eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Marsmännchen sind auf der Erde einsam

11
2014
Judith Adler
Corinne Wohlgensinger
Der vorliegende Artikel basiert auf einem abgeschlossenen Forschungsprojekt an der Hochschule für Heilpädagogik (HfH) Zürich zur Lebenssituation von Menschen mit Hörsehbehinderung in der Schweiz. Die interviewten hörsehbehinderten Personen erzählten von vielen eingesetzten Strategien im Umgang mit den Herausforderungen des Alltags, um ein möglichst selbstständiges Leben zu führen. Diese problemfokussierten Strategien werden im vorliegenden Artikel dargestellt, mit Aussagen von Betroffenen illustriert und mithilfe des SOK-Modells (Selektion, Optimierung und Kompensation) ressourcenorientiert analysiert
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6 FACH B E ITR AG VHN, 83. Jg., S. 6 -19 (2014) DOI 10.2378/ vhn2013.art08d © Ernst Reinhardt Verlag Marsmännchen sind auf der Erde einsam Strategien von Menschen mit einer Hörsehbehinderung zur Alltagsbewältigung Judith Adler, Corinne Wohlgensinger Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik, Zürich Zusammenfassung: Der vorliegende Artikel basiert auf einem abgeschlossenen Forschungsprojekt an der Hochschule für Heilpädagogik (HfH) Zürich zur Lebenssituation von Menschen mit Hörsehbehinderung in der Schweiz. Die interviewten hörsehbehinderten Personen erzählten von vielen eingesetzten Strategien im Umgang mit den Herausforderungen des Alltags, um ein möglichst selbstständiges Leben zu führen. Diese problemfokussierten Strategien werden im vorliegenden Artikel dargestellt, mit Aussagen von Betroffenen illustriert und mithilfe des SOK-Modells (Selektion, Optimierung und Kompensation) ressourcenorientiert analysiert. Schlüsselbegriffe: Hörsehbehinderung, Taubblindheit, problemfokussierte Strategien, SOK- Modell, Selbstbestimmung Martians are Lonesome on Earth. Strategies of Coping with Everyday Life of Persons with Deafblindness Summary: This article is based on a completed research project at the University of Applied Sciences of Special Needs Education in Zurich (HfH) investigating the living circumstances of people with deafblindness in Switzerland. The interviewed people explained a large number of strategies that they use to handle the challenges of everyday life in order to achieve the greatest possible independence. These problem-focused strategies are presented in the article, illustrated with statements of persons concerned, and analyzed using the resource-oriented SOC-model (Selection, Optimization, Compensation). Keywords: Deafblindness, problem-focused strategies, SOC-model, self-determination 1 Studie über die Lebenslage von hörsehbehinderten Menschen in der Schweiz Der Titel des vorliegenden Beitrages entstammt dem Zitat einer Frau mit Hörsehbehinderung. Sie sagt: „Mit der Art von Behinderung bewegt man sich in der normalen Gesellschaft wie ein Marsmännchen…und das macht einsam.“ Einsamkeit ist nur eines der Probleme, welche bei betroffenen Menschen häufig festzustellen sind. Es gibt noch eine Reihe anderer spezifischer Herausforderungen und entsprechende Strategien im Umgang damit. Um einen vertieften Einblick in die Thematik zu schaffen, hat die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik in Zürich (HfH) auf Anregung des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen (SZB) ein Forschungsprojekt durchgeführt, welches vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) mitfinanziert wurde 1 . Der vorliegende Artikel beschreibt in einem ersten Teil das Forschungsprojekt der HfH zur Lebenssituation von hörsehbehinderten VHN 1 | 2014 7 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG Menschen in der Schweiz und skizziert das Verständnis von Hörsehbehinderung. Im zweiten Teil werden zuerst das SOK-Modell (Selektion, Optimierung und Kompensation) und seine Anpassungsprozesse kurz erläutert. Dann werden die von hörsehbehinderten Personen erzählten Handlungsstrategien in den unterschiedlichen Lebenslagedimensionen analysiert und beschrieben, mit Zitaten illustriert und zur besseren Übersicht tabellarisch dargestellt. 1.1 Zielsetzung und Methode der Studie Das Ziel der Studie ist eine umfassende Beschreibung der Lebenssituation von Menschen mit einer Hörsehbehinderung 2 in der Schweiz. Dazu wurde das Konzept der Lebenslage benutzt. Soziale Ungleichheit wird hier als Resultat von gesellschaftlich hervorgebrachten und relativ dauerhaften Handlungs- und Lebensbedingungen gesehen. Diese werden für analytische Zwecke in mehrere Dimensionen gegliedert (vgl. Gredig u. a. 2005; Hradil 1987). Folgende Fragen wurden untersucht: n Wie stellt sich die Lebenslage von hörsehbehinderten Menschen in der Schweiz dar 3 ? n Welche Probleme im Alltag sind für die Betroffenen vordringlich? n Welche Ressourcen können aktiviert werden? Um diese Fragen zu beantworten, wurden verschiedene methodische Forschungszugänge gewählt. Vorgängig wurde im Rahmen einer Vorstudie der Stand der internationalen Forschung zusammengefasst und eine Analyse des internationalen Verständnisses von Hörsehbehinderung vorgenommen (Adler/ Wohlgensinger 2007). In der Hauptuntersuchung wurden eine Fragebogenbefragung und Leitfadeninterviews eingesetzt. Der quantitative Untersuchungsteil beschäftigte sich mit den soziografischen Daten aller Personen, die bei den SZB-Beratungsstellen angemeldet