Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Auf dem Weg zu einer nationale Grenzen überschreitenden europäischen Heil- und Sonderpädagogik
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Ferdinand Klein
Beim 1. Kongress für Heilpädagogik, der 1922 im großen Hörsaal der Psychiatrischen Klinik der Universität München unter der Leitung von Egenberger, Isserlin und Goepfert stattfand und an dem vor allem Ärzte, Lehrer, Psychologen, Jugendrichter und Berufsberater aus verschiedenen Ländern Europas teilnahmen, wurde die Gesellschaft für Heilpädagogik gegründet.
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242 Auf dem Weg zu einer nationale Grenzen überschreitenden europäischen Heil- und Sonderpädagogik Ferdinand Klein Bad Aibling Trend VHN 3 | 2013 Vorläufer Beim 1. Kongress für Heilpädagogik, der 1922 im großen Hörsaal der Psychiatrischen Klinik der Universität München unter der Leitung von Egenberger, Isserlin und Goepfert stattfand und an dem vor allem Ärzte, Lehrer, Psychologen, Jugendrichter und Berufsberater aus verschiedenen Ländern Europas teilnahmen, wurde die Gesellschaft für Heilpädagogik gegründet. Sie gab sich den Untertitel „Arbeitsorganisation und Forschungsinstitution für Heilpädagogik, Kongress für Heilpädagogik“. Die Gesellschaft richtete bis 1930 fünf Kongresse aus. Beim 1. Kongress wurde der österreichische Heilpädagoge Theodor Heller zum Ehrenvorsitzenden der Gesellschaft gewählt. Die Gesellschaft organisierte ebenfalls in München den 2. Kongress für Heilpädagogik (1924) und auch den 3. Kongress für Heilpädagogik (1926), der rund 700 Teilnehmer aus dem In- und Ausland verzeichnete (Lotz 2002, 121ff). Im Grunde handelt es sich bei diesen Kongressen um die Anfänge einer internationalen heilpädagogischen Bewegung, die mit dem am 18. April 1937 in Budapest gegründeten Dachverband „Internationale Gesellschaft für Heilpädagogik (Orthopädagogik)“ ihren sichtbaren Ausdruck fand und mit den Namen Heinrich Hanselmann, Theodor Heller und Zoltan von Tóth eng verbunden ist. Ihr Präsident Hanselmann hat in der Zeit des sich ausbreitenden Nazi-Terrors die ungarische Heilpädagogik an der von Tóth geleiteten Budapester Hochschule als Beispiel für die anderen Mitgliedsländer gewürdigt. In sein System baute Tóth „auch eine allgemeine Sozialpolitik für das Behindertenwesen mit ihren ökonomischen und ökologischen Grundlagen ein, was heute in den systemisch-ökologischen und gesellschaftskritischen Ansätzen diskutiert wird“ (Klein/ Zászkaliczky 2009, 12). Der Arbeitsausschuss der Internationalen Gesellschaft organisierte 1939 in Genf den 1. Internationalen Kongress für Heilpädagogik, den der Hauptinitiator der Idee der Internationalisierung der wissenschaftlichen Heilpädagogik, der Jude Theodor Heller, nicht mehr erlebte. An diesem Kongress nahmen 350 Personen aus „vier Erdteilen und 32 Ländern teil“. Hanselmann, Leiter des Kongresses, hob hervor, dass durch diese Veranstaltung der noch jungen wissenschaftlichen Disziplin Heilpädagogik „international Gehör und international Geltung“ verschafft werden soll. Sie muss am „Wiederaufbau der Kultur“ zentral beteiligt sein, denn sie thematisiert grundlegende Fragen des Menschseins und hat in ihr Selbstverständnis die Medizin, Psychologie und Sozialwissenschaften zu integrieren (Hoyningen-Süess 2005, 20 und 31). Diese ganzheitliche Konzeption der Professionalisierung der Heilpädagogik wurde nach dem 2. Weltkrieg in der BRD nicht weiterge- VHN 3 | 2013 243 FerdiNaNd KleiN Grenzüberschreitende europäische Heil- und Sonderpädagogik Trend führt. Es entwickelten sich verschiedene Teildisziplinen. Im Zuge der Bildungsreform verengte sich der Blickwinkel der Heilpädagogik zur Sonderschulpädagogik, zur schulischen Integrations- und Inklusionspädagogik. Und die außerschulische Heilpädagogik wurde zunehmend marginalisiert. Kanter bezeichnet diese Neuanfänge als „Vorläufer-Entwicklungen“ (Kanter 1994, 157) der Dozententagungen. neubeginn mit den dozententagungen in der Bundesrepublik deutschland? 