabetisierungs- und Grundbildungspraxis wird demzufolge an der Schnittstelle von Erwachsenenbildung und Sozialpädagogik verortet (vgl. Egloff 2011), ein Professionsverständnis, das zwar einem Teil der Teilnehmer/ innen durchaus gerecht werden dürfte, in seiner Verknüpfung mit einem sonderpädagogischen Blick jedoch an den Bildungsbedürfnissen und Interessen anderer vorbeigeht. Dieses Problem beleuchtet der vorliegende Beitrag auf der Grundlage einer qualitativen Studie mit Teilnehmenden an Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen, die mit dezidiert arbeitsplatzbezogenen Lerninteressen in den Kurs gekommen sind und sich dort in ihren Erwartungen enttäuscht sehen 2 . Dem Beitrag geht es nicht darum, Aussagen zur Qualität von Grundbildungs- und Alphabetisierungskursen zu treffen, sondern strukturelle Problemlagen zu identifizieren, die aus dem Versuch resultieren, ein einheitliches, an allgemeinen Lese- und Schreibkompetenzen orientiertes Curriculum für alle vorzuhalten, das vor allem im Hinblick auf diagnostizierte Kompetenzniveaus differenziert. Nachdem zunächst das Feld der Alphabetisierungs- und Grundbildungspraxis skizziert und aktuelle Diskussionen um Professionalität beleuchtet werden, erfolgt eine Vorstellung der dem Beitrag zugrunde liegenden Studie sowie deren methodischen Vorgehens. Die Diskussion der empirischen Ergebnisse bezieht sich auf zwei pädagogische Spannungsfelder, die sich aus den Interviews mit Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern herauskristallisieren ließen: Allgemeine Lese- und Schreibkompetenzen versus arbeitsplatzbezogene Literalität sowie nachholende Förderpädagogik versus lebenslagenbezogene Weiterbildung. Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse wird für eine stärkere inhaltliche Differenzierung von Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen und eine reflexive Professionalität plädiert. VHN 3 | 2013 192 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag 2 Professionelles handeln im Kontext von grundbildung und alphabetisierung Grundbildungs- und Alphabetisierungskurse an Volkshochschulen und in sonstigen Bildungsinstitutionen sind spezifische Bildungsangebote, die sich an Erwachsene richten, die ihre Leseund/ oder Schreibkompetenz verbessern möchten. Vor dem Hintergrund der vermeintlich besonders ausgeprägten psychosozialen Belastungen von funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten wird die Frage aufgeworfen, ob es sich bei solchen Kursen tatsächlich um ein Angebot der Erwachsenenbildung handelt oder ob man nicht eher von sozialpädagogischer Unterstützung sprechen müsste (vgl. Egloff 2011). Diskurse der Alphabetisierungspraxis legen dies nahe, zeichnen sie doch für gewöhnlich ein einseitiges und defizitorientiertes Bild von Menschen mit funktionalem Analphabetismus, das unterstellt, erwachsene Personen mit Schwierigkeiten im Lesen und/ oder Schreiben verfügten über vergleichbare (Leidens-)Biografien und lebensweltliche Erfahrungen (vgl. Döbert/ Hubertus 2000). Bittlingmayer u. a. (2010) problematisieren diese Behauptung und rekonstruieren in einer qualitativ-empirischen Untersuchung eine hohe soziale Heterogenität von Menschen mit funktionalem Analphabetismus. Sie unterscheiden milieu- und herkunftsbedingte Bildungserschwernisse von geschlechtsspezifischen, migrationsbedingten oder durch kritische Lebensereignisse verursachte. Darüber hinaus ist auf das grundsätzliche Problem zu verweisen, dass es sich bei den Personen, die in Studien zum funktionalen Analphabetismus beforscht werden, meist um Kursteilnehmer/ innen handelt, die aufgrund vermeintlich ‚typischer‘ Merkmale von Kursleiterinnen und -leitern für Befragungen ausgewählt und empfohlen werden. Diese spezifische Personengruppe ist keineswegs repräsentativ für die Gesamtheit der erwachsenen Menschen, die vom funktionalen Analphabetismus betroffen sind. Viele von diesen besuchen nie einen Grundbildungs- und Alphabetisierungskurs. Aber auch die Gruppe der Kursteilnehmenden erweist sich bei näherem Hinsehen keineswegs als homogen. Im Kontext einer Verbleibsstudie, im Zuge derer insbesondere Personen befragt wurden, die während sehr langer Zeit an Kursen teilgenommen haben, unterscheidet Egloff (2011) mehrere ‚Typen‘, etwa Teilnehmer/ innen, die nach Beendigung eines Kurses wieder in den Kurs zurückkommen, Teilnehmer/ innen, die in weiterführende Kurse wechseln, sowie Teilnehmer/ innen, die zu Botschaftern der Alphabetisierungspraxis werden. Gleichwohl problematisiert die Autorin die lange Verweildauer der interviewten Kursteilnehmer/ innen, die sich zum Teil über mehrere Jahrzehnte erstreckt und auf eine hohe emotionale Verbundenheit mit den Kursleitenden hinweist. Letztere