eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen begegnen

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2014
Helga Schlichting
Das Erkennen, die Behandlung und die Begleitung von Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen sind Themen, die sowohl von der Medizin, der Pflege und auch der Heil- bzw. Sonderpädagogik vernachlässigt werden. Dabei ist diese Personengruppe mehr als jede andere in besonderer Weise von Schmerzen betroffen. Der vorliegende Beitrag beginnt mit einer Klärung des Schmerzbegriffes und nennt dann die Gründe, weshalb Menschen mit schweren Behinderungen häufig Schmerzen haben. Danach werden die Mechanismen der Entstehung chronischer Schmerzen bezogen auf den Personenkreis erklärt. Auf der Basis dieser Vorüberlegungen werden Forderungen an die Begleitung betroffener Menschen in ihrem Alltag abgeleitet. Fragen des sensiblen Wahrnehmens von Schmerzen durch die pädagogischen Mitarbeiter/innen sowie der interdisziplinären Zusammenarbeit werden ebenso thematisiert wie die Förderung von Menschen mit schweren Behinderungen angesichts von Schmerzen.
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137 VHN, 83. Jg., S. 137 -148 (2014) DOI 10.2378/ vhn2014.art10d © Ernst Reinhardt Verlag FACH B E ITR AG Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen begegnen Fragen einer palliativen Pädagogik Helga Schlichting Universität Leipzig Zusammenfassung: Das Erkennen, die Behandlung und die Begleitung von Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen sind Themen, die sowohl von der Medizin, der Pflege und auch der Heilbzw. Sonderpädagogik vernachlässigt werden. Dabei ist diese Personengruppe mehr als jede andere in besonderer Weise von Schmerzen betroffen. Der vorliegende Beitrag beginnt mit einer Klärung des Schmerzbegriffes und nennt dann die Gründe, weshalb Menschen mit schweren Behinderungen häufig Schmerzen haben. Danach werden die Mechanismen der Entstehung chronischer Schmerzen bezogen auf den Personenkreis erklärt. Auf der Basis dieser Vorüberlegungen werden Forderungen an die Begleitung betroffener Menschen in ihrem Alltag abgeleitet. Fragen des sensiblen Wahrnehmens von Schmerzen durch die pädagogischen Mitarbeiter/ innen sowie der interdisziplinären Zusammenarbeit werden ebenso thematisiert wie die Förderung von Menschen mit schweren Behinderungen angesichts von Schmerzen. Schlüsselbegriffe: Schmerz, schwere Behinderung, palliative Pädagogik Facing Pain from People with Severe Disabilities - Questions of Palliative Education Summary: The recognition, treatment, and support of pain from people with severe disabilities were disregarded themes in medicine, care and special education for a long time. Even though, this group of persons has to deal with pain much more than any other. The present article describes trough the definitions of pain from different perspectives, why people with severe disabilities often suffer from pain. In the following, it describes different models of causes of chronic pain within this group of persons. On the basis of these considerations, some demands are stated, which are meaningful for the support of these people in everyday life. Different approaches of the sensitive perception of pain through the staff and the importance of an interdisciplinary cooperation are discussed. Furthermore, possibilities of educational support and aids are considered. Keywords: Pain, severe disability, palliative education 1 Anmerkungen zum Schmerzbegriff Schmerz gilt als subjektives Empfinden einer physischen Erkrankung. Gemäß der allgemeinen Definition der IASP 2 (International Association for the Study of Pain) ist Schmerz „eine unangenehme sensorische und emotionale Empfindung einer bestehenden oder möglichen Gewebsschädigung, die entweder mit dieser Gewebsschädigung einhergeht oder Ausdruck der Schädigung ist“ (IASP2 1979 in Belot 2009, 89). In dieser Definition wird anerkannt, dass das Erleben von Schmerz auf mehreren Ebenen VHN 2 | 2014 