Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2013.art12d
101
2013
824
Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion?
101
2013
Rainer Benkmann
Solveig Chilla
Der bildungssoziologische Beitrag „Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion?“ führt in den Themenstrang „Inklusion und Pädagogische Profession“ ein. Er geht der Frage nach, warum die politischen Eliten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) so viel Bedeutung beimessen. Wir vermuten: Seit Beginn der Bundesrepublik gab es keinen vergleichbaren gesellschaftlichen Zustand, in dem ganze Bevölkerungsgruppen in dem Maße an den Rand gedrängt oder exkludiert waren wie heute. Teile der politischen Elite hoffen, durch die Umsetzung der UN-BRK mit ihrer prioritären Zielsetzung der Inklusion von Menschen mit Behinderungen einen Mitzieheffekt hinsichtlich der Inklusion anderer exkludierter Minderheiten zu erzeugen, um den Zusammenhalt der Gesellschaft wieder zu stärken. Von Inklusion sind nach der UN-BRK alle gesellschaftlichen Bereiche betroffen, unter anderem auch der Bildungsbereich. Die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems, vor allem einer inklusiven Schule, sollte sich an den zentralen Prinzipien „Anerkennung der Abhängigkeit“, also Gemeinschaft, und „Gerechtigkeit“ orientieren und ist erfolgreich, wenn sich pädagogische Professionen entsprechend verändern.
5_082_2013_4_0002
283 VHN, 82. Jg., S. 283 -293 (2013) DOI 10.2378/ vhn2013.art12d © Ernst Reinhardt Verlag Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? Rainer Benkmann Universität Erfurt Solveig Chilla Pädagogische Hochschule Heidelberg Zusammenfassung: Der bildungssoziologische Beitrag „Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? “ führt in den Themenstrang „Inklusion und Pädagogische Profession“ ein. Er geht der Frage nach, warum die politischen Eliten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) so viel Bedeutung beimessen. Wir vermuten: Seit Beginn der Bundesrepublik gab es keinen vergleichbaren gesellschaftlichen Zustand, in dem ganze Bevölkerungsgruppen in dem Maße an den Rand gedrängt oder exkludiert waren wie heute. Teile der politischen Elite hoffen, durch die Umsetzung der UN-BRK mit ihrer prioritären Zielsetzung der Inklusion von Menschen mit Behinderungen einen Mitzieheffekt hinsichtlich der Inklusion anderer exkludierter Minderheiten zu erzeugen, um den Zusammenhalt der Gesellschaft wieder zu stärken. Von Inklusion sind nach der UN-BRK alle gesellschaftlichen Bereiche betroffen, unter anderem auch der Bildungsbereich. Die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems, vor allem einer inklusiven Schule, sollte sich an den zentralen Prinzipien „Anerkennung der Abhängigkeit“, also Gemeinschaft, und „Gerechtigkeit“ orientieren und ist erfolgreich, wenn sich pädagogische Professionen entsprechend verändern. Schlüsselbegriffe: Inklusion, Exklusion, UN-Behindertenrechtskonvention, inklusives Bildungssystem, Gemeinschaft, pädagogische Profession Inclusion in the Context of Social Exclusion? Summary: Taking a sociological account, this paper introduces to the VHN-series on “Inclusion and Educational Profession”. We discuss the priorities given to the UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities (UN-CRPD) by the political elites. We hypothesize: Since the beginning of the Federal Republic of Germany, the social status has changed to marginalisation and exclusion of whole population groups. Sections of the political elite may use the UN-CRPD, what originally aims at inclusion of people with disabilities, to extend inclusionary criteria to other excluded minorities. Thus, the cohesion of society may be strengthened. Inclusion concerns all aspects of society, amongst others the area of education. An inclusive educational system should realign on the major principles “acceptance of subjection” and “justice”. It succeeds if educational professions change correspondingly. Keywords: Inclusion, exclusion, UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities, inclusive education, society, educational profession FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Inklusion und Pädagogische Profession VHN 4 | 2013 284 RAINER BENKMANN, SOLVEIG CHILLA Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? FACH B E ITR AG 1 UN-Behindertenrechtskonvention Deutschland soll sich zu einer inklusiven Gesellschaft entwickeln. Am deutlichsten drückt sich dieses Anliegen in aktuellen politischen Verlautbarungen wie dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) aus. In diesem Plan mit dem Titel „‚einfach machen‘. Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ (BMAS 2011) sind 12 Handlungsfelder und ein Maßnahmenkatalog dargestellt, die deutlich machen, dass „alle Lebenslagen und gesellschaftlichen Bereiche“ (ebd., 3) inklusiv zu gestalten sind. Zu dem 210seitigen Papier der Bundesregierung haben die meisten der 16 Bundesländer bereits einen eigenen Plan vorgelegt. So umfasst allein z. B. der vom Thüringer Landeskabinett verabschiedete Maßnahmenplan 150 Seiten (TMFSG 2012). Es ist zu fragen, ob diese föderalistische Vielfalt gewollt und sinnvoll ist. Oder hängt diese starke Resonanz möglicherweise nur damit zusammen, dass Deutschland seine völkerrechtliche Verpflichtung der seit März 2009 geltenden UN-BRK einlösen muss, dies in die Ländergesetzgebung als normative Leitidee einpflegt und es damit weitgehend bewenden lässt? Die Vertragsstaaten haben sich dazu verpflichtet, sich an den allgemeinen Prinzipien der „Nichtdiskriminierung“, der „volle(n) und wirksame(n) Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“, der „Chancengleichheit“ und der „Zugänglichkeit“ zu orientieren, wenn es um Menschen mit Behinderungen geht (Artikel 3, UN-BRK 2011, 12). Den Kern des Inklusionsbegriffs der Behindertenrechtskonvention stellt das Prinzip der „Nichtdiskriminierung“ dar, ergänzt durch die Prinzipien der gleichberechtigten Teilhabe und der Einbeziehung in die Gesellschaft (Degener 2009, 205). Das führt zu einer weiteren Frage: Sollen diese Prinzipien nur für Menschen mit Behinderungen gelten oder sind damit nicht auch diejenigen gemeint, die diskriminiert werden oder diskriminierbar sind, sei es etwa aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der sozialen Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit, der Hautfarbe und/ oder der Religion? Anders ausgedrückt: Ist Inklusion nur der Begriff für eine veränderte „Behindertenpolitik“ und verengt den Blick auf den Kern der inklusiven Idee? 2 Warum messen die politischen Eliten dem Thema so viel Bedeutung bei? Eine differenzierte Antwort lautet: Die Inklusionsvorstellung der UN-BRK orientiert sich an den universellen Menschenrechten, auf denen Verfassung und Recht westlicher Demokratien basieren. Der Aufbau einer inklusiven Gesellschaft ist eine menschenrechtlich begründete, normativ erstrebenswerte Vision. Sie entspricht dem Verständnis demokratischer Partizipation. Bundesregierung und Länder appellieren mit dem Inkrafttreten der UN- BRK an die Gesamtgesellschaft, einen Beitrag zu einem stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt zu leisten, indem sie die Inklusionsbestrebungen gezielt auf Menschen mit Behinderungen abstimmt. Die Debatten in Politik und Presse legen diesen engen Inklusionsbegriff nahe. Natürlich lässt sich das Eintreten für eine solche Vision auch gut für Bundes- oder Landtagswahlen nutzen, um bestimmte Wählerschichten anzusprechen. Zwei weitere Antworten sind von Bedeutung: Die politischen Eliten gehen davon aus, dass sich die Forderung nach Nichtdiskriminierung, Teilhabe und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft noch nicht hinreichend Geltung verschafft hat; ferner davon, dass dieses Defizit nicht nur in Bezug auf Menschen mit Behinde- VHN 4 | 2013 285 RAINER BENKMANN, SOLVEIG CHILLA Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? FACH B E ITR AG rungen, sondern auch hinsichtlich anderer gesellschaftlicher Gruppen festzustellen ist. Zwar sollten Demokratien Regulative wie Nichtdiskriminierung, Teilhabe und Gleichberechtigung umgesetzt haben, gehören sie doch zu den Grundrechten eines jeden Menschen, wie sie in Deutschland etwa im Artikel 3 des Grundgesetzes als Benachteiligungsverbot verankert sind. Dass das aber nicht der Fall ist, erscheint kaum erwähnenswert - man denke nur an die tagtägliche Berichterstattung über unterschiedliche und intersektionelle Diskriminierungsformen in Deutschland und anderen Staaten. Kann es sein, dass Bundesregierung und Landesregierungen mit einem Mitzieheffekt auch für andere Minderheiten rechnen, die bis heute auf Barrieren stoßen? Wenn ja, kann die UN-BRK im Sinne eines Motors für die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe eines jeden Menschen an der Gesellschaft verstanden werden - ein Motor für die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts? Bei der Frage, warum dem Thema Inklusion so große Bedeutung beigemessen wird, geraten neben diesen den politischen Eliten positiv zugeschriebenen Absichten allerdings noch andere Überlegungen in den Blick: „Mit dem Begriff Inklusion wird“ - nach Dahme und Wohlfahrt (2011, 150) - „dem Tatbestand des Mangels ein Ideal gegenübergestellt, das bewusst die materiellen Gründe der Umsteuerung des Hilfesystems negiert und stattdessen nur eine normative Leitidee formuliert.