würden weniger als Wissensvermittler gesehen, sondern als Vertrauenspersonen, an die man sich mit Problemen aller Art wenden kann. Vor diesem Hintergrund verortet Schimpf (2011) die Professionalität von Kursleiterinnen und -leitern in der Alphabetisierung und Grundbildung an der Schnittstelle von Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung 3 . Die Autorin begründet dies mit der besonderen Beziehung zwischen Kursteilnehmenden und -leitenden, die offensichtlich im Kontext von anderen erwachsenenbildnerischen Settings - man denke beispielsweise an Fremdsprachenkurse - nicht verbreitet ist. Egloff (2011) sieht dieses besondere Vertrauensverhältnis nicht unproblematisch und verweist auf das Problem von Nähe und Distanz. Jochim und Schimpf (2010, 234) beschreiben diesbezüglich die Tendenz, dass sich Kursleitende in einer Elternrolle für ihre Teilnehmer/ innen sehen und diese beschützen wollen. In Anlehnung an Foucaults Konzept der Pastoral- VHN 3 | 2013 193 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag macht vergleichen die Autorinnen die Rolle der Kursleitung mit der eines Hirten im Christentum, mit der Konsequenz, dass sich das pädagogische Verhältnis als in hohem Maße asymmetrisch erweist und mit der Gefahr von neuen Abhängigkeiten verbunden ist. Bemerkenswerterweise stellen Jochim und Schimpf gleichwohl eine hohe Zufriedenheit aufseiten der von ihnen interviewten Personen fest, welche die mit einer besonderen Autorität ausgestattete Position von Kursleitenden keineswegs als negativ empfinden, sondern für deren Beratung durchaus dankbar sind. Trotz der augenscheinlich hohen Akzeptanz des sozialpädagogisch gestalteten Bildungsangebots sind bei Weitem nicht alle Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer mit Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen zufrieden. So lässt sich mit Egloff (2011, 187) auf das bislang wenig erforschte Problem des Drop-outs verweisen, das als schwerwiegend eingeschätzt wird, „da die Gefahr besteht, dass die Personen endgültig für die Alphabetisierung oder gar für die (organisierte) Erwachsenenbildung verloren gehen“ (ebd.). Die im empirischen Teil dieses Beitrags diskutierten Befunde, die Interviews mit Personen berücksichtigen, die mit dem von ihnen besuchten Kurs unzufrieden waren oder diesen bereits verlassen haben, betrachten bislang kaum reflektierte ‚Nebenwirkungen‘ einer nicht konsequent erwachsenenbildnerisch verorteten Professionalität. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Alphabetisierungs- und Grundbildungspraxis neben sozialpädagogischen auch sonderpädagogische Komponenten beinhaltet, die aus Sicht von erwachsenen Lernerinnen und Lernern problematisch sein können. Damit ist auf spezifische „Paradoxien professionellen Handelns“ (vgl. Schütze 1996) verwiesen, die das Feld der Grundbildungs- und Alphabetisierungspraxis konstituieren 4 . Zunächst folgen einige Anmerkungen zum Projekt und zur Methode. 3 Zum Forschungsprojekt und zur Methode Die hier diskutierten Befunde gründen in einer qualitativen Studie, die sich auf aktuelle und ehemalige Teilnehmende an Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen der Hamburger Volkshochschule bezieht und die Arbeitsrealitäten und Lernbedarfe von Menschen mit funktionalem Analphabetismus untersucht (vgl. Bindl u. a. 2011). Das Sample setzt sich aus 57 Personen zusammen (32 aktuelle und 25 ehemalige Kursteilnehmende); mit 30 Frauen und 27 Männern wurde eine ausgewogene Geschlechterverteilung erreicht. Alle Befragten wurden im Zuge der Anmeldung zu einem Lese- und Schreibkurs bei der Volkshochschule mit den dort üblichen diagnostischen Verfahren getestet und einer von fünf Kursstufen zugewiesen. Die befragten Frauen und Männer hatten Kurse der Stufen 1 (keine oder diffuse Kenntnisse im Lesen und Schreiben), 2 (Buchstaben und Lautkenntnisse, Ansätze selbstständiger Lautsynthese) oder 3 (Beherrschung der Lesetechnik, lautgetreues Schreiben, selbstständiges Arbeiten mit dem Grundwortschatz) besucht. Bereits die diagnostische Feststellung unzureichender Lese- und Schreibkompetenzen, die in aktuellen Projekten zum funktionalen Analphabetismus ausdifferenziert und verfeinert wird (vgl. Grotlüschen u. a. 2012), verweist auf Gemeinsamkeiten des erwachsenenbildnerischen Handelns mit der Tätigkeit von Förderschullehrkräften im Kontext der Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs. Das Alter der Interviewten zum Befragungszeitpunkt weist eine große Spanne auf (15 bis 71 Jahre), wobei sich die überwiegende Mehrheit im mittleren Erwachsenenalter befindet: Rund die Hälfte der Befragten ist zwischen 30 und 49 Jahre alt, ein weiteres gutes Drittel zwischen 50 und 59 Jahre. Zu den Bildungsvoraussetzungen