sind. Die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter der SZB-Beratungsstellen füllten die Kurzfragebögen aus, 338 Fragebögen konnten für die Auswertung verwendet werden. Neben soziodemografischen Daten wurden Informationen zur Behinderung, zur Wohnsituation, zur Ausbildung, zur Erwerbstätigkeit, zum Bezug von Versicherungsleistungen und zu den Kommunikationsformen erhoben 4 (Adler u. a. 2011). Die Resultate zeigen beispielsweise, dass die Möglichkeiten der Partizipation hörsehbehinderter Personen in der Ausbildung und Erwerbstätigkeit stark eingeschränkt sind. Dieser Umstand verdient auch deshalb einige Beachtung, da der Zugang zu Bildung und Arbeit von den Betroffenen stark gewichtet wird und sehr zentral ist, wie auch andere Studien zeigen (Ravn Olesen/ Jansbol 2005). Die untersuchten hörsehbehinderten Personen weisen (als höchsten Bildungsabschluss) mehr obligatorische Schulabschlüsse vor als der Durchschnitt der behinderten Menschen in der Schweiz, zudem ist der Anteil mit abgeschlossener Berufsausbildung tiefer (Gredig u. a. 2005). Im Vergleich zu Menschen mit anderen Behinderungen und zur Gesamtbevölkerung in der Schweiz sind hörsehbehinderte Personen deutlich seltener erwerbstätig und arbeiten häufiger an geschützten Arbeitsplätzen. Im qualitativen Forschungsteil galt es, die für Menschen mit einer Hörsehbehinderung subjektiv relevanten Dimensionen der Lebenslage zu bestimmen. Dazu wurden in einer Vorstudie mit 10 Personen qualitative Interviews geführt. Es wurden drei unterschiedliche Lebensspannen festgelegt, innerhalb derer die Untersuchung stattfinden sollte: Jugendliche und junge Erwachsene (15 - 30 Jahre 5 ), erwachsene Menschen mittleren Alters (40 - 55) und ältere resp. hochbetagte Menschen (75 - 90). Den Hintergrund dieser Dreiteilung bildet die An- VHN 1 | 2014 8 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG nahme, dass in den jeweiligen Lebensspannen unterschiedliche Themen zentral sind resp. möglicherweise eine Zunahme der Hörsehbehinderung eintritt (z. B. eine Verschlechterung der Sehfähigkeit beim Usher-Syndrom im mittleren Lebensalter oder die Abnahme des Hör- oder Sehvermögens im Alter). Die Auswahl der Interviewpartner geschah nach den Regeln des theoretischen Samplings, um Fälle zu finden, die sich so stark wie möglich voneinander unterscheiden (Flick 2002; Strauss/ Corbin 1996). Die Kriterien für die Auswahl waren der Zeitpunkt des Erwerbs der Hörsehbehinderung (Geburt oder später) sowie der Behinderungsverlauf, die Arbeits- und Wohnsituation, das Geschlecht und der Zivilstand. Die Interviews wurden vollständig transkribiert und mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet (Lamnek 1995; Mayring 1997). Zur Validierung wurden zudem vier Experteninterviews geführt, welche aber keine neuen Dimensionen hervorbrachten. Alle waren von den Betroffenen schon erwähnt worden. Die auf diese Weise eruierten wichtigen Dimensionen der Lebenslage wurden mithilfe eines Leitfadeninterviews in der Hauptbefragung bei 35 hörsehbehinderten Personen aus allen Regionen der Schweiz und aus allen Altersgruppen untersucht. Die Interviews unterschieden sich nicht nur bezüglich der Landessprache (deutsch: 17, französisch: 7, italienisch: 1), sondern auch in den eingesetzten Kommunikationsformen: Drei Gespräche wurden unter Einbezug von Gebärdendolmetscherinnen geführt, und zwei Personen wurden mithilfe einer Lormdolmetscherin befragt. Auch diese Interviews wurden vollständig transkribiert und mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet (Lamnek 1995; Mayring 1997). Diese Methode ist besonders geeignet für Interviews, die übersetzt werden, da die Formulierungen von Dolmetscherinnen stammen. Die Durchführung von Interviews mit hörsehbehinderten Personen stellt eine spezielle (kommunikative) Herausforderung dar. Auch wenn die meisten der interviewten Personen über etwas Hör- oder Sehvermögen verfügten, musste doch eine Reihe von Dingen beachtet werden. Generell sind dies eine so ruhige Gesprächsumgebung wie möglich, optimale Lichtverhältnisse und kurze und prägnante Fragen. Man sollte sich bewusst sein, dass Signale des aktiven Zuhörens, resp. Mimik und Körpersprache nicht selbstverständlich wahrgenommen werden können. Zudem wird durch den Einbezug von entsprechenden Dolmetschenden die Spontaneität in der Interaktion eingeschränkt und die Interviews verlaufen gezwungenermaßen enger nach „Frage- Antwort-Schema“. Hier bestand zusätzlich die Gefahr, dass Fragen oder Antworten von der Dolmetscherin umformuliert resp. interpretiert wurden. Nach den ersten Erfahrungen wurde deshalb darauf geachtet, ausschließlich Dolmetscherinnen zu engagieren, die sich zuvor bewährt hatten, mit dem z. T. spezifischen Wortschatz vertraut waren und „nur“ übersetzten, aber nicht kommentierten. Im qualitativen Studienteil wurde eine partizipative Forschungsstrategie verfolgt. Dies geschah, indem die Forschungspläne und mögliche Forschungsfragen von Beginn an mit Betroffenen besprochen wurden. Zur Optimierung wurden die (vorläufigen) Resultate in zwei sogenannten „member checks“ diskutiert (vgl. Whitney-Tomas 1997). Die Teilnehmenden an diesen Diskussionen zeigten sich sehr engagiert und kritisch. Allerdings muss hier angemerkt werden, dass bzgl. der Besprechung der Ergebnisse eine Vorauswahl seitens des Forschungsteams notwendig wurde, da eine Hörsehbehinderung den Überblick