“ Inklusion wird hier also im Sinne eines vorgeschobenen Ideals verstanden, das einen neoliberalen Trick kaschiert: Die öffentlichen Kassen sollen entlastet werden. Teure Sondereinrichtungen für Kinder, Jugendliche und Menschen mit Behinderungen werden abgeschafft, und die dort professionell geleistete Arbeit wird in eine Form von bürgernaher, familienzentrierter, letztlich ehrenamtlicher und deprofessionalisierter Tätigkeit überführt. Der angeblich überforderte Wohlfahrtsstaat führt zum schlanken Sozialstaat, der die Ökonomisierung der Lebenswelten zum Leitprinzip macht und nicht zuletzt auch sozialpolitisches und pädagogisches Handeln einseitig an marktwirtschaftlichen Effizienzkriterien orientiert und einem scharfen Konkurrenzkampf aussetzt. Dazu zwei Beispiele: Konzepte zur Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit orientieren sich ganz wesentlich an der Idee der Inklusion, etwa in der Behinderten- und Altenhilfe im Rahmen gemeindenaher Versorgung oder im Gesundheitswesen, wenn es um ambulante vor stationärer Versorgung geht. Solche Konzepte sind mehr als ambitioniert. Sie müssen in der Praxis scheitern, wenn Soziale Dienste unter einem immensen Kostendruck stehen, der zu steigenden Betreuungsfällen und wachsender Aufgabenfülle bei Einsatz von immer weniger und geringer qualifiziertem, oft seit Jahrzehnten überfordertem Personal führt. Unstrittig dürfte sein: Im lokalen Gemeinwesen kann die wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Behinderten und sozial Benachteiligten nur dann angestrebt werden, wenn personelle und materielle Hilfen und Fördermöglichkeiten ausreichend vorhanden sind. Dies gilt ebenfalls für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems. Dieser Aufbau könnte zu Kosteneinsparungen durch die Abschaffung des teuren Förderschulsystems führen. Auch sollte in diesem Zusammenhang die immer häufiger vorkommende Notlösung schulischer Integrationspraxis nicht unerwähnt bleiben, dass Mütter von behinderten Kindern Aufgaben als Quasi-Lehrkräfte übernehmen oder ehrenamtlich tätige „Lesemuttis“ eingesetzt werden, um anstelle von ausgebildeten, voll bezahlten Lehrkräften Integrationskindern das Lesen und Schreiben beizubringen. Eine gute inklusive Schule aber erfordert entsprechende räumliche, sächliche und personelle Bedingungen. Allein wenn man an eine optimale Personalausstattung denkt, die in anderen VHN 4 | 2013 286 RAINER BENKMANN, SOLVEIG CHILLA Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? FACH B E ITR AG Ländern durchaus neben Regel- und Sonderlehrkräften auch Schulpsycholog/ innen, Sozialarbeiter/ innen, Logopäd/ innen, in sozialen Brennpunktschulen ggf. auch Therapeut/ innen, Krankenschwestern und Supervisor/ innen umfasst, werden Reden zur inklusiven Schule zur wohlfeilen Rhetorik, wenn man nicht gleichzeitig die notwendigen finanziellen Mittel und Maßnahmen bereitstellt. Gute inklusive Schulen kosten zusätzlich, vor allem wenn das Förderschulsystem weiter aufrechterhalten wird. Bedenkenswert in diesem Zusammenhang sind auch Ergebnisse von Modellrechnungen der Bildungsberichterstattung, die ein kontinuierlich zurückgehendes Volumen von 9,4 Milliarden Euro im Bereich der allgemeinen Schulen in den nächsten 12 Jahren prognostizieren (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010, 157). Sollte dies eintreffen, ist zu befürchten, dass der Aufbau guter inklusiver Schulen dem neoliberalen Credo vom Spargebot der öffentlichen Haushalte weitgehend zum Opfer fallen wird. Es bleibt die Hoffnung, dass Länder sich eines Besseren besinnen und Gelder noch umschichten, zumal eine Erwartung plausibel erscheint: Wenn nämlich im Land viele gute Schulen existieren, wird es mehr qualifiziertere, sozial kompetentere und selbstreflektiertere Arbeitnehmer/ innen geben, die bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Es bräuchte weniger Therapeut/ innen, Krankenhäuser, Reha-Kliniken und Gefängnisse. Ob das jedoch von allen politischen Parteien gewollt ist, bleibt fraglich. Wenn das Gros der politischen Eliten mit der Verwirklichung der Forderungen der UN- BRK die Absicht verfolgt, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, beruht das offensichtlich auf der Annahme, dass der Zusammenhalt gefährdet sei und bereits deutliche Phänomene sozialer Desintegration der deutschen Gesellschaft bzw. der gesellschaftlichen Exklusion zu beobachten seien. 3 Gesellschaftliche Exklusion Ausgehend von der zuerst in Frankreich beginnenden Diskussion Ende der 1980er Jahre gewann die Kategorie exclusion in politischen und wissenschaftlichen Gruppen Europas sehr schnell an Bedeutung. Arbeitslosigkeit, Armut, ökonomische und soziale Ungleichheit sowie Ausgrenzung eines wachsenden Teils der Bevölkerung als Folge neoliberaler Transformation der Gesamtgesellschaft leitete eine Periode ein, die zu einer neuen sozialen Frage führte, „vergleichbar der ‚Arbeiterfrage‘ im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ (Kronauer 2010, 24). Die deutsche Sozialpolitik hinterfragte die bisherige Gewährleistung sozialstaatlicher Leistungen für Bedürftige, Benachteiligte und Behinderte und trieb durch Restrukturierungsbemühungen die Ökonomisierung aller sozialen Bereiche voran. So wurden zum Beispiel betriebswirtschaftliche Standards zur Effizienz und Konkurrenz in Beschäftigungspolitik, im Gesundheits- und Bildungswesen sowie in der Behindertenhilfe, die zur Entwicklung neuer rigider, hochbürokratisierter Ordnungsstrukturen beitrugen, oder auf Konkurrenz