138 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG stattfindet und dass Schmerz auch losgelöst von nachweisbaren oder beweisbaren verletzungsbedingten Veränderungen an Geweben existiert. Der Schmerzpatient muss demzufolge seine Schmerzen nicht beweisen (Belot 2009, 89). Allein der Ausdruck von Schmerzen sollte Hilfemaßnahmen auslösen! Das Erleben von Schmerzen findet auf verschiedenen Ebenen statt: n Auf der sensorischen Ebene: Der Schmerz kann gefühlt und unterschieden werden, er kann stechend, bohrend, dumpf… sein. n Auf der affektiven bzw. emotionalen Ebene: Der Schmerz greift an, macht Angst, ermüdet, erschöpft, deprimiert… n Auf der kognitiven Ebene: Der Schmerz lenkt die Aufmerksamkeit, beeinflusst Prozesse der Antizipation, der Interpretation und des Verständnisses (und wird natürlich auch durch diese beeinflusst)… n Auf der Verhaltensebene: Der Schmerz führt zu verändertem Verhalten und sprachlichen sowie nichtsprachlichen Äußerungen. (Belot 2009, 89) Aufgrund der schwerwiegenden Auswirkungen, die Schmerz auf die verschiedenen Persönlichkeitsbereiche eines Menschen ausübt, ist davon auszugehen, dass er bei Betroffenen zu Leid bzw. zum Leiden führt. Leid - als der weiter gefasste Terminus - ist der Inbegriff aller negativen menschlichen Widerfahrnisse, wie Misserfolge, das Scheitern in Beziehungen sowie in Schule oder Beruf, Krankheit, Schicksalsschläge, soziale Isolation, Demütigung und Benachteiligung (Höffe 2008, 179). Dabei ist Schmerz genauso wie Leid ein subjektiv erlebter Zustand, der nicht geteilt und der nur annähernd von einem Gegenüber beurteilt oder nachempfunden werden kann. 2 Menschen mit schweren Behinderungen sind oft vom Lebensbeginn an von Schmerzen betroffen Menschen mit schweren Behinderungen haben viel öfter als andere Menschen akute und chronische Schmerzen. Häufige Schmerzzustände und ihre Ursachen sind in Tabelle 1 aufgelistet. 74 % der Menschen mit Körperbehinderungen, die sich verbal äußern können, berichten, dass sie täglich einmal Schmerzen haben; 84 % leiden an chronischen Schmerzen und bei 67 % wird das tägliche Leben durch Schmerzen negativ beeinflusst (Hasan/ Müller 2009). Schon am Lebensbeginn sind viele Säuglinge mit schweren Behinderungen oder zu früh geborene Kinder von gravierenden medizinischen Komplikationen wie Atemnot, Störungen der Herz-Kreislauf-Tätigkeit und schwerwiegenden Organschäden, die mit dem Erleben von Schmerzen und Lebensbedrohung verbunden sind, betroffen. Aufgrund von Begleit- und Folgeerscheinungen einer schweren Körperbehinderung müssen sich viele Betroffene bereits im Kindesalter größeren Operationen wie z. B. Kontraktionsoperationen im Bereich der Gelenke, Wirbelsäulenoperationen, komplizierten Zahnextraktionen (Zahnentfernungen) und neurochirurgischen Eingriffen unterziehen, die mit mehr oder weniger starken Schmerzerfahrungen verbunden sind (Zernikow 2009, 121). Betroffene Menschen sind des Weiteren von einer Vielzahl pflegerischer, therapeutischer und medizinischer Interventionen abhängig, die ihrerseits Schmerzen hervorrufen können. So verursachen behandlungspflegerische Maßnahmen wie etwa das Absaugen oder das Abführen unangenehme Empfindungen bis hin zu Schmerzen. Medizinische Diagnostik wie Blutentnahmen, Magensowie Darmspiegelungen sind Eingriffe, die zu Schmerzen führen können (s. Tab. 1). VHN 2 | 2014 139 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG Aber auch die alltäglichen Verrichtungen in Schule, Fördereinrichtung und Heim können Schmerzen auslösen: n Bei der Zahnpflege kann eine „ungeschickt“ eingeführte Zahnbürste, die an einen schmerzhaften kariösen Zahn gelangt, Schmerzen verursachen. n Beim Essen Eingeben kann das Verschlucken mit nachfolgendem, kaum stillbarem schmerzhaftem Husten einhergehen. n Beim Heben und Tragen kann ein unprofessionelles Anfassen in den Gelenken Schmerzen auslösen. n Beim Bewegen in eine neue Position kann ein Drehen über eine luxierte (ausgekugelte) Hüfte oder über eine subluxierte (der Oberarmkopf hat sich aus der Gelenkpfanne bewegt) Schulter Schmerzen verursachen. n Ein zu langes Verharrenmüssen in einer Position oder eine ungünstige Lagerung können Schmerzen hervorrufen. In der folgenden Tabelle sind häufige Schmerzursachen der betroffenen Personengruppe zusammengefasst. Von „Innen“ Von „Außen“ Mund- und Zahnschmerzen infolge Karies, Zahnfehlstellungen, Aphten, … Muskel- und Gelenkschmerzen infolge Spastik, Luxationen (Auskugelungen), Skoliosen, Knochenreibungen, Kontrakturen, … Bauchschmerzen infolge Transportstörungen im Magen-Darm-Trakt, Obstipation (Verstopfung), Blähungen, … Schmerzen infolge Reflux (Rückfluss von Mageninhalt), Speiseröhrenentzündung, Magenschleimhautentzündungen, … Kopfschmerzen infolge Ableitungsstörungen bei einer Shuntversorgung bei der Behandlung eines Hydrozephalus (Über- oder Unterdruck), nach epileptischen Anfällen, … Schmerzen infolge von Verschlucken, Aspiration. Menstruationsbeschwerden. Schmerzen bei Bronchitis, Lungenentzündung, … Schmerzen infolge Entzündungen der Nieren bzw. ableitenden Harnwege, … Schmerzen infolge selbstverletzenden Verhaltens. Schmerzen infolge von Maßnahmen der Behandlungspflege: n Absaugen n Sondenversorgung (entzündete Sonde) n Katherisieren n Abführen, „Ausräumen“ n … Schmerzen bei Maßnahmen der medizinischen Diagnostik: n Blut abnehmen n Orthopädische Diagnostik n … Schmerzen nach Operationen. Schmerzen infolge zu langer Lagerung in einer Position bzw. ungünstiger Lagerung. Schmerzen bei Druckstellen und Dekubitus. Schmerzen beim Tragen von Orthesen, Korsetts, … Schmerzen beim nicht fachgerechten Positionieren im Rollstuhl bzw. bei ungünstiger oder falscher Rollstuhlanpassung. Schmerzen beim Stehen im Stehgerät. Schmerzen beim nicht fachgerechten Heben und Tragen. Schmerzen bei physiotherapeutischen Behandlungen, beim „Aufdehnen“ von Kontrakturen, … Tab. 1 Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen (in Anlehnung an Nüsslein 2009, 74) VHN 2 | 2014 140 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG Es ist noch gar nicht lange her, da herrschte in der Medizin die Auffassung, dass Menschen mit (schweren) geistigen Behinderungen ein reduziertes Schmerzempfinden hätten. Dementsprechend erhielten sie bei medizinischen und pflegerischen Eingriffen oft keine oder wenig Schmerzmittel. Auch heute noch bekommen die Betroffenen weniger Schmerzmedikamente als jede andere Personengruppe (Zernikow 2009; Hasan/ Müller 2009). Nachweislich werden ihnen nach Operationen und am Lebensende deutlich weniger Opioide verabreicht. Dabei gilt: Je schwerer die Behinderung, desto weniger Schmerzmittel erhält die betroffene Person. Bei der Diagnostik und der Behandlung von Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen sind viele Ärzte unsicher und verfügen über wenig Kompetenzen. Insgesamt gilt die Versorgung dieser Personengruppe hinsichtlich einer befriedigenden Schmerztherapie als völlig unzureichend (Zernikow 2009, 122). Eine Hauptursache dafür sind die Schwierigkeiten der betroffenen Menschen, ihren Schmerz so mitzuteilen, dass die Umgebung darauf aufmerksam wird. Sie müssen es deshalb oft hinnehmen, dass ihre Schmerzen lange nicht erkannt und behandelt werden. Schmerz kann immer dann besser bewältigt werden, wenn Betroffene wissen, „… warum er auftritt, wie lange er dauert und welche Möglichkeiten es gibt, den Schmerz zu verändern“ (Lautenbacher 2009, 185). All dies können Menschen mit schweren Behinderungen nicht. Sie können Schmerzzustände nicht einordnen und sich deren Ursachen nicht erklären. Sie wissen nicht, wie lange der Schmerz anhält, und sie kennen auch keine Möglichkeiten zur Schmerzreduktion. Menschen mit schweren Behinderungen werden sozusagen vom Schmerz überfallen, können ihm keinen Sinn zuordnen und ihn deshalb wahrscheinlich viel weniger gut bewältigen als andere. 