ist zu bemerken, dass 25 Perso- VHN 3 | 2013 194 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag nen über keinen Schulabschluss verfügen, 13 über einen der Sonderbzw. Förderschule und gerade einmal 16 bzw. drei über einen Hauptbzw. Realschulabschluss. Mit 23 Befragten verfügen deutlich weniger als die Hälfte über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Zur Erwerbssituation ist festzuhalten, dass sich rund die Hälfte der Befragten (27) in einem regulären Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis befindet. Ein gutes Drittel ist entweder arbeitslos (17 Personen) oder im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung nach SGB III beschäftigt (fünf Personen). Zwei Interviewte haben ihre Erwerbstätigkeit eigeninitiativ aufgegeben, sechs sind berentet bzw. frühverrentet. Die Erwerbsbeteiligung im Sample entspricht Ergebnissen quantitativer Studien und lässt die verbreitete Defizitsicht auf die Zielgruppe als fraglich erscheinen. Letztere kommt auch darin zum Ausdruck, dass Selbstauskünfte funktionaler Analphabetinnen und Analphabeten angesichts der unerwartet hohen Erwerbsbeteiligung als unglaubwürdig betrachtet werden (vgl. Grotlüschen 2012, 137). Der Kontakt zu den interviewten Personen ergab sich zum einen durch die Teilnahme der Forscherinnen und Forscher an Lese- und Schreibkursen und zum anderen durch die Vermittlung von Kursleiterinnen. Die Datenerhebung erfolgte mittels einer teilstandardisierten Befragung, in der offene und geschlossene Fragen kombiniert wurden. Die diesem Beitrag zugrundeliegenden Daten wurden in einem biografisch orientierten Leitfadeninterview erhoben (vgl. Friebertshäuser 2003). Die Interviewten wurden gebeten, möglichst offen über ihre Erfahrungen im Alphabetisierungs- und Grundbildungskurs zu berichten. Ein besonderes Augenmerk galt der Frage, ob und - falls ja - in welcher Weise die Interviewten das Bildungsangebot zur Aneignung von Leseund/ oder Schreibkompetenzen in arbeitsweltlichen Zusammenhängen nutzen bzw. nutzten. Die Interviews wurden aufgezeichnet und nach den gängigen Transkriptionsregeln wortgetreu verschriftlicht. Die Auswertung erfolgte in einer Kombination von inhaltsanalytischen Verfahren (vgl. Mayring 2010) und der Grounded Theory (vgl. Strauss 1991). Die Interviews wurden codiert, um die geschilderten Erfahrungen mit Grundbildungs- und Alphabetisierungskursen fallübergreifend vergleichen und im Hinblick auf strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten ordnen zu können. Die Analyse mündete in die Rekonstruktion von pädagogischen Spannungsverhältnissen, die in Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen grundgelegt sind und bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit dezidiert arbeitsplatzorientierten Lernmotivationen besonders virulent zu sein scheinen. Dies wird nun exemplarisch an zwei Problembereichen verdeutlicht. 4 allgemeine Schriftsprachkompetenz versus arbeitsplatzbezogene Literalität Ein sich in der Studie als bedeutsam erweisendes Spannungsverhältnis bezieht sich auf die Frage, ob der Kurs die Vermittlung allgemeiner Schriftsprachkompetenzen oder die Bewältigung konkreter Literalitätsanforderungen an Arbeitsplätzen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern unterstützen sollte. Die Interviewten schildern hierzu unterschiedliche Erfahrungen. Einzelne berichten, dass sie die an ihrem Arbeitsplatz notwendigen Leseund/ oder Schreibanforderungen aktiv in den Kurs einbringen und dort mit Unterstützung der Kursleiterinnen bearbeiten, festigen und weiterentwickeln können. Kontrastierend hierzu beklagen andere, dass der Kurs trotz konkret benannter Anforderungen am Arbeitsplatz keine Gelegenheit eröffne, an diesen zu arbeiten. Dieses Problem lässt sich am Fall von Lela Jakupovic 5 (42) verdeutlichen, die den Kurs auf Empfehlung ihres Arbeitsgebers besucht. VHN 3 | 2013 195 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag Die Interviewte ist in der Blutplasma-Produktion einer Klinik tätig und muss nach einer internen Umstrukturierung bei der Verarbeitung von Blutkonserven mit fachsprachlichen Ausdrücken und Fremdwörtern umgehen und Arbeitsprozesse dokumentieren. Leseverstehen ist ebenso notwendig wie Schreiben. Der Kursleiterin wurden die konkreten Lernbedarfe vom Vorgesetzten der Interviewten bei deren Aufnahme in den Kurs mitgeteilt. Dies geschah mittels Übergabe einer Liste mit Begriffen, die im Arbeitsalltag zu beherrschen sind: „Er hat alles gefaxt, was ich da schreiben muss. Zum Beispiel, was heißt ein Komprimat, Zentrifuge, […] Thrombozyten.