und das Lesen von sehr viel Material in vielen Fällen verunmöglicht. Ein weiterer möglicher Kritikpunkt liegt bei der Interviewteilnahme. Bis ein Gespräch zu- VHN 1 | 2014 9 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG stande kam, mussten einige Absagen (oft aus gesundheitlichen Gründen) entgegengenommen werden. Bei der folgenden Darstellung der Ergebnisse muss deshalb mitbedacht werden, dass sie zu großen Teilen von Menschen mit einer Hörsehbehinderung stammen, die über Kommunikationsmöglichkeiten verfügen und über einen Gesundheitszustand, der ihnen zumindest eine längere Unterhaltung ermöglichte. Bei wenigen betroffenen Personen, die sich nicht am Gespräch beteiligen konnten, wurden Interviews mit Bezugspersonen geführt. Solche Erfahrungen zeigen, dass forschungsmethodisch andere Zugänge gewählt werden müssten, um Menschen mit derarteingeschränktenKommunikationsmöglichkeiten gerecht zu werden. 1.2 Es gibt nicht die Hörsehbehinderung Charakteristisch für eine Hörsehbehinderung ist, dass das Fehlen oder die Beeinträchtigung des einen Sinnes nicht durch den jeweils anderen kompensiert werden kann. Deshalb kann beispielsweise das Überqueren der Straße schnell einmal zu einem (lebens-) gefährlichen und angstbeladenen Unterfangen werden. Neben der Kombination von vollständiger Blindheit und Gehörlosigkeit gibt es weitere Formen, die zu einer „funktionellen“ Taubblindheit führen. Etwa wenn eine hochgradige Sehbehinderung auf eine hochgradige Schwerhörigkeit trifft, oder wenn bei einer blinden resp. gehörlosen Person der jeweils andere Sinn (z. B. alters- oder krankheitsbedingt) abnimmt. Der Begriff „funktionelle Taubblindheit“ meint, dass die Personen zwar nicht im medizinischen Sinn vollkommen taub und blind sind, dass aber die Folgen, die aus der gleichzeitigen Hör- und Sehbehinderung entstehen, dieselben sein können. Rückschlüsse von der Ausprägung der Behinderung auf die Situation von betroffenen Personen sind nicht möglich. Damit wird ein ganzheitlicher Blick notwendig, wie er etwa mit der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)“ gelingt (WHO 2005). Der Fokus liegt hier nicht auf dem Gesundheitsproblem an und für sich, sondern auf den Folgen, die für die betroffene Person in dem jeweiligen Kontext entstehen. Dementsprechend sind auch spezialisierte Ausbildungs- und Unterstützungsangebote gefragt, wobei der Bedarf je nach Alter, Zeitpunkt des Erwerbs und der Art der Hörsehschädigung variiert. Grob kann man - wie es für die Studie gemacht wurde - drei Altersgruppen mit spezifischen Problemlagen unterscheiden. Zum einen die Kinder; bei ihnen sind Hörsehbehinderungen aufgrund von Rötelninfektionen dank des höheren Durchimpfungsgrades praktisch verschwunden. Die medizinische Entwicklung hat wohl aber gleichzeitig auch dazu geführt, dass es eine größere Gruppe von frühgeborenen Kindern mit schweren Mehrfachbehinderungen gibt, wobei auch der Hör- und der Sehsinn betroffen sind (Knoors/ Vervloed 2003; Schlenk u. a. 2006). Bei diesen Kindern bestehen Schwierigkeiten, was die Diagnose angeht. Daneben gibt es auch bekannte Syndrome, für die eine Einschränkung der beiden Fernsinne charakteristisch ist. Hier ist das (genetisch bedingte) CHARGE 6 -Syndrom zu nennen, mit welchem eine Schädigung der Augen und Fehlbildungen der Ohren mit unterschiedlich ausgeprägten Hörschädigungen einhergeht (Lemke-Werner 2001). Eine große Rolle spielt auch das Usher-Syndrom, vor allem in der zweiten Gruppe, den Erwachsenen mittleren Alters. Es zeichnet sich durch eine angeborene Hörschädigung und eine gleichzeitig vorliegende Augenerkrankung (retinitis pigmentosa) aus, die aber - aufgrund ihres progressiven Verlaufes - „erst“ im Erwachsenenalter akut wird und zu einer Hörsehbehinderung führt. VHN 1 | 2014 10 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG Bei der weitaus größten und dritten Gruppe mit einer Hörsehbehinderung handelt es sich aber um ältere Menschen. Dies sind zum einen Personen, bei denen gleichzeitig das Hör- und Sehvermögen altersbedingt schwächer wird, oder solche, die schon lange mit einer Hör- oder Sehbehinderung leben, und allmählich den jeweils anderen Sinn verlieren. Zur Prävalenz hörsehbehinderter Menschen liegen verschiedene Untersuchungen und Schätzungen vor, welche in der Studie analysiert und dargestellt werden (Adler u. a. 2011). 2 Strategien im Umgang mit einer Hörsehbehinderung Menschen mit einer Hörsehbehinderung sehen sich in allen Lebensbereichen mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert. Im Alltag bestehen zu können, das Pflegen und Knüpfen von sozialen Kontakten, zu kommunizieren, sich zu informieren und sich möglichst frei und sicher bewegen zu können erfordert den Einsatz einer Vielzahl von Handlungs- und konkreten Problemlösungsstrategien, wenn man nicht über ein gut funktionierendes Sehund/ oder Hörvermögen verfügt. Diese Handlungsstrategien nehmen in der Erfahrung der befragten Personen eine große Bedeutung ein, nicht zuletzt deshalb, weil sie - entsprechend eingesetzt und gut funktionierend - das Ziel des möglichst selbstständigen Lebens sichern können. Nachfolgend erfahren die von den Interviewten erwähnten Anpassungsprozesse oder Strategien aus dem qualitativen Untersuchungsteil eine genauere Betrachtung. In den Interviews wurde zwar nicht ausdrücklich nach Bewältigungsstrategien gefragt, die hörsehbehinderten Personen