abgestellte Instrumente der „Neuen Steuerung“ eingeführt. Gesamtgesellschaftliche Phänomene infolge der neoliberalen Transformation lassen sich mit den insbesondere das letzte Jahrzehnt kennzeichnenden Begriffen „Entsicherung“ und „Richtungslosigkeit“ besser verstehen (Heitmeyer 2012, 19). Die Kategorie Entsicherung verweist auf „Kontrollverluste der Politik gegenüber dem Finanzkapital …, die Undurchschaubarkeit der Finanzkrise …, eine Entmachtung demokratisch legitimierter Parlamente“, die Kategorie Richtungslosigkeit auf „fehlende(n) politische(n) und öffentliche(n) Debatten über das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie, die (der) Beschleunigung schwerwiegender Entscheidungsabfolgen wie zum Beispiel in der Schuldenkrise, einen(m) Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts …“ (Heitmeyer 2012, 19f). VHN 4 | 2013 287 RAINER BENKMANN, SOLVEIG CHILLA Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? FACH B E ITR AG Entsicherung und Richtungslosigkeit führten zur sozialen Polarisierung, Desintegration und Exklusion in der deutschen Gesellschaft. In keinem anderen OECD-Land nahmen etwa Einkommensungleichheit und Armut im letzten Jahrzehnt so extrem zu wie in Deutschland (OECD 2008). Der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes zeigte von 2005 bis 2011 eine kontinuierliche Steigerung der Armutsquote bis auf 15,1 %, das Sozioökonomische Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 2005 bis 2009 eine dauerhafte Armutsquote von 8,5 % (DGB Bundesvorstand 2012, 5). Arbeitslosigkeit und Hartz IV trugen zu Statusbedrohung oder -absturz sowie desaströser Konkurrenz „jeder gegen jeden“ (Butterwegge 2010, 11) bei. Soziale Errungenschaften, die bis Mitte der 1970er Jahre noch für unantastbar galten, wurden aufgrund scheinbar naturgegebener Sparzwänge systematisch abgebaut. Seitdem wurden und werden besonders sozial schwache Gruppen zunehmend an den Rand gedrängt und aus vielen Lebensbereichen exkludiert. Die Dominanz der Ökonomisierung hat Auswirkungen auf das kollektive und individuelle Bewusstsein und kann so nicht zuletzt auch zu einer Veränderung von Einstellungen der Bürger/ innen gegenüber schwachen sozialen Gruppen wie Langzeitarbeitslosen, Obdachlosen, Menschen mit Behinderungen und Migrant/ innen führen. Ohne diese Diskussion hier ausführlich führen zu wollen, soll doch daran erinnert werden, dass die Definition und die Verschiebung der Normalitätsgrenzen (vgl. z. B. den Sammelband Kelle/ Mierendorff 2013) massiv Einfluss darauf nehmen, wer das Recht auf Inklusion in Anspruch nehmen darf. Eine Konzeption des Zusammenspiels von Heterogenität und Individualität und der Klärung der Frage, was unter Normalität in einer inklusiven Gesellschaft verstanden wird, steht in engem Zusammenhang mit exklusiven Prozessen. Mithilfe der Messung von Einstellungen lassen sich Veränderungen von Normalitätsvorstellungen ermitteln. Einstellungsänderungen im Sinne einer Distanzierung von demokratiezentralen Werten wie „Gleichwertigkeit“ aller Menschen hin zu einer Vorstellung von „Ungleichwertigkeit“ konnten festgestellt werden, wie die zehnjährige Langzeituntersuchung zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit der Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer belegt. „Ungleichwertigkeit“ ist Ursache und Folge ökonomistischer Einstellungen, nach denen Menschen einseitig nach Kriterien von Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit hinsichtlich ihrer Leistung für die Marktgesellschaft bewertet werden. Schwache soziale Gruppen, die einen geringen oder keinen Beitrag leisten und Zusatzkosten verursachen, werden als nicht mehr gleichwertig betrachtet und abgewertet. So befanden insgesamt 37 % der in der Langzeitstudie Befragten, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen im Sinne ökonomischer Logik nicht so nützlich wären wie andere, und knapp 30 % sagten, dass sich eine Gesellschaft wenig nützliche Menschen nicht mehr leisten könne (Heitmeyer 2012). Inklusion, und mehr noch „Inklusionsfähigkeit“ des Individuums wäre damit von dessen Nützlichkeit für die Marktgesellschaft abhängig. Neben diesen empirischen Befunden lässt sich neuerdings eine weitere Tendenz feststellen: Während die Befragten aus den oberen Status- und Einkommensgruppen bis 2009 die niedrigsten Werte hinsichtlich der Abwertung schwacher Gruppen aufwiesen, gab es ab 2010 kaum noch Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen. Es zeigt sich, dass „… die deutlichsten Anstiege … in der höheren Einkommensgruppe von 2009 auf 2010 für den Rassismus, die Fremdenfeindlichkeit, die Homophobie, die Obdachlosenabwertung, die Behindertenabwertung sowie die schon erwähnte Abwertung von Langzeitar- VHN 4 | 2013 288 RAINER BENKMANN, SOLVEIG CHILLA Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? FACH B E ITR AG beitslosen und den Sexismus“ zu verzeichnen sind (Heitmeyer 2012, 29f). Nebenbei bemerkt: „Islamfeindlichkeit“ und das „Einfordern von Etabliertenvorrechten“ stiegen zwar in allen Einkommensgruppen an; die Anstiege in diesen beiden Dimensionen fielen aber in den höheren Einkommensgruppen besonders auf. Warum erscheint gerade diese Entwicklung so problematisch? Bei höheren Status- und Einkommensgruppen handelt es sich meist um gebildete, hoch kompetente und große gesellschaftliche Verantwortung tragende Gruppen von Politik, Wirtschaft, Recht und Wissenschaft. In ihrem schwindenden Interesse an sozialer Integration drückt sich sehr wahrscheinlich die eigene Nervosität aus, ihre Privilegien zu verlieren. Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität haben offensichtlich auch die Eliten erreicht. War ihr privilegierter Status zuvor nicht infrage gestellt, versuchen sie nun, ihre eigenen Interessen nicht zuletzt auch durch die Abwertung schwacher Gruppen durchzusetzen, um eine eigene Statusbedrohung zu vermeiden. Sie tragen damit wesentlich zur wachsenden Desintegration der Gesellschaft und zur Exklusion vermeintlich nutzloser und überflüssiger Gruppen bei. Beispiel: Die an Politik- und Wirtschaftseliten gerichtete Aufforderung des Artikels 14 (2) unseres Grundgesetzes, dass „Eigentum verpflichtet (und) sein Gebrauch… zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll“, findet in den öffentlichen Debatten kaum noch Beachtung, und das selbst in Fällen, in denen etwa die für die Insolvenz eines Unternehmens Verantwortlichen noch mit exorbitanten Abfindungen belohnt werden. Man kann sich fragen, ob wir der Entwicklung eines weiteren Erosionsprozesses der Gesellschaft aufgrund neoliberalen Wirtschaftens und entsprechender Kolonialisierung unserer Lebenswelten schicksalhaft ausgeliefert sind. Wenn ja, ist nach dem Motto „Rette sich wer kann“ zu handeln. Wenn nein, wie kann der gesellschaftliche Zusammenhalt gefördert und der Tendenz der Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen entgegengewirkt werden? 4 Inklusion, Anerkennung der Abhängigkeit und Gerechtigkeit Teile der politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und religiösen Eliten haben erkannt, dass neoliberales Handeln verheerende globale Auswirkungen hat und dessen Fortsetzung zu Zersetzung und fundamentaler Destabilisierung auch gefestigter Demokratien führen kann. Sie sehen sich in der Verantwortung, Gesellschaft angesichts veränderter sozioökonomischer Gegebenheiten so zu erneuern, dass Desintegration durch Inklusion zurückgedrängt und weiterer Desintegration vorgebeugt wird. In diesem Zusammenhang sehen wir auch die Bemühungen der Politik zur Umsetzung der UN-BRK. Nichtdiskriminierung, Teilhabe und Gleichberechtigung müssen in vielen verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern implementiert werden. Dazu werden in den Sozialwissenschaften Überlegungen angestellt und Forderungen erhoben, von denen hier jedenfalls die wichtigsten, wenn auch nur ansatzweise, skizziert werden können: Die Abhängigkeit der Politik von Wirtschaft und Finanzkapital ist umzukehren. Nicht mehr Wirtschaft und Kapital, sondern demokratisch legitimierte Politik sollte bestimmen. Das ist allerdings nur im globalen Rahmen realisierbar, zumal die Schwäche von Politik nicht zuletzt auch damit zusammenhängt, dass Wirtschaft global, Politik jedoch weitgehend national agiert, abgesehen von den zu oft noch unwirksamen UN-Initiativen. Einem Fall wie der Quasi-Entmachtung demokratisch gewählter Regierungen und Parlamente aufgrund der Finanzkrise, die zur weltweiten Bedrohung führte, muss künftig vorgebeugt werden. Politik hat wieder maßgeblich Ein- VHN 4 | 2013 289 RAINER BENKMANN, SOLVEIG CHILLA Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? FACH B E ITR AG fluss auf Kapital, Banken und Markt zurückzugewinnen. Entsprechende Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärkte und Veränderung der neoliberalen Wirtschaftspolitik zeichnen sich auf EU-Ebene ab. Davon könnten vor allem Impulse für eine andere Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Wirtschafts- und Finanzpolitik ausgehen, die eine „Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen“ (Butterwegge 2010, 26) zur Folge haben. Statt eines „schlanken“ bedürfte es eines an Solidarität orientierten Wohlfahrtsstaates, der Teilhabe arbeitsloser, von sozialem Abstieg bedrohter, behinderter und benachteiligter Bevölkerungsgruppen ermöglicht. Neue Wohlfahrtsprogramme müssten so ausgestattet werden, dass nachhaltige Effekte hinsichtlich der Inklusion dieser Gruppen erzielt werden. Ein weiteres Handlungsfeld betrifft die Gesetzgebung und die Verwaltung. Das Recht auf Nichtdiskriminierung, Teilhabe und Gleichberechtigung sollte entsprechend dem Artikel 4 (1 a, b) der UN-BRK (2011, 13) in Gesetzen und Verwaltungsvorschriften verankert werden. Das hat Folgen für die genannten Politikfelder sowie für die Sozial-, Bildungs- und Familienpolitik. Deregulierung öffentlicher Güter wie Gesundheit, Bildung, Soziale Dienste und Verkehr haben mehr Probleme