“ Gleichwohl eröffnet der Kurs bislang keine Gelegenheit, die Begriffe zu lernen: „Aber nur, ich lerne da nicht viel. Ich habe auch zu Conni [Kursleiterin; M. T.] gesagt: ‚Conni, mich interessiert nicht Katze, Maus, Obst, Gemüse! ‘ Ich hab gesagt, ‚das interessiert mich nicht! ‘ Ich hab gesagt, ‚hier, was mein Chef dir gefaxt hat, das muss ich lernen! ‘ I: Und was hat der gefaxt? L.: Er hat viel gefaxt. Soll ich es Ihnen zeigen? Das ist viel! Aber Conni hat bis jetzt nicht einmal zu mir gesagt, ‚Komm, wir machen das! ‘“ (Lela Jakupovic) Angesichts ihrer nicht berücksichtigten Lernbedarfe zieht die Interviewte eine negative Bilanz hinsichtlich ihres bisherigen Kursbesuchs. Den als gering eingeschätzten Lernerfolg sieht sie in den von der Kursleiterin vermittelten Lernangeboten begründet, die an ihren Bedürfnissen und Interessen vorbeigehen. Das Lesen- und Schreibenlernen vollzieht sich im Kurs offensichtlich auf einer allgemeinen Ebene: Anstelle spezifischer Fachbegriffe und Fremdwörter, welche sich die Interviewte für die Arbeit aneignen möchte, erfolgt die Vermittlung von Lese- und Schreibkompetenzen über alltagssprachliche Begriffe. Der Interviewausschnitt verweist auf eine unzureichende Passung zwischen den arbeitsplatzbezogenen Lernbedarfen der Kursteilnehmerin und dem allgemeinsprachlichen Lernangebot im Kurs. Dieses Problem reflektiert die Interviewte im Hinblick auf die spezifische Zusammensetzung der Lerngruppe: „Okay, ich arbeite alleine und die anderen arbeiten nicht. Und dann sagen sie, ‚was interessiert mich eine Zentrifuge? ‘ Da sagt jeder, ‚das interessiert mich nicht! ‘ Na ja, ich schreibe auch ein bisschen zu Hause. Ich nehme mir das Heft und dann schreibe ich, was das heißt und so. Und dann schreibe ich auch ein bisschen. Na ja, so viel Zeit habe ich auch nicht. Wenn ich nach Hause komme, dann bin ich froh, dass ich mich ein bisschen ausruhen kann.“ (Lela Jakupovic) Die Interviewte zeigt vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosenquote unter den Teilnehmenden in dem von ihr besuchten Kurs Verständnis dafür, dass in der Lerngruppe wenig Interesse für ihre spezifischen und zugleich arbeitsplatzbezogenen Lernbedarfe besteht. Sie verortet sich damit in einer besonderen Position in der Lerngruppe, die ihr letztlich zum Nachteil wird, da das Lernangebot offenbar vornehmlich auf die Interessen der übrigen Teilnehmenden zugeschnitten ist, die sich in einer anderen Lebenssituation befinden. Die Erfahrung der Interviewten verdeutlicht die Schwierigkeit, den heterogenen Teilnehmerbedürfnissen gerecht zu werden. Die übliche Strategie, bei der Kurszusammensetzung ausschließlich auf das Kompetenzniveau im Lesen und/ oder Schreiben zu achten, führt im Fall von Lela Jakupovic dazu, dass ihre spezifischen Lerninteressen nicht berücksichtigt werden. Entsprechend bleibt der Interviewten nichts anderes übrig, als sich die für ihre Arbeit relevanten Fertigkeiten selbst und ohne pädagogische Unterstützung in ihrer Freizeit anzueignen. Wenngleich ihr Arbeitgeber den Besuch des Grundbildungs- und Alphabetisierungskurses finanziert, hat Lela Jakupovic inzwischen kaum noch Motivation, das Lernangebot wahrzunehmen. Resigniert und enttäuscht stellt sie fest: „Und für VHN 3 | 2013 196 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag das hab ich auch keine Lust mehr dahin zu gehen. Es ist egal, was die sagen. Aber ich hab keine Lust mehr.“ In Lela Jakupovics Fall zeigt sich ein grundsätzliches Problem, das nicht nur in der Grundbildungs- und Alphabetisierungspraxis, sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs um Literalität durchaus kontrovers diskutiert wird. Kann man komplexe Fachbegriffe, wie sie am Arbeitsplatz der Interviewten gefragt sind, tatsächlich lernen, ohne sich zuvor allgemeinsprachliche und grundlegende Kenntnisse anzueignen? In dieser Frage kommen unterschiedliche Sichtweisen von Literalität zum Ausdruck: Im sogenannten autonomen Modell wird Literalität als eine allgemeine, grundlegende und weitgehend kontextunabhängige Kulturtechnik verstanden. Die Vermittlung von Schriftsprachkompetenz bezieht sich demzufolge auf Fertigkeiten, die dem Lesen und Schreiben zugrunde liegen. Im ideologischen Modell wird Literalität demgegenüber als eine soziale Praxis gesehen, die entscheidend vom jeweiligen Kontext und Lebensbereich abhängt. Demzufolge ist zwischen verschiedenen Literalitäten zu unterscheiden, und die Vermittlung von Schriftsprachkompetenz vollzieht sich über das Einüben von sozialen Praxen, die sich am jeweiligen Kontext der Lernenden orientieren (vgl. Linde 2008, 61ff). In der didaktischen Logik einer allgemeinen und stufenweise voranschreitenden Schriftsprachvermittlung stünden fachsprachliche Begriffe und Fremdwörter wohl erst nach längerer Zeit und vornehmlich in Kursen für Fortgeschrittene auf dem Lehrplan. Im Hinblick auf die