berichten aber sehr viel darüber. Diese Daten wurden in die Auswertung aufgenommen, da diese Strategien Hinweise geben können für die Weiterentwicklung des Unterstützungsangebotes. Es wurden die Anpassungsprozesse der hörsehbehinderten Personen in ausgewählten Lebenslagedimensionen (und deren Aspekte bzw. Problemfelder) analysiert. Untersucht wurden die Dimensionen soziale Kontakte, Kommunikation, Informationszugang, Arbeit, Mobilität und alltägliche Lebensverrichtungen. Diese Anpassungsprozesse werden in der Bewältigung von (immer wiederkehrenden) Hürden im Alltag eingesetzt, wie sie von den Betroffenen wahrgenommen werden. Es geht also weder um krisenhafte, traumatische Erlebnisse noch um die Frage der Bewältigung der Behinderung als solche. Die eingesetzten Strategien zur Bewältigung der Hürden im Alltag werden Copingstrategien genannt (Folkman 1990). Sie sind dazu da, schwierige Situationen zu bestehen und mit inneren und äußeren Anforderungen umzugehen. Dabei unterscheidet man zwischen problem- und emotionsfokussierten Strategien: Mit problemfokussierten Strategien wird das Problem direkt angegangen, resp. die Person richtet ihr Verhalten danach aus, mit dem Ziel, aktiv eine Veränderung herbeizuführen. Emotionsfokussierte Strategien reduzieren das Unbehagen, indem die eigenen Gedanken und Gefühle verändert werden, damit Wohlbefinden und soziale Funktionen nicht beeinträchtigt werden (ebd.). Im vorliegenden Artikel werden die problemfokussierten Strategien und Problemlösungen im Alltag mithilfe des Konzepts aus der Altersforschung von Baltes und Baltes (1989) untersucht, das eine ressourcenorientierte Analyse der Aussagen der hörsehbehinderten Personen ermöglicht. 2.1 Prozesse erfolgreicher Lebensgestaltung: Das SOK-Modell Das von Paul und Margret Baltes (1989; 1990) vorgestellte Metamodell der Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK-Modell) wurde ursprünglich für die Beantwortung der VHN 1 | 2014 11 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG Frage eingesetzt, ob und wie es im Alterungsprozess gelingt, „sein Selbst wirksam zu behaupten und zu entfalten“, und das trotz zunehmender körperlicher Anfälligkeit und reduzierten Kapazitätsreserven (1989, 96). Das Modell lässt sich auf den ganzen Entwicklungsbereich ausdehnen und findet längst nicht mehr nur in der Alternsforschung Anwendung. Im Mittelpunkt steht die Annahme, dass am Ende eines erfolgreichen Einsatzes von Selektion, Optimierung und Kompensation ein möglicherweise zwar leicht eingeschränktes, aber zufriedenes, erfolgreiches und selbstwirksames Leben möglich ist, trotz einem Verlust an (vorwiegend biologischen) Entwicklungs- und Kapazitätsreserven (Martin/ Kliegel 2008). Allgemein lassen sich die drei Anpassungsprozesse folgendermaßen beschreiben: 1. Selektion: Auswahl resp. (Neu-)Formulierung von Zielen und die Ausbildung von Präferenzen. Generell wird zwischen der „elektiven Selektion“ und der „verlustbasierten Selektion“ unterschieden (Freund 2007). Mittels der elektiven Selektion werden aus einem breiten Spektrum an Möglichkeiten verbindliche Ziele ausgewählt. Ressourcen werden also kanalisiert und auf bestimmte Ziele bezogen. Das bedingt, dass man Ziele hierarchisiert resp. dass man sie mit dem Lebenskontext abstimmt. Die verlustbasierte Selektion hingegen ist eine Form, auf Verluste von zuvor verfügbaren Ressourcen zu reagieren. Dazu gehört beispielsweise, seine Ziele zu priorisieren und einige davon aufzugeben oder sich neue zu suchen. Sowohl die elektive als auch die verlustbasierte Selektion dienen der Zielsetzung mit dem Resultat eines handlungsleitenden und sinnstiftenden Orientierungsrahmens und der Fokussierung von Ressourcen. Die Zielverfolgung strebt nach einem möglichst hohen Funktions- und Leistungsniveau (Freund/ Ziegelmann 2009). Damit sind die Elemente „Optimierung“ und „Kompensation“ angesprochen. 2. Optimierung: Eine Optimierung geschieht durch die Verbesserung oder das Neuerwerben von Fertigkeiten und Ressourcen, die für die Zielerreichung erforderlich sind. Dazu gehört auch, bestimmte Fertigkeiten immer wieder zu üben, seine Aufmerksamkeit auf die Zielverfolgung zu lenken und sich an erfolgreichen anderen zu orientieren. Gefragt sind also auch ein bestimmter Mehraufwand an Zeit und die entsprechende Motivation resp. die Bereitschaft, sich falls nötig externe Hilfe zu holen (Martin/ Kliegel 2008). Wichtig ist auch das Bewusstsein der Tatsache, dass eine ausdauernde Zielverfolgung zwar notwendig ist, um langfristige Ziele zu erreichen, dass die damit erreichten Höchstleistungen aber auch zu Verlusten in anderen Funktions- oder Leistungsbereichen führen können (Freund 2007). 3. Kompensation: Hier liegt der Fokus auf der Reaktion auf Defizite oder Verluste und dem Versuch, die eigenen Ziele resp. das Funktionsniveau trotz diesem Verlust zu erreichen oder zu erhalten. Die Kompensation geschieht durch neue oder zuvor ungenutzte Selektion Optimierung Eingeschränktes aber selbstwirksames Leben Verlust an biologischen Entwicklungs- und Kapazitätsreserven Abb. 1 Vereinfachte Darstellung des SOK-Modells (aus Martin/ Kliegel 2008, 62; vgl. auch Baltes/ Baltes 1990, 22) VHN 1 | 2014 12 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG Ressourcen und die Inanspruchnahme von Hilfsmitteln oder die Unterstützung durch andere Personen. Das Modell spricht ein zentrales Bedürfnis von Menschen mit einer Hörsehbehinderung an, nämlich trotz dem Verlust oder der Einschränkung des Hör- und Sehvermögens ein so „normales“ und selbstständiges Leben wie nur möglich führen zu können. Die Strategien, die eingesetzt werden, um dieses Ziel zu erreichen oder ihm so nahe wie möglich zu kommen, werden anhand der drei beschriebenen Anpassungsprozesse näher betrachtet (s. Tab. 1). 