1. Phase Die erste Arbeitstagung der Lehrenden an Sonderpädagogischen Studienstätten in der BRD fand 1960 am Institut für Sonderpädagogik in Marburg statt. Sie widmete sich den „Studien- und Ausbildungsfragen für Sonderschullehrer“ (Kanter 1994, 151). Diese Tagungen, die ab 1965 in der Regel jährlich und jeweils wechselnd an verschiedenen Studienstätten ausgerichtet wurden, verstanden sich vor allem als Forum zum Gedankenaustausch über aktuelle Studienfragen, notwendige Koordinationsprozesse und Forschungsergebnisse. Zunehmend deutlicher wurden Tagungsthemen formuliert, die sich integrativen Konzepten und behinderungsübergreifenden Themen mit dem Blick auf eine „Heilpädagogische Gesamtwissenschaft“ widmeten und den Anschluss an die heilpädagogische Tradition suchten. Da viele Dozenten und Dozentinnen der Sonderpädagogischen Studienstätten zugleich Mitglieder der „Kommission Sonderpädagogik“ der 1964 gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ (DGfE) waren, wurde von 1968 an die Ausrichtung der Tagungen gemeinsam mit der DGfE- Kommission Sonderpädagogik durchgeführt. Die Fachkongresse widmen sich verstärkt dem Austausch von Forschungsergebnissen und Diskussionen über Studium und Lehre. Die ursprünglich rein bundesrepublikanischen Kongresse öffneten sich mehr und mehr dem deutschsprachigen Raum mit schweizerischen und österreichischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Die 30. Arbeitstagung fand vier Jahre nach der Systemwende 1993 an der weltweit ältesten Hochschule für Heilpädagogik in Budapest und damit erstmals in ihrer Geschichte außerhalb des deutschen Sprachraums statt. Das Tagungsthema „Sonderpädagogik im Prozess der europäischen Integration“ weist auf die enge Verflechtung des Teilsystems Heil- und Sonderpädagogik mit dem politischen und gesellschaftlichen System hin (Amrein/ Zászkaliczky 1994). In seinem Rückblick auf die Geschichte der Dozententagungen betont Gustav Kanter abschließend, dass die Tagungen eine wichtige Basis „für notwendigen Informationsaustausch, Willensbildung, Abstimmungsprozeduren und die Formulierung von Zielperspektiven, nicht etwa nur nationalbestimmt, sondern europa- und weltweit“ bieten (Kanter 1994, 165). 2. Phase Auf dieser Basis wurde 2002 an der Masaryk- Universität Brno (Tschechien) die 39. Arbeitstagung „Integrations- und Sonderpädagogik in Europa“ konzipiert, an der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus sechs europäischen Ländern teilnahmen (Sasse u. a. 2004, 11) und in einer längeren Diskussionsrunde Perspektiven des internationalen Forschungsdialogs erörterten. Es bildete sich eine Initiativgruppe, die an der Gusztáv-Bárczi-Fakultät für Heilpädagogik der Eötvös-Loránd-Universität Budapest das Konzept des 1. Symposions „Aspekte internationaler Heil-/ Sonderpädagogik“ erarbeitete 1 . Das Symposion fand 2004 an der Hochschule Görlitz statt. Das 2. Symposion zur Internationalen Heil- und Sonderpädagogik wurde 2006 in Kombina- VHN 3 | 2013 244 FerdiNaNd KleiN Grenzüberschreitende europäische Heil- und Sonderpädagogik Trend tion mit der 43. Arbeitstagung der Dozenten und Dozentinnen der Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern an der Universität Wien durchgeführt. Das 3. Symposion veranstaltete 2007 die Hochschule für Heilpädagogik Zürich, an das sich die von der Universität Zürich organisierte 44. Dozententagung unmittelbar anschloss. Dem 4. Symposion an der Universität Oldenburg 2008 folgte keine Dozententagung. Und dem 5. Symposion 2011, das ebenfalls an der Universität Oldenburg stattfand, schloss sich wiederum unmittelbar die 47. Dozententagung an 2 . Forschungsperspektiven n Es erscheint geboten, die Motive der Tagungen auf der Grundlage der Kongressberichte und