als Lösungen erzeugt und müssten zurückgenommen werden. Die Einführung von betriebswirtschaftlichen Standards und Renditeerwartungen in diesen Bereichen führte und führt zu desaströsen Entwicklungen. Beispiel: Uns erschließt sich bis heute nicht die Auffassung, dass Kinder, Jugendliche und Studierende Kunden sind und wir uns, ob als Lehrer/ in oder Erziehungswissenschaftler/ in, als Anbieter zu verstehen haben, die dafür entlohnt werden, die „Ware Wissen und Bildung“ an die nachwachsende Generation zu verkaufen. Mehr noch, erst dann dafür entlohnt zu werden, wenn unsere Bemühungen statistisch messbare Erfolge, z. B. im Sinne einer deutlichen Anhäufung von „Faktenwissen“, zeigen. Erst die Überwindung des Kosten-Nutzen-Denkens in diesen Bereichen trägt zur Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft bei, in der alle Menschen in ihrer Verschiedenheit gleichberechtigt an der Nutzung öffentlicher Güter teilhaben können. Solche Prozesse müssen durch Debatten in Politik- und Handlungsfeldern sowie in öffentlichen Bereichen begleitet werden. Dabei sind uns mit Blick auf die Kernfrage „In was für einer Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? “ zwei Themenschwerpunkte besonders wichtig, nämlich „Anerkennung der Abhängigkeit“ sowie „Soziale Gerechtigkeit und Ungleichheit“. Bei dem Thema „Anerkennung der Abhängigkeit“ nutzen wir die Vorstellungen des Philosophen Alaisdair MacIntyre (2001). Abhängigkeit des Menschen und seine Verletzlichkeit werden hier als anthropologische Merkmale verstanden. Das Überleben von Kindern und ihre weitere Entwicklung sind von der Pflege, Fürsorge und Erziehung anderer Menschen, vor allem der Eltern, abhängig. Ob wir im Laufe des Lebens durch physische und psychische Verletzungen und Erkrankungen, Behinderungen oder Schicksalsschläge vorübergehend oder dauerhaft Hilfe brauchen, wissen wir nicht, müssen aber damit rechnen. Im Alter ist der Mensch auf andere angewiesen, wenn er gebrechlich wird. Weil der Mensch in seiner Entwicklung zur Unabhängigkeit und im weiteren Leben auf Unterstützung angewiesen ist, steht laut MacIntyre jede/ r in der Pflicht, seinerseits abhängigen Menschen wie Kindern, Kranken, Behinderten und Ausgeschlossenen zu helfen. Das dialektische Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit dient der Grundlegung einer Ethik der anerkannten Abhängigkeit, die nicht durch christliche Nächstenliebe oder Altruismus, sondern durch Gegenseitigkeit begründet wird. VHN 4 | 2013 290 RAINER BENKMANN, SOLVEIG CHILLA Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? FACH B E ITR AG Die Anerkennung wechselseitiger Abhängigkeit als gemeinsames Gut kann am ehesten in einer überschaubaren Gemeinschaft realisiert werden, wie es etwa Konzepte zum Kommunitarismus darlegen (z. B. Etzioni 1997). Mit dem Begriff der Gemeinschaft sind zwar auch Familien gemeint, vor allem aber nachbarschaftliche und sozialraumorientierte Netze, die in unserer Gesellschaft mit immer mehr Singlehaushalten und vielen tendenziell überforderten, weil netzwerklosen Familien von Bedeutung sind. Die konzeptionellen Vorstellungen zu einer kommunitären Gesellschaft erscheinen allerdings bisher noch zu unscharf. Eine breitere gesellschaftliche Debatte darüber anzustoßen enthält die Chance, die existenzielle Notwendigkeit solidarischen Denkens und Handelns zu verdeutlichen und deren Realisierung zu fördern mit dem Ziel, Inklusion gesamtgesellschaftlich weiterzuentwickeln sowie Egoismus und Habgier Einzelner zurückzudrängen. Im Widerspruch dazu scheint die gesellschaftliche Entwicklung - auch die von kindlichen Lebenswelten - zu stehen, die auf immer stärkere Individualisierung und Pluralisierung der Lebenswelten drängt (Beck 1986; Kelle/ Mierendorff 2013). Das Individuum will in seiner Eigen-Art gesehen werden, möchte sich - ob durch Statussymbole, Tätowierungen oder besonders gestaltete Fingernägel - vom Mainstream abheben. Tendenzen zur Individualisierung mit einem anderen Verständnis von Selbstbewusstsein finden auch ihre Entsprechung im bio-psycho-sozialen Modell oder dem Verständnis von Behinderung und Benachteiligung im Weltbericht Behinderung (WHO 2011). Da das Streben nach Individualität in allen Bevölkerungsgruppen ausgeprägt ist, liegt hierin aber vielleicht auch der Schlüssel für den Aufbau einer inklusiven Gemeinschaft. Denn die Vereinbarkeit von Anerkennung der Individualität und wechselseitiger Abhängigkeit kann dazu führen, dass nicht mehr Einzelkämpfertum, Statusstreben und Exklusion von Randgruppen im Zentrum stehen, sondern sich die Sichtweise auf den Einzelnen grundlegend ändert. Wird der Wert des Einzelnen in seiner Individualität gesehen, zu der auch die gesellschaftlich bedingte Behinderung und das Wissen um die eigenen Stärken und Schwächen gehört, kann sich eine inklusive Gesellschaft entwickeln, weil die Einzelnen ihre gegenseitige Abhängigkeit voneinander anerkennen. Was das Thema „Soziale Gerechtigkeit und Ungleichheit“ betrifft, so wird in der Politik aktuell wieder mehr über die Frage nach sozialer Gerechtigkeit diskutiert - nicht zuletzt auch als Folge der Informationen über die drastische Einkommensungleichheit in Deutschland. Ob eine solche Ungleichheit in Demokratien überhaupt legitimierbar und als richtig zu beurteilen ist oder ob Spitzengehälter etwa von Topmanagern im Vergleich zu Vergütungen im Dienstleistungssektor, die ohne „Aufstockung“ nicht ausreichen, um eine Familie zu ernähren, gegen Grundprinzipien von sozialer Gerechtigkeit und Wohlfahrt verstoßen und damit als falsch zu beurteilen sind - auch darüber müsste eine Debatte angestrengt werden. Kann es ein Verfahren geben, das eine solche widersprüchliche Interessenlage so auflöst, dass sich eines der beiden Urteile besser begründen lässt, um daraus politisch vernünftige Konsequenzen zu ziehen? Eine Antwort politischer Ethik besteht darin, die Urteilsbegründung auf ihre Verallgemeinerbarkeit, ihre Universalisierbarkeit zu prüfen: Welche Einkommensungleichheit als sozial gerecht gelten kann, lässt sich beantworten, wenn die Beteiligten bei divergierender Interessenlage nicht nur an ihren eigenen Vorteil dächten, sondern die Begründung für eines der beiden Urteile auch dann für richtig hielten, wenn sie sich auf der Gegenseite befänden. „Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedi- VHN 4 | 2013 291 RAINER BENKMANN, SOLVEIG CHILLA Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? FACH B E ITR AG gung der Interessen jedes einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können.“ (Habermas 1986, 18) Eine universalistische politische Ethik hält danach diejenige Entscheidung für richtig, die alle Menschen wollen können. Dieses unter dem Begriff „Diskursethik“ bekannte Verfahren setzt die Fähigkeit des Sich- Hineinversetzens in die Perspektive des Anderen voraus, die es ermöglicht, dem eigenen wie dem fremden Anspruch die gleiche Behandlung zukommen zu lassen. Zudem geht das Verfahren von der Annahme aus, dass man nicht weiß, welche Auffassung man nach der Entscheidung für eines der beiden Urteile vertritt. Sicherlich, gegen den Einsatz der Diskursethik lässt sich einwenden, dass eine reale gesellschaftliche Debatte gar nicht „zwanglos“ geführt werden kann, weil die Durchsetzung von Interessen immer auch vom jeweiligen Machteinfluss der debattierenden Gruppen abhängig ist. Am deutlichsten wird das in Deutschland am Einfluss von profitorientierten Lobbygruppen, die allein auf die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen setzen. Trotzdem: Würden Parteien, Parlamente und Öffentlichkeit diesem Verfahren mehr Bedeutung beimessen, käme man der Vision einer sozial gerechteren Gesellschaft näher und könnte ökonomische und soziale Ungleichheit abbauen. Unschwer lässt sich hinter dieser Auffassung John Rawls’ Gerechtigkeitsbegriff der Fairness erkennen. Rawls beschreibt zwei für eine gerechte Gesellschaft konstitutive Prinzipien: „… einmal die Gleichheit der Grundrechte und -pflichten; zum anderen den Grundsatz, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.“ (Rawls 1998, 31f) Wenn die beiden Konzepte „Anerkennung der Abhängigkeit“ und „Soziale Gerechtigkeit und Ungleichheit“ in den Einrichtungen des Bildungswesens didaktisch-methodisch entsprechend dem Entwicklungsniveau der nachwachsenden Generation angepasst werden, könnten sie als durchgängige Orientierungen das Leben und Lernen einer inklusiven Schule bestimmen. Inklusiv muss diese Schule sein, weil sie die strukturellen Bedingungen der Möglichkeit enthält, unter denen die nachwachsende Generation Vorstellungen zur Anerkennung der Abhängigkeit gemeinsam leben und miteinander lernen kann. Ferner muss diese Schule eine Gemeinschaftsschule sein, die sich im Sinne von Lawrence Kohlbergs Konzept zu einer „Gerechten Schulgemeinschaft“ (vgl. z. B. Oser/ Althof 2001) entwickeln kann, wenn in ihr nach Vorstellungen einer Diskurspädagogik gemeinsam gelebt und miteinander gelernt wird. Lerngruppen mit Kindern und Jugendlichen verschiedenster sozialer und kultureller Herkunft, mit und ohne Beeinträchtigungen, fordern alle Akteure zum Umgang mit Heterogenität, Schwächen und Stärken der Einzelnen heraus, der den Wert solidarischen Handelns und sozialer Gerechtigkeit verdeutlicht. Eine auf dieser Schulerfahrung basierende Bildung ist mit der Hoffnung auf die Entwicklung einer gerechten inklusiven Gesellschaft verbunden. Durch diese Bildung werden gesellschaftliche Widersprüche und Krisen nicht behoben. Aber sie kann den Verstehenshorizont der nachwachsenden Generation erweitern und die Institutionalisierung diskursiver Willensbildungsprozesse etwa in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Erziehung vorantreiben, in denen divergierende Interessen unter Berücksichtigung von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität normativ ausgehandelt werden. Der VHN-Themenstrang „Inklusion und Pädagogische Profession“ stellt sich dieser