2.2 Selektion: Man muss Prioritäten setzen können! Ein Beispiel für die Selektion findet man in den Interviews mit den hörsehbehinderten Menschen häufig dort, wo es um die Tagesstruktur und die Zeiteinteilung geht. Es wird deutlich, dass die körperliche Einschränkung einen großen Aufwand an Kraft, Zeit und Energie bedeutet. Der Mehraufwand lässt gar keine andere Wahl, als sich seine (Tages-)Ziele bewusst zu setzen und die verfügbaren Ressourcen zu „kanalisieren“. Einer Arbeit nachgehen zu können ist ein Ziel, das für die Betroffenen oft Vorrang hat. Es eröffnet die Möglichkeit, soziale Kontakte zu knüpfen und sich als integriert zu erleben, was - nebst dem Stolz auf die eigene Leistung und seine Talente - das Selbstvertrauen stärkt. Kommen aber weitere Verpflichtungen hinzu wie beispielsweise verschiedene Therapien oder Kurse, wird es schnell zu viel: „Ich brauche … ich kann nicht alles auf einmal machen, wie die Hörenden und Sehenden, mit den Terminen, und arbeiten und alles gleichzeitig machen. Ich kann das nicht, ich brauche Zeit … Und lernen mit putzen, und weiß nicht was, überall gab es Termine, nirgends war es richtig so, wie es hätte sein sollen und da hatte ich noch mit arbeiten auch noch Probleme im Rhythmus zu sein. Da habe ich alles miteinander nicht alles einhalten können. Deshalb arbeite ich jetzt nur bis am Morgen. (P9, 226 - 229) Die Anstrengung, welche die doppelte Sinnesbehinderung mit sich bringt, wirkt sich auch auf die Freizeitgestaltung und die Pflege der sozialen Kontakte aus. Stehen Ausbildung und Arbeit zuoberst auf der Zielhierarchie, erfahren die anderen Lebensbereiche zwangsläufig Abstriche, da viel Zeit für die eigene Erholung nötig ist: Und unter der Woche bin ich halt ein bisschen müde. Ja, vom Arbeiten, und auch wegen der doppelten Sinnesbehinderung, oder vom Hören, immer zuhören, und vom Schauen, und so, wird man auch schneller müde. Und unter der Woche läuft dann nicht so … ja. Also in der Primarschule bin ich sogar … am Mittwochnachmittag hatten wir immer frei, und gegen den Schluss war ich so müde, sodass ich jeweils am Mittwochnachmittag den ganzen Nachmittag schlafen ging. Das hat es schon gegeben. (P5, 86; 90) Dieser Schüler beschreibt als Ursache seiner Müdigkeit auch den Umstand, dass (Neben-) Geräusche, wie sie in Klassenzimmern oder Restaurants vorhanden sind, die Hörschwierigkeiten drastisch verstärken und sehr viel Konzentration erforderlich ist, um die Umgebung zu verstehen. Ein möglicher Umgang mit dem schwächer werdenden Hör- oder Sehvermögen besteht darin, bisherige Prioritäten aufzugeben und sich neue Ziele zu suchen: Und aber das ist jetzt innerhalb von relativ kurzer Zeit, ist es massiv schlechter geworden mit dieser Hörbehinderung. Ich habe vor ja vor etwa fünf Jahren habe ich die ersten Hörgeräte VHN 1 | 2014 13 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG Tab. 1 Übersicht zu Beispielen problemfokussierter Strategien in den Lebenslagedimensionen Dimensionen und ihre Aspekt resp. Problemfelder Problemfokussierte Strategien (Beispiele) Selektion Optimierung Kompensation Soziale Kontakte n Einsamkeit n Abhängigkeit n Kontaktaufbau, Freundschaftspflege n Vorurteile, Unsicherheiten n Wegen Belastung durch Arbeit Freizeitbeschäftigung und Kontakte einschränken n Kontakte im Internet n Keine Freunde, Kontakt mit dem, der gerade vis-à-vis ist n Rückzug, Kontakte aufgeben, sich anderen nicht zumuten n Zweiergespräche, keine Teilnahme in Gruppen n Sich beschäftigen anstatt Kontakte zu pflegen n Umzug in die Nähe von Angehörigen n Sich dafür einsetzen, dass man möglichst einfach Begleitpersonen engagieren kann n Bestehende Kontakte pflegen (alte Freunde und Angehörige) n Kontakte in Ateliergruppen SZB n Gegenleistung anbieten für Hilfe n Hilfe annehmen n Begleitperson, Dolmetscher n Anweisungen und Erklärungen über sich selbst geben n Großes Maß an Initiative, auf Leute zugehen Kommunikation n Gesprächssetting Gruppe n Umgebungslärm n Progression n Vorurteile, Unsicherheiten n Zweiergespräche suchen, keine Gruppengespräche n Ruhige Umgebung wählen n Rückzug auf Personen, welche Kommunikationsform beherrschen n So tun, als ob man es verstehen würde n Gesprächsregeln einhalten lassen (einer nach dem andern) n In FM-Anlage sprechen lassen n Wiederholen lassen n Sich wehren n Sich noch stärker konzentrieren aufs Zuhören n Hörgerät ausschalten zur Erholung n Neue Kommunikationsformen lernen (z. B. Lormen, Gebärden, Braille) n Moderne Kommunikationsmittel nutzen (SMS, E-Mail) n Mehr Zeit verlangen zum Verstehen n Anstrengung, Konzentration n Technische Hilfsmittel n Begleitperson, Kommunikationsassistenz, Dolmetscher u VHN 1 | 2014 14 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG Dimensionen und ihre Aspekt resp. Problemfelder Problemfokussierte Strategien (Beispiele) Selektion Optimierung Kompensation Informationszugang n Aktuelles Tagesgeschehen n Lernen, Wissenserwerb n Alltagsbewältigung n Soziale und kulturelle Anlässe n Selektion