gegenwärtig von ihr geforderte Handlungsfähigkeit am Arbeitsplatz benötigt Lela Jakupovic jedoch weniger den Erwerb einer möglichst grundlegenden und umfassenden Schreibkompetenz. Ihr Lernbedarf fokussiert sich auf die Aneignung eines klar eingrenzbaren Wortschatzes, der zur Erledigung ihrer Arbeit notwendig ist. Diese Fach- und Fremdwörter müsste sie wie Vokabeln auswendig lernen und trainieren. Ein solches Lernziel ist zweifelsfrei ein anderes als die Vermittlung einer elaborierten Lese- und Schreibkompetenz, ein Lernprozess, der nach Auskunft erfahrener Kursleitender durchaus mehrere Jahre beanspruchen kann. Fälle wie der von Lela Jakupovic werfen die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von allgemeiner und arbeitsplatzbezogener Schriftsprache in Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen auf: Hat die allgemeine Schriftsprache Vorrang vor einer berufs- und arbeitsweltbezogenen? Oder ist es denkbar, dass mit der Aneignung von fachlichen Schriftsprachkompetenzen zugleich auch allgemeinsprachliche Fertigkeiten erworben werden? 5 nachholende Förderpädagogik versus lebenslagenbezogene Weiterbildung Ein weiteres Spannungsfeld, das mit dem eben beschriebenen zusammenhängt, in seiner Bedeutung jedoch darüber hinausweist, bezieht sich auf die Frage nach dem grundsätzlichen Verständnis von Grundbildung und der Sicht auf die Teilnehmer/ innen. Evident wird dieses Thema in Interviews, in denen die Befragten ihre Position als Kursteilnehmende reflektieren. Mehrere Interviewte berichten, dass sie sich von Kursleiterinnen weniger als „Erwachsene“, sondern vielmehr als „Kinder“ behandelt erleben. So beklagt sich die bereits oben zitierte Lela Jakupovic hinsichtlich des mangelnden Interesses der Kursleiterin an ihren Lernbedarfen: „Aber sie hat mir bis jetzt noch nie das gezeigt, wie das geschrieben wird. Sie schreibt immer Katze, Maus. Ich sag, ‚was hab ich damit zu tun? Wir sind keine kleinen Kinder! ‘“ Die von der Interviewten empört zurückgewiesene doppelte Degradierung der Lernenden zu „kleinen Kindern“ kann auf unterschiedliche Aspekte bezogen sein. So könnten die im Kurs behandelten Lernthemen und Lerngegenstände gemeint sein - möglich, dass VHN 3 | 2013 197 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag die zitierten Begriffe „Katze“ und „Maus“ Lernmaterial repräsentieren, das aus Sicht der Kursteilnehmerin eher für den Schriftspracherwerb von Kindern geeignet ist. Denkbar ist auch, dass die Aussage auf das ausgeprägte Autoritätsgefälle zwischen Kursleiterin und Lernenden verweist und der Vergleich mit „kleinen Kindern“ die tendenziell unmündige Position der Lernenden problematisiert. Das von der Interviewten beschriebene Übergehen ihrer Lernmotivation lässt das Lernarrangement in der Tat als in hohem Maße fremdbestimmt erscheinen. Auch der ehemalige Teilnehmer Frank Haas (49), der vor einigen Jahren den Kurs neben seiner Tätigkeit als Koch besucht hatte, um seine Lese- und Schreibfertigkeiten zu pflegen, beklagt einen nicht erwachsenengerechten Umgang mit Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern: „Ich habe immer so das Gefühl, wenn ich in solche Kurse reinkomme, man wird nicht als Erwachsener behandelt, sondern mehr wie ein zurückgebliebenes Kind sage ich jetzt mal. Das habe ich jetzt in einigen Sachen auch schon gemerkt, dass einige etwas ältere Leute nicht behandelt werden wie erwachsene Leute eben. Sondern eben als Handlanger, die von nichts eine Ahnung haben. Und das war eben und so werden die dann auch behandelt. Also da könnte ich manchmal an die Decke hochgehen.“ (Frank Haas) Die Behandlung von Kursteilnehmenden als Kinder beinhaltet in der Schilderung von Herrn Haas neben der Aberkennung des Erwachsenenstatus noch eine weitere Konnotation: Implizit verweist der Interviewte darauf, dass der Eintritt in einen Lese- und Schreibkurs der Zuweisung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs gleichkommt. Der funktionale Analphabetismus wird in der Äußerung des Interviewten mit einer geistigen bzw. kognitiven Retardierung gleichgesetzt, die offenbar im Umgang der Lehrkräfte mit Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern zum Ausdruck kommt („wie ein zurückgebliebenes Kind“). Eingeschränkte Schriftsprachkompetenz wird in dieser Perspektive als Ausdruck einer Entwicklungsverzögerung interpretiert und somit pathologisiert. Der Interviewte rekurriert demzufolge auf eine entwicklungspsychologische Sicht, nach der die Beherrschung bestimmter Leseund/ oder Schreibkompetenzen an festgelegte Altersnormen geknüpft ist. Den erwachsenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen fehlt es demnach an Fertigkeiten, über die bereits ‚normal‘ entwickelte Kinder in einem