Auf- VHN 4 | 2013 292 RAINER BENKMANN, SOLVEIG CHILLA Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? FACH B E ITR AG gabe, indem die oben angesprochenen Fragen im Spiegel nationaler und internationaler Entwicklungen diskutiert werden. Annette Kracht und Simone Seitz werden sich Themen zur Professionalisierung, Birgit Lütje-Klose zur Kooperation und Gottfried Biewer und Matti Kuorelahti zu internationalen Tendenzen widmen. Ulrich Heimlich und Gabriele Ricken tragen mit der Erörterung zu Herausforderungen an eine inklusive Didaktik und Diagnostik zur Debatte bei. Wie die erste Phase der Lehrer/ innenbildung in Deutschland zukünftig strukturiert werden kann und welche Berücksichtigung die wissenschaftliche Diskussion in den einzelnen Studienstätten findet, soll ein abschließender Überblick vorstellen. Es ist zu wünschen, dass die universitäre Bildung den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention mit klaren Konzepten begegnet. Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2010): Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel. Bielefeld: Bertelsmann Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/ M.: Suhrkamp BMAS/ Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2011): „einfach machen“. Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft. Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinigten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Kabinettsbeschluss: 15. 6. 2012 Butterwegge, Christoph (2010): Deprivation und Desintegration - die Schattenseiten des Risikokapitalismus: Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung. In: Weiß, Hans; Stinkes, Ursula; Fries, Alfred (Hrsg.): Prüfstand der Gesellschaft: Behinderung und Benachteiligung als soziale Herausforderung. Würzburg: edition von freisleben, 9 -32 Dahme, Heinz-Jürgen; Wohlfahrt, Norbert (2011): Sozialraumorientierung in der Behindertenhilfe. Alles inklusive bei niedrigen Kosten? In: Teilhabe 50, 148 -154 Degener, Theresia (2009): Die UN-Behindertenrechtskonvention als Inklusionsmotor. In: RdJB 57, 200 -219 DGB Bundesvorstand (2012): Soziale Schere klafft weiter auseinander: Zum neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. In: Arbeitsmarkt aktuell Nr. 8, 1 -19 Etzioni, Amitai (1997): Ein kommunitaristischer Ansatz gegenüber dem Sozialstaat. In: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 48, 25 -31 Habermas, Jürgen (1986): Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? In: Kuhlmann, Wolfgang (Hrsg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 16 -37 Heitmeyer, Wilhelm (2012): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 10. Berlin: Suhrkamp, 15 -41 Kelle, Helga; Mierendorff, Johanna (2013): Normierung und Normalisierung der Kindheit. Band der Reihe ,Kindheiten - Neue Folge‘. Weinheim: Juventa Kronauer, Martin (2010): Inklusion - Exklusion. Eine historische und begriffliche Annäherung an die soziale Frage der Gegenwart. In: Kronauer, Martin (Hrsg.): Inklusion und Weiterbildung. Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart. Bielefeld: Bertelsmann, 24 -58 MacIntyre, Alasdair (2001): Die Anerkennung der Abhängigkeit - Über menschliche Tugenden. Hamburg: Rotbuch OECD (2008): Growing Unequal? Income Distribution and Poverty in OECD Countries. Country Note Germany. Online unter: http: / / www. oecd.org/ social/ socialpoliciesanddata/ 4152 5386.pdf, 12. 9. 2012 Oser, Fritz; Althof, Wolfgang (2001): Die Gerechte Schulgemeinschaft: Lernen durch Gestaltung des Schullebens. In: Edelstein, Wolfgang; Oser, Fritz; Schuster, Peter (Hrsg.): Moralische Erziehung in der Schule. Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis. Weinheim: Beltz, 233 -268 VHN 4 | 2013 293 RAINER BENKMANN, SOLVEIG CHILLA Inklusion im Kontext gesellschaftlicher Exklusion? FACH B E ITR AG Rawls, John (1998): Eine Theorie der Gerechtigkeit. 10. Aufl. Frankfurt/ M.: Suhrkamp TMSFG/ Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit (2012): Thüringer Maßnahmenplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Kabinettsbeschluss: 24. 4. 2012. Online unter: http: / / www.thueringen.de/ impe ria/ md/ content/ tmsfg/ abteilung2/ referat23/ thueringer_massnahmenplan_stand_23042 012.pdf, 15. 1. 2013 UN-BRK (2011): Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bonn. Online unter: http: / / www.bmas.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ uebereinkommen-ueber-die-rechte-behin derter-menschen.pdf? __blob=publicationFile, 11. 6. 2013 WHO (2011): Weltbericht Behinderung. Online unter: www.iljaseifert.de/ wp-content/ uploads / weltbericht-behinderung-2011.pdf, 6. 6. 2013 Anschriften der Autoren Prof. Dr. Rainer Benkmann Universität Erfurt Erziehungswissenschaftliche Fakultät Sonder- und Sozialpädagogik Nordhäuser Straße 63 D-99089 Erfurt rainer.benkmann@uni-erfurt.de Prof. Dr. Solveig Chilla Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Sonderpädagogik Keplerstraße 87 D-69120 Heidelberg chilla@ph-heidelberg.de