bzgl. Medium (TV, Zeitung im A4-Format) n Selektion bzgl. Inhalt (nur Titel lesen) n Nachfragen n Mehr Zeit einsetzen n Mehraufwand, Zeit n Technische Hilfsmittel einsetzen, z. B. PC n Vorlesen lassen n Hilfspersonen, Begleitung organisieren n Passanten fragen Arbeit n Ausbildungsplatz finden und gestalten n Verlust des Ausbildungsplatzes n Verlust des Arbeitsplatzes n Arbeit aufgeben n Freiwilligenarbeit suchen n Freiwilligenarbeit aufgeben n Tagesbeschäftigung suchen n Mehr Zeit beanspruchen n Hilfsmittel einsetzen n Mehraufwand Zeit n Technische Hilfsmittel einsetzen, z. B. PC Mobilität n Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel n Verkehrsreiche Straßen n Menschenmenge n Bekannte Wege auswählen n Zu Hause bleiben n Sich Zeit nehmen n Vorbereiten, Planen n Wege üben n Organisieren von Hilfe u. Begleitpersonen n Risiko auf sich nehmen n Vorbereiten Alltägliche Lebensverrichtungen n Haushalt n Einkaufen n Abstriche an der Qualität hinnehmen n Sich mehr Zeit nehmen n Immer in den gleichen Laden gehen n Selbstständigkeit üben n Mahlzeitendienst n Wohnen im Heim oder bei Angehörigen n Verkaufspersonal im Lebensmittelgeschäft kennen u VHN 1 | 2014 15 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG bekommen, habe aber vorher bereits immer irgendwie eben manchmal zwei bis dreimal nachfragen müssen, damit ich etwas verstanden habe und vor allem habe ich bei vielen Leuten Mühe gehabt etwas zu verstehen. Ich habe damals auch in der „Blinden Kuh“ im Service gearbeitet und dann ist das eben eigentlich auch nicht mehr gegangen. Weil einfach in diesem Rummel, habe ich gehörlich total Mühe gehabt. (P45, 5) Auch eine andere Person beschreibt, dass sie ihre Arbeit am Empfang eines Altersheims aufgeben musste, weil sie die Lichtblinkanlage nicht mehr wahrgenommen und das Gegenüber nicht mehr verstanden hat. Nach langen Diskussionen stieg sie aus dem Erwerbsleben aus und wollte in der Freiwilligenarbeit als Sterbebegleiterin tätig werden. Dieses Ziel konnte sie allerdings nie umsetzen, weil sich die Angehörigen nicht vorstellen konnten, dass „so jemand wie sie“ ihre Mutter beim Sterben begleitet (P46, 136). Neben dem Verlust von persönlichen Fähigkeiten spielen also auch einstellungsbezogene Faktoren in der Möglichkeit von neuen Zielsetzungen eine Rolle. Die Berührungsängste und Unsicherheiten der Mitmenschen waren immer wieder Thema: Ja, das merke ich. Dass sie, irgendwie Hemmungen haben. Oder … zuerst dachte ich jeweils immer, die meinen, wenn man blind ist, sei man auch dumm und so … Aber äh, es ist glaube ich einfach, dass sie unsicher sind. (P38, 247) 2.3 Optimierung bedeutet Organisation Menschen mit einer Hörsehbehinderung sind meisterhaft darin, im Hinblick auf die Zielsetzungen ihre Fertigkeiten, Ressourcen und Handlungsabläufe stets zu optimieren. Ein Beispiel ist die Organisation von Reisen. Für Betroffene ist es unmöglich, in Eile oder spontan irgendwohin zu fahren. Alle Informationen oder Hilfen, die nötig sind, müssen vorgängig eingeholt werden: Mhm, ja mit dem Bus … Gut, diejenigen, welche ich nehmen muss, die kenne ich eigentlich. Und was ich sonst mache, ich gehe …Wenn ich zum Beispiel fort gehe alleine, dann gehe … suche ich den Fahrplan heraus und drucke ihn zwei bis dreimal aus, verschiedene Zugfahrten … Im Fall, wenn ich einen verpassen sollte, damit ich weiss, wann der nächste wieder fährt. Manchmal sind die Probleme … die gelben Abfahrtafeln, wenn die so hoch oben sind, dann sehe ich … die obersten kann ich nicht lesen, nur die unteren. Daher sichere ich mich so ab. Und seit neustem, ungefähr seit einem Jahr, sagen wir zwei, habe ich mir ein Natel 7 gekauft. Wenn einmal etwas wäre, dann könnte ich anrufen. (P27, 458 - 460) Neben der Mobilität sind auch im Bereich der Kommunikation Optimierungs-Strategien auszumachen. Die Ziele, an Gesprächen in Gruppen teilzunehmen oder sein Gegenüber zu verstehen, können oft nur dann verfolgt werden, wenn Geräte wie die FM-Anlage zum Einsatz kommen oder bestimmte kommunikative Regeln (nacheinander sprechen, deutliches Mundbild, optimale Lichtverhältnisse) befolgt werden: Also ich brauche es vor allem wirklich, wenn auch teilweise im Atelier, wenn gewisse, wenn es wirklich viele ähm Umwelt ähm Störlärm hat. Das hat es dort eben auch. Wenn man sich dort begrüßt, gibt es dort automatisch auch Lärm. Aber jetzt habe ich gemerkt, dass es im Atelier mit der FM-Anlage wirklich einiges einfacher geht, dass ich dann weniger gespannt der Begleitperson zuhören muss. (P45, 458) Das Ziel, „verstehen zu können“, kann offenbar besser erreicht werden, wenn man neben Kraft und Ausdauer auch eine Portion Hartnäckigkeit mitbringt. Wenn eine hörsehbe- VHN 1 | 2014 16 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG hinderte Person an einem Gruppengespräch teilnehmen will, wie es sich in diesem Fall im Frauenverein abspielte, ist sie darauf angewiesen, dass die Teilnehmerinnen nacheinander in die FM-Anlage sprechen und nicht wild durcheinander diskutieren. Tun sie es trotzdem, werden sie von der betroffenen Frau darauf hingewiesen: Wenn viele Personen miteinander sprechen, zum Beispiel eben bei den Frauenvereinssitzungen. Da sind wir sechs Frauen und wenn irgendetwas ist, dann geht es plötzlich hin und her und dann sage ich: „He, Entschuldigung, Stopp, ich komme nicht mehr nach! “ Und da gehe ich ab und zu durch, weil ich kenne diese Frauen. Und … „Stopp, jetzt habe ich es nicht verstanden! “ „Ja es ist nicht wichtig, es geht um …“ Sage ich: „Das ist mir egal. Ich möchte es wissen, um was es geht.