bestimmten Lebensalter verfügen (zur Debatte um kindliche Entwicklungsnormen vgl. Kelle/ Tervooren 2008). Damit rekapituliert der Interviewte eine Defizitsicht auf die Kursteilnehmenden, die Parallelen zum sonderpädagogischen Diskurs um Lernbehinderung aufweist: Angesichts spezifischer Probleme im Lesen und/ oder Schreiben werden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auch weitere, darüber hinausgehende (kognitive) Kompetenzen abgesprochen („von nichts eine Ahnung“). Ähnlich wie in der Wahrnehmung von Lela Jakupovic erscheinen auch in der Interpretation von Frank Haas Teilnehmende an Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen in einer tendenziell bevormundeten und passiven Position („als Handlanger“). Die Tendenz, dass Lehrende eine besonders aktive Rolle im Unterricht übernehmen und Lernenden eine eher passive Rolle zuweisen, wird als ein klassisches Problem sonderpädagogischer Förderung beschrieben, das historisch bis zu den Anfängen der Hilfsschule zurückreicht, aber auch in der gegenwärtigen Förderpraxis keineswegs gelöst zu sein scheint (vgl. Werning/ Lütje-Klose 2012, 102). In diesem Zusammengang wird insbesondere auch auf das gegenwärtig für die Alphabetisierung und Grundbildung besonders relevante Problem der Testdiagnostik verwiesen, die in eine hierarchische Prüfungssituation mündet, „in VHN 3 | 2013 198 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag der Dialog und gemeinsames Überlegen gerade nicht gefragt sind, sondern als problematische, qualitätsmindernde Störvariablen angesehen werden“ (Boban/ Hinz 2007, 132). Die sonderpädagogisch gefärbte Wahrnehmung von funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten birgt erhebliches Stigmatisierungspotenzial, wie in der folgenden Aussage des interviewten Frank Haas deutlich wird: „Damit ist die Würde ganz hoch angegriffen und dann hat man auch keine Lust mehr, das weiter zu machen. Dann vergeht einem die Lust, gerade wenn man das auf einer freiwilligen Basis macht, sach ich jetzt mal, um sich selber zu fördern. Da muss einem klar sein, das ist ein erwachsener Mensch, der hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Dem muss man anders begegnen. Und das machen die meisten halt nicht.“ (Frank Haas) Nach Auffassung des Interviewten hat der beschriebene Umgang mit Lernenden im Kurs weitreichende Auswirkungen und untergräbt zudem die Lernmotivation. Im Interviewzitat manifestiert sich eindrücklich, dass das Konzept einer an Defiziten ansetzenden nachholenden Förderpädagogik im Widerspruch zu einer lebenslagenbezogenen Weiterbildung steht, in der den Lernenden eine grundsätzlich aktive Rolle zukommt („sich selber fördern“): Nicht die als unzureichend eingeschätzten Kompetenzen im Lesen und/ oder Schreiben, sondern die vielfältigen Lebenserfahrungen der Teilnehmer/ innen wären hier Anknüpfungspunkt für das erwachsenenbildnerische Handeln. Die bzw. der Lernende sollte entsprechend vor dem Hintergrund ihrer bzw. seiner Biografie und Lebensleistung anerkannt und wertgeschätzt werden („schon ein paar Jahre auf dem Buckel“). Hierzu ist ein sonderpädagogisch geprägter Umgang, der mit Ansätzen und Methoden operiert, die selbst im schulischen Kontext problematisiert werden, schwerlich geeignet. Vielmehr besteht die Gefahr von biografisch ähnlich folgenreichen Stigmatisierungseffekten, über die Adressaten sonderpädagogischer Förderung im Förderschwerpunkt Lernen eindrücklich berichten (vgl. Orthmann 2004). 6 ausblick auf eine reflexive und arbeitsplatzorientierte grundbildung Der hier nur exemplarisch mögliche Blick auf bislang wenig wahrgenommene kritische Stimmen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen legt eine Modifizierung der eingangs dargestellten Debatten um Professionalität nahe. Dort wird behauptet, die besondere Autorität der Kursleiterinnen und -leiter würde von Teilnehmer/ innenseite aus nicht problematisiert. Offensichtlich gilt dies jedoch nicht für alle Teilnehmer/ innen, auch wenn in unserem Sample etliche mit dem Bildungsangebot zufrieden waren. Gleichwohl verweisen die Befunde auf Stigmatisierungspotenzial im Feld der Alphabetisierung und Grundbildung, das offenbar insbesondere dann wirksam wird, wenn sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer primär auf ihre psychosozialen Belastungen (sozialpädagogischer Blick) oder diagnostizierten Förderbedarfe (sonderpädagogischer Blick) reduziert und nicht als bildungsmotivierte Erwachsene in ihren individuellen Biografien und Lebenslagen wertgeschätzt erleben. In Bezug auf professionelles Handeln lässt sich aus den Befunden die Notwendigkeit einer konsequenten Orientierung an erwachsenengerechten Lehr- und Lernformen ableiten. Zudem gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass sich die Idee von lebenslangem Lernen, die selbstverständlich auch für Grundbildungsinhalte gilt, nur schwer mit einer normativen Sicht verträgt, die den Erwerb von Schriftsprache oder mathematischen Grundfertigkeiten als Entwicklungsaufgabe der Kindheit postuliert. Ein entsprechender Lernbedarf bei Erwachsenen erscheint in dieser Perspektive als tendenziell illegitim. VHN 3 | 2013 199 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag Eine weitere, ganz wesentliche Anforderung an das professionelle Handeln besteht in der Notwendigkeit, eine reflexive Distanz gegenüber tradierten Bildern von vermeintlich typischen Merkmalen funktionaler Analphabetinnen und Analphabeten einzunehmen. Ansonsten besteht die Gefahr von unreflektierten und folgenreichen Vereinfachungstendenzen bei der Anwendung abstrakter Professionskategorien auf Einzelfälle (vgl. Schütze 1996, 187). Diese manifestieren sich in normalisierenden und zugleich trivialisierenden Typisierungen, durch die Fachpersonen in ihrem Handeln die ‚Illusion‘ von Vertrautheit herstellen: Die einzigartige und für Kursleitende zunächst immer auch fremde Lebensgeschichte von Menschen mit eingeschränkten Leseund/ oder Schreibkenntnissen wird durch die Diagnose des funktionalen Analphabetismus allzu schnell zu einem ‚Fall‘ von etwas vermeintlich Bekanntem. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer drohen als eine homogene Personengruppe mit ganz ähnlichen Problemen wahrgenommen zu werden. Die Lernbedarfe und Interessen von Menschen, die den verbreiteten (Defizit-)Bildern von funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten nicht entsprechen, etwa weil ihnen entgegen üblicher Erwartungen eine langfristige und zugleich auch zufriedenstellende Teilhabe am Erwerbsleben gelingt, geraten unter solchen Voraussetzungen leicht aus dem Blick. Zweifelsohne gilt es zu berücksichtigen, dass viele Kursleitende nur nebenamtlich und auf Honorarbasis tätig sind. Zudem besteht erst seit relativ kurzer Zeit die Möglichkeit einer qualifizierten Weiterbildung in Form eines berufsbegleitenden Masterstudiengangs für Alphabetisierung und Grundbildung an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Erfreulicherweise hat arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung dort Eingang in das Curriculum gefunden. Neben pädagogischer Professionalität ist durch die hier diskutierten Befunde auch die Frage nach inhaltlicher Diversität der Alphabetisierung und Grundbildung angesprochen. Wie bereits erwähnt suchen funktionale Analphabetinnen und Analphabeten aus sehr unterschiedlichen Motiven Kurse auf. Einige möchten schriftsprachliche Kompetenzen erwerben, welche sie für die Kommunikation in privaten Lebenszusammenhängen (Chatten, SMS-Schreiben etc.) benötigen. Andere möchten ihren Kindern Unterstützung bei den Hausaufgaben bieten. Bei weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern ist der Kursbesuch weniger durch Lerninteressen als durch den Wunsch nach Austausch mit Gleichgesinnten und sozialer Unterstützung motiviert. Derartige Motivationen für die Inanspruchnahme von Alphabetisierungs- und Grundbildungsangeboten sind im Kurs nicht ohne Weiteres mit den Bildungsbedürfnissen von Teilnehmer/ innen vereinbar, die Kompetenzen zur Bewältigung literaler Anforderungen am Arbeitsplatz erwerben möchten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach einer angemessenen konzeptionellen und didaktischen Gestaltung dezidiert arbeitsplatzorientierter Grundbildung und Alphabetisierung. In Abhängigkeit von Region, Arbeitsmarktsituation, Größe des Bildungsanbieters sind in der Praxis zweifelsohne unterschiedliche Varianten notwendig und vorstellbar. Eine Möglichkeit bilden branchenspezifische Grundbildungs- und Alphabetisierungskurse, die für Mitarbeiter/ innen bestimmter Tätigkeitsbereiche angeboten werden. Ein solches Lernarrangement bietet den Vorteil, dass es ganz gezielt auf spezifische Tätigkeiten und die dort notwendigen Fertigkeiten hin zugeschnitten werden kann. Denkbar ist, dass ein solches Bildungsangebot in Kooperation mit Firmen umgesetzt wird. Dies böte den Vorteil, dass das Lernarrangement als Teil betrieblicher Weiterbildung verstanden und in die Arbeitszeiten der Teilnehmer/ innen integriert werden könnte. Eine andere Variante ist das Training arbeitsweltbezogener Grundbildungskompetenzen, das durchaus auch branchenübergreifend organisiert werden kann und sich somit an eine brei- VHN 3 | 2013 200 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag tere Zielgruppe wendet. Dieser Ansatz zielt auf die Förderung einzelner Kompetenzen wie bestimmte arbeitsweltrelevante Schreib- und Lesetechniken (z. B. Umgang mit