Tagungsbände zu analysieren und für den Ost-West-Dialog bewusst zu machen. Diese primär ideengeschichtliche Forschung sollte einer Haltung entspringen, die von der Idee und Bereitschaft getragen ist, Europa als Kulturraum weiterzuentwickeln. Dabei wäre der Historiker und Soziologe Wolf Lepenies, der Europa als „kulturelle Lerngemeinschaft“ (Lepenies 2006) versteht, zu beachten. n Bei dieser perspektivischen Analyse ist zu sehen, dass der europäischen Heil- und Sonderpädagogik neue Aufgaben zufallen, wenn es gilt, das scheinbar Unvergleichbare zu vergleichen und im interkulturellen Austausch zu lernen. Wohl gibt es zahlreiche Aktivitäten auf dem Gebiet der Heil- und Sonderpädagogik, die der Globalisierung und Internationalisierung Rechnung tragen, aber zu wenige Auseinandersetzungen darüber, was denn die konstitutiven Elemente der länder- und kulturspezifischen Fachdisziplinen sind. Bei der Erörterung dieser Fragen ist darauf zu achten, dass gerade die westlich-rationale Denkweise sich nicht als universal gültig sieht und ihre Maßstäbe und Weltsichten an der Kultur des jeweils anderen Landes prüft. Dieser implizite Universalismus ist bei der eigenen Wirklichkeitskonstruktion kritisch zu hinterfragen und in eine Kultur des partnerschaftlichen Dialogs zu wandeln. Alois Bürli bringt den erforderlichen Wandel auf den Punkt: „Durch das sich Einlassen auf das/ den Andere(n) werden Denk- und Handlungsgewohnheiten hinterfragt und relativiert. Dadurch wird Internationale Heilpädagogik zum Mittel gegen Dogmatismus, gegen Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit, gegen die Arroganz, die eigenen Ideen und Praktiken zum allgemein gültigen Modell zu erklären. Dies alles stellt allerdings hohe Anforderungen an die persönliche Offenheit, Risikofreudigkeit und Tragfähigkeit.“ (Bürli 2006, 12) Anmerkungen 1 die initiativgruppe formulierte im dezember 2004 auch eine Konzeption zur „institutionalisierung von Theoriebildung und Methodologie international vergleichender Heil- und Sonderpädagogik“, die das von Walter Bachmann im Jahre 1990 vorgestellte Konzept „internationales europäisches Zentrum für Heilpädagogik“ weiterführte (Klein 2012). 2 die Symposien sind in fünf Tagungsbänden (Verlag Klinkhardt) dokumentiert. Literatur amrein, Christina; Zászkaliczky, Péter (1994): die Sonderpädagogik im Prozess der europäischen integration. VHN 63, VHN-Sonderheft Bürli, alois (2006): internationale Heilpädagogik: Ja gerne - nein danke! in: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 12, Heft 7/ 8, 7 -13 Hoyningen-Süess, Ursula (2005): der Kongress der internationalen Gesellschaft für Heilpädagogik in Genf 1939. in: Berufsverband der Heilpädagogen e. V. (Hrsg.): Heilpädagogik in Praxis, Forschung und ausbildung. Berlin: BHP- Verlag, 20 -35 VHN 3 | 2013 245 FerdiNaNd KleiN Grenzüberschreitende europäische Heil- und Sonderpädagogik Trend Kanter, Gustav O. (1994): rückblick auf die Geschichte der dozententagungen - Heilpädagogik wieder auf dem Weg nach europa. in: VHN 63, 151 -166 Klein, Ferdinand (2012): Privates archivmaterial zur internationalen Heil- und Sonderpädagogik Klein, Ferdinand; Zászkaliczky, Péter (2009): entwicklung und Perspektiven der ungarischen Heilpädagogik im europäischen Kontext. in: Zeitschrift für Heilpädagogik 60, 11 -19 lepenies, Wolf (2006): Kultur und Politik. München: Hanser lotz, dieter (2002): Theodor Heller (1869 -1938). in: Buchka, Maximilian; Grimm, rüdiger; Klein, Ferdinand (Hrsg.): lebensbilder bedeutender Heilpädagoginnen und Heilpädagogen des 20. Jahrhunderts. 2. aufl. München: reinhardt, 111 -128 Sasse, ada; Vitková Marie; Störmer Norbert (Hrsg.) (2004): integrations- und Sonderpädagogik in europa. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Anschrift des Autors Prof. em. dr. dr. et Prof. h. c. Ferdinand Klein Mühlmoosstraße 2 D-83043 Bad Aibling ferdinand.klein1@gmail.com