“ Und da ging es gerade um die Börse … Kleiderbörse, wegen der Tischaufstellung. Und sie hat gemeint, es wäre nicht wichtig für mich. Ich habe gesagt, ich möchte es trotzdem wissen. (P7, 206 - 207) Wichtig für die Zielverfolgung sind auch das Bewusstsein für die eigene Leistungsfähigkeit und das Einlegen von Pausen. Auch im folgenden Beispiel zeigt sich, wie stark gelingende Kommunikation nicht nur von den eigenen Fähigkeiten, sondern auch von jenen des Gegenübers abhängig ist: Am Tisch entsteht ja Höllenlärm. Ich, mittlerweile, ich ziehe das Hörgerät ab. Weil zum Gespräch komme ich nicht, es ist uranstrengend, ich brauche zwischendurch wirklich auch einmal eine Hörpause, aber …ja, wenn Begleitpersonen wirklich nur um die kommunikative Verbindung sich bemühen würden von uns, könnte mehr entstehen. Ist aber natürlich auch … Es sind freiwillige Mitarbeiter, man kann ihnen nicht verbieten, dass sie miteinander reden. Es ist alles, es ist kompliziert…ich hoffe, es ergeben sich einmal…ja, weitere Öffnungen. (P1, 135 - 136) 2.4 Kompensation: Zentral für Menschen mit Hörsehbehinderung Kompensation als die Reaktion auf Defizite und Verluste dürfte bei Menschen mit Hörsehbehinderungen weit verbreitet, wenn nicht gar die am meisten genutzte Strategie sein. An vorderster Front stehen hier natürlich die Hilfsmittel, die auch bei einer Seh- oder Hörbehinderung zum Einsatz kommen, wie Hörgeräte, verschiedene Vergrößerungsinstrumente und Bildschirme, tastbare Symbole und Geräte, Funkanlagen usw. Allerdings sind Maßnahmen und technische Hilfsmittel, wie sie in der Hör- oder Sehbehindertenpädagogik eingesetzt werden, bei zunehmender Hör- und Sehschädigung nicht mehr brauchbar. Deshalb spielen Gebärden- und Lormdolmetscher und sog. Kommunikationsassistentinnen sowie (im Falle der Schweiz) freiwillige Mitarbeitende des SZB eine zentrale Rolle. Natürlich hat auch das nahe Umfeld eine wichtige Funktion, wie das folgende Beispiel einer Frau im hohen Alter eindrucksvoll beschreibt: Ja und mein Mann hat mich halt schon ein bisschen verwöhnt. Er hat auch immer sofort gesehen, wenn etwas nicht grad so ging. Dann griff er sofort ein. Und er hat gut gesehen und ich habe da noch gut gehört. Und er hörte manchmal das Telefon nicht mehr. Und dann habe ich jeweils gesagt: „Weißt du, wir haben es schon patent. Du bist mein Auge und ich bin dein Ohr.“ Man konnte einander helfen, so. Und äh ja, es war wirklich schön, es war sehr schön. (P22, 444) Diese Strategien sind nicht unproblematisch, da man einerseits auf ein gut funktionierendes Hilfesystem angewiesen ist, andererseits drohen dadurch aber auch Abhängigkeit und Fremdbestimmung: P17: Meine Familie würde mich am liebsten in Watte packen und äh sagen: „(Vorname P17)…“ So wie es ab und zu tönt, ich bin nicht mehr selbstständig. Das zu unsicher, man kann akzeptieren. VHN 1 | 2014 17 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG I: Sie haben das Gefühl, man schaut Sie als nicht mehr selbstständig an? P17: Ja. Ja. Und ich protestiere und sage: „Hört, ich weiß schon, dass ihr es gut meint, ich habe Hilfe. Es geht gut“ Und sobald eben so etwas passiert, eben wie in den falschen Zug, dann geht das Thema schon los. Das weiß ich. (P17, 284 - 286) 3 Fazit Die Studie zeigt klar, dass hörsehbehinderte Personen in vielen Bereichen nicht im selben Maße partizipieren können wie Personen ohne Behinderung oder Personen mit anderen Behinderungen. Die gesellschaftlich hervorgebrachten Handlungs- und Lebensbedingungen in den oben beschriebenen Dimensionen erlauben den hörsehbehinderten Menschen die Befriedigung von in der Gesellschaft allgemein akzeptierten Lebenszielen deutlich weniger gut. Bezüglich der Verfolgung und Erfüllung dieser Ziele berichten viele Befragte dennoch von einer recht großen Selbstständigkeit, die sie durch den Einsatz unterschiedlicher Strategien erreichen. Diese Strategien sind persönliche Ressourcen der hörsehbehinderten Personen. Die zahlreichen, oft auch kreativen Strategien, die hörsehbehinderte Personen einsetzen, ermöglichen ihnen trotz Verlusten ein recht selbstständiges Leben. Laut SOK- Modell wäre das Resultat ein zwar leicht eingeschränktes, aber zufriedenes, erfolgreiches und selbstwirksames Leben (Martin/ Kliegel 2008; Baltes/ Baltes 1990). Ob und in welchem Ausmaß dies tatsächlich zutrifft, kann nur von den Betroffenen selbst beurteilt werden und müsste zusätzlich untersucht werden. In der Studie zeigen sich aber auch Grenzen dieser eingesetzten Strategien. So ist etwa ein progressiver Verlauf der Hörsehschädigung, also die ständig zunehmende Verschlechterung von Sehen und Hören, eine besondere Herausforderung. Die Betroffenen müssen sehr flexibel immer wieder neue Strategien und Mittel suchen, um beispielsweise an Informationen zu kommen, oder sie müssen neue Kommunikationsformen lernen, um weiterhin an Gesprächen teilzunehmen. Es zeigt sich, dass die oben beschriebenen Anpassungsstrategien zur Kompensation oft nicht mehr ausreichen. Aber nicht nur das Ausmaß der Schädigung hat einen Einfluss auf den Erfolg der eingesetzten Strategien. Der erfolgreiche Einsatz hängt in wesentlichem Maße auch von Umweltfaktoren ab: Wenn sich beispielsweise die Gesprächspartner nicht an die