Formularen), Rechenoperationen oder den Umgang mit spezifischen Computerfunktionen, die in unterschiedlichen Branchen und Tätigkeitsfeldern bedeutsam sind. Ein solches Kursangebot geht also weniger von spezifischen Arbeitsplätzen als vielmehr von relevanten Grundbildungsfertigkeiten aus, die in der Arbeitswelt von Bedeutung sind. Arbeitsplatzanalysen, welche konkrete Grundbildungsbedarfe in unterschiedlichen Branchen ermitteln, müssten Gegenstand der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden in der Grundbildungs- und Alphabetisierungspraxis werden. Alternativ sind lebenslagen- und lebensweltorientierte Lernarrangements denkbar, in denen die Arbeitswelt nur ein Lernfeld neben anderen darstellt. Eine solche Strategie kann insbesondere im Fall von kleinen und eher ländlich verorteten Volkshochschulen und Bildungsträgern sinnvoll sein, die den heterogenen Teilnehmerinteressen nur mit einem begrenzten Angebot an Grundbildungs- und Alphabetisierungskursen begegnen können. Arbeitsweltliche Themen werden in einem solchen Bildungsangebot im Verlauf des Semesters zwar immer wieder, aber gleichwohl nur in einem begrenzten Maße behandelt. Die Arbeitswelt bildet im lebenslagenorientierten Lernarrangement damit nur einen Teil von Alltagswelt, an der das Lernen orientiert wird. Als vorstellbar erscheint vor diesem Hintergrund auch die Bearbeitung von Lernthemen, die über die Arbeitswelt hinausgehend in verschiedenen Alltagsbereichen eine Rolle spielen. Dies könnten z. B. Sicherheits- und Verkehrszeichen ebenso sein wie bestimmte Funktionen am Computer. Gleichwohl setzt auch die Durchführung eines derart konzipierten Bildungsangebots fundiertes Wissen um Grundbildungsanforderungen in der Arbeitswelt aufseiten der Lehrenden voraus und fordert zudem dazu auf, regelmäßig zu reflektieren, ob alle Alltagsbereiche - und damit auch die Arbeitswelt - in angemessener Weise Berücksichtigung finden. anmerkungen 1 Vgl. Beschreibung des Förderschwerpunkts „arbeitsplatzorientierte alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (http: / / www.bmbf.de/ de/ 426.php, 4. 12. 2012). 2 Die Untersuchung wurde im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojektes (GRa- WIRa - Grundbildung, alphabetisierung, Wirtschaft und arbeit, Förderkennzeichen 01aB07 2203) an der Goethe-Universität Frankfurt am Main unter der leitung von Prof. Dr. Joachim Schroeder (inzwischen Universität Hamburg) durchgeführt. Der abschlussbericht liegt als Buchpublikation vor (Bindl u. a. 2011). 3 auf die Frage, ob und inwieweit Kursleitende ohne sozialpädagogische Qualifikation tatsächlich professionell sozialpädagogische Hilfe anbieten können und welche Rahmenbedingungen hierzu notwendig wären (z. B. kollegiale Fallberatung oder Supervision), kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 4 Fritz Schütze verweist in seinen Überlegungen zum professionellen Handeln auf systematische Fehler in der arbeit von Fachpersonen, die aus der Missachtung des spezifisch paradoxen anforderungscharakters professioneller Tätigkeit resultieren und im professionellen alltag immer wieder zu reflektieren, jedoch nicht gänzlich aufzuheben sind (vgl. Schütze 1996, 186f). 5 Die Namen von Interviewten und in Interviews genannten Personen wurden im Sinne einer umfassenden anonymisierung verändert. Literatur Bindl, anne-Kristin; Schroeder, Joachim; Thielen, Marc (2011): arbeitsrealitäten und lernbedarfe wenig qualifizierter Menschen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt VHN 3 | 2013 201 MaRc THIElEN arbeitsplatzorientierte alphabetisierung FaChB E iTR ag Bindl, anne-Kristin; Thielen, Marc (2011): Biografisches (Wieder-)Entdecken formellen lernens - Entscheidungsprozesse Erwachsener zur Inanspruchnahme von Grundbildung. In: VHN 80, 215 -225 Bittlingmayer, Uwe H.; Drucks, Stephan; Gerdes, Jürgen; Bauer, Ullrich (2010): Die Wiederkehr des funktionalen analphabetismus in Zeiten wissensgesellschaftlichen Wandels. In: Quenzel, Gudrun; Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten. Wiesbaden: VS Verlag, 341 -374 Boban, Ines; Hinz, andreas (2007): Förderpläne für integrative Erziehung überflüssig! ? aber was dann? ? In: Mutzeck, Wolfgang (Hrsg.): Förderplanung. Grundlagen, Methoden, alternativen. 3. aufl. Weinheim: Beltz, 131 -144 Döbert, Marion; Hubertus, Peter (2000): Ihr Kreuz ist die Schrift. analphabetismus und alphabetisierung in Deutschland. Stuttgart: Ernst Klett Egloff, Birte (2011): Kurs ohne Übergang? 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München: Reinhardt anschrift des autors Prof. Dr. Marc Thielen Universität Bremen Institut Technik und Bildung (ITB) Am Fallturm 1 D-28359 Bremen Tel.: ++49 (0) 4 21 21 86 62 90 E-Mail: m.thielen@uni-bremen.de