nötigen Gesprächsregeln halten oder die Arbeitgeber oder Ausbildungsanbieter die notwendigen Anpassungen und Unterstützung nicht ermöglichen, helfen die größten persönlichen Anstrengungen nichts. Der Verlust der Arbeitsstelle, der als sehr einschneidend und belastend erlebt wird, kann deshalb oft auch mit den erwähnten Strategien nicht verhindert werden. Bei zunehmender Hör- und Sehschädigung sind die Betroffenen vermehrt auf persönliche Unterstützung als Kompensation angewiesen, da die gewöhnlichen technischen Hilfsmittel, wie sie für seh- oder hörbehinderte Personen eingesetzt werden, nicht mehr benutzt werden können. Dadurch entsteht das Risiko, dass diese Kompensationsstrategie das ursprünglich angestrebte Ziel des „selbstwirksamen Lebens“ gefährdet. Einerseits ist man auf ein gut funktionierendes Hilfesystem und persönliche Unterstützung angewiesen, andererseits drohen dadurch Abhängigkeit und Fremdbestimmung. Zudem ist die persönliche Unterstützung nicht immer problemlos verfügbar. Zur persönlichen Begleitung wird häufig auf ein persönliches Netzwerk aus Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten zurückgegriffen. Wenn dieses Unterstützungsnetz fehlt, muss die Begleitung bezahlt werden, was auf- VHN 1 | 2014 18 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG grund der häufig schlechten finanziellen Situation schnell zum Problem werden kann. Für ein möglichst selbstbestimmtes Leben und eine gelingende Partizipation von hörsehbehinderten Menschen ist eine Umwelt nötig, in der die persönlichen Strategien wirkungsvoll angewendet werden können und die bereit und fähig ist, diese mit weiteren notwendigen Mitteln zur Kompensation zu ergänzen. Anmerkungen 1 Projektnummer 13DPD3-122451 2 Der Begriff der Hörsehbehinderung wird hier demjenigen der Taubblindheit bewusst vorgezogen, da das Phänomen, welches wir als Taubblindheit bezeichnen, nicht nur dann vorliegt, wenn jemand absolut nichts sieht und auch überhaupt nichts hört. 3 Unter Berücksichtigung der relevanten Lebenslagedimensionen, die für verschiedene Bevölkerungsgruppen eigens bestimmt werden müssen, da sie nicht für alle von gleicher Bedeutung sind. 4 Eine ausführliche Darstellung der Resultate findet sich im Schlussbericht (Adler u. a. 2011) unter http: / / www.hfh.ch/ webautor-data/ 70/ Le benslage_taubblinder_Menschen_Jan2011.pdf. Eine zusammenfassende Darstellung der Resultate findet sich im Themenheft (Spring u. a. 2011) unter http: / / www.hfh.ch/ webautor-da ta/ 70/ Taubblindheit_Tatsachen_deutsch.pdf. 5 Diese Altersgruppe wurde so breit gewählt, da die Phase der Berufsfindung bei Personen mit Hörsehbehinderung oft länger dauert als bei Personen ohne Behinderung. 6 CHARGE ist eine Abkürzung aus den (englischen) Anfangsbuchstaben der sechs häufigsten damit verbundenen Symptome: Coloboma (Kolombon des Auges, ein Sehfehler), Heart Defects (Herzfehler), Atresia choanae (Atresie der Choanen, enger Nasengang), Retarded growth (verzögertes Wachstum), Genital hypoplasia (unterentwickelte Geschlechtsorgane), Ear anomalia (Fehlbildungen des Ohres); vgl. http: / / www.charge-syndrom.de/ index.php/ 10/ (1. 8. 2011) 7 Natel: Mobiltelefon, Handy Literatur Adler, J.; Wohlgensinger, C. (2007): Vorstudie zur Taubblindheit in der Schweiz. Zürich: HfH. Online unter: http: / / www.hfh.ch/ webautordata/ 70/ 457_Vorstudie_Taubblindheit.pdf, 3. 4. 2011 Adler, J.; Wohlgensinger, C.; Meier, S.; Hättich, A. (2011): Zur Lebenslage hörsehbehinderter und taubblinder Menschen in unterschiedlichen Lebensabschnitten in der Schweiz. Zürich: HfH. Online unter: http: / / www.hfh.ch/ webautor-data/ 70/ Lebenslage_taubblinder_ Menschen_Jan2011.pdf, 3. 4. 2011 Baltes, P. B.; Baltes, M. M. (1989): Optimierung durch Selektion und Kompensation. In: Zeitschrift für Pädagogik 35, 85 -105 Baltes, P. B.; Baltes, M. M. (1990): Psychological Perspectives on Successful Aging: The Model of Selective Optimization with Compensation. In Baltes, P. B.; Baltes, M. M. (Eds.): Successful Aging: Perspectives from the Behavioral Sciences. New York: Cambridge University Press, 1 -34 Flick, U. (2002): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. 6. Aufl. Reinbek: Rowohlt Folkman, R. S. (1990): Stress und Stressbewältigung - Ein Paradigma. In: Filip, S.-H. 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Opladen: Leske & Budrich VHN 1 | 2014 19 JUDITH ADLER, CORINNE WOHLGENSINGER Marsmännchen sind auf der Erde einsam FACH B E ITR AG Knoors, H.; Vervloed, M. (2003); Educational Programming for Deaf Children with Multiple Disabilities. Accommodating Special Needs. In: Marschak, M.; Spencer, P. (Eds.): Deaf Studies, Language and Education. Oxford: Oxford University Press, 82 -94 Lamnek, S. (1995): Qualitative Sozialforschung. Band 2. Methoden und Techniken. 3., korr. Aufl. Weinheim: Beltz Lemke-Werner, G. (2001): Hörsehgeschädigte Kinder mit CHARGE-Assoziation. Eine Information über die Symptome und über Erfahrungen mit Kindern mit CHARGE-Assoziation in der Frühförderung. In: Blind, sehbehindert 121, 20 -24 Martin, M.; Kliegel, M. (2008): Psychologische Grundlagen der Gerontologie. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer Mayring, P. (1997): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 6., durchgesehene Aufl. Weinheim: Deutscher Studien Verlag Ravn Olesen, B.; Jansbol, K. 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