3 Chronische Schmerzen - wahrscheinlich ein besonderes Problem Von ihrer Entstehung und Wirkung her unterscheidet man den akuten und den chronischen Schmerz. Bei akutem Schmerz sind innere oder äußere Gewebeschädigungen die Ursache. Die Intensität korreliert dabei mit der Stärke des auslösenden Reizes und ist klar lokalisierbar. Akuter Schmerz ist ein Warnsignal des Körpers und hat in diesem Sinne eine Schutzfunktion (Hasan/ Müller 2009). Chronischer Schmerz gilt dagegen als eigenständige Erkrankung, die abgekoppelt von der auslösenden Schädigung verläuft. Es ist heute bekannt, dass er aus dem Einwirken von akuten Schmerzen entsteht. Dabei verändern häufige sowie anhaltende Schmerzreize die Schmerzweiterleitung und -verarbeitung. Auf allen Ebenen, an den Schmerzrezeptoren in der Peripherie, im Rückenmark sowie im Gehirn, sind Mechanismen eingebaut, durch die sich bei länger anhaltenden Reizen die Empfindlichkeit verstärken kann. Häufige Schmerzreize führen im Gehirn und im Rückenmark zu tiefgreifenden biochemischen und physiologischen Veränderungen. So können sich die Projektionsfelder im Gehirn für die verschiedenen Bereiche des Körpers verschieben, wenn aus einer bestimmten Region anhaltende Schmerzreize eintreffen. Bei einem Menschen mit chronischen Rückenschmerzen breitet sich beispielsweise das Projektionsgebiet für den Rücken in der Großhirnrinde in benachbarte Areale aus. Dabei gilt, je größer die Ausweitung, desto stärker ist die Schmerzwahrnehmung des Betroffenen. Deshalb ist es so wichtig, dass akute Schmerzen sofort und vor allem wirkungsvoll behandelt werden. Es muss unbedingt verhindert VHN 2 | 2014 141 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG werden, dass das Nervensystem einer Person überempfindlich reagiert, sich akute Schmerzwahrnehmungen im Gedächtnis verfestigen und damit eine Chronifizierung droht. Dies gilt für alle Eingriffe oder Erkrankungen, die mit starken Schmerzen verbunden sind, wie zum Beispiel Verletzungen oder Operationen, Überlastungen des Bewegungsapparates (z. B. Rückenwirbel- oder Gelenkschädigungen) oder häufig wiederkehrende Kopfschmerzen, wie sie beim betroffenen Personenkreis nicht selten anzutreffen sind (BMBF 2001, A9 - A11). Menschen mit schweren Behinderungen sind in zweifacher Weise gefährdet: Weil sie Schmerz zumeist nicht erfolgreich mitteilen können, wird er oft erst spät erkannt und behandelt. Wegen der Unsicherheiten bezüglich der Dosierung von Schmerzmedikamenten, gerade bei Kindern und Jugendlichen mit schweren Behinderungen, werden Schmerzen oft auch nicht ausreichend behandelt. Schmerzmittel brauchen aber eine bestimmte gewichtsabhängige Wirkdosis, sonst erleidet die betroffene Person trotzdem Schmerzen. Man ist heute davon überzeugt, dass bei der Entstehung von chronischen Schmerzen noch weitere Faktoren, insbesondere psychische und soziale, eine Rolle spielen. So führen Ängste, Sorgen, Unruhe und Unsicherheit, die gerade schwer behinderte Menschen aufgrund sensorischer und kognitiver Beeinträchtigungen häufig erleben, zur Verstärkung von chronischen Schmerzen. Bei der Entstehung von chronischen Schmerzen sind auch Vorerfahrungen mit Schmerzen von Bedeutung. Hat ein Mensch belastende Erlebnisse in Bezug auf Schmerzen bzw. musste er erleben, dass diese sehr stark waren, lange angedauert haben und niemand geholfen hat, wird er beim erneuten Auftreten von Schmerzen all diese Wahrnehmungen aktualisieren und schon bei kleinsten Reizen mit Angst und Panik reagieren. Untersuchungen zeigen, dass traumatische Schmerzerfahrungen im Säuglings- und Kindesalter, wie beispielsweise Beschneidungen von männlichen Säuglingen ohne Narkose (Taddio 1997 in Merkle/ Egle 2001, 499), im späteren Leben zu verändertem Schmerzerleben und -verhalten führen. „Die Erinnerung an vergangenen Schmerz kann einen Menschen überkommen, einmauern und am Leben der Gegenwart und der Zukunft hindern - es gibt ein Schmerzgedächtnis.“ (Belot 2009, 93) Denkt man an die Vielzahl der medizinischen Eingriffe und Operationen, die bei Menschen mit schweren Behinderungen zumeist schon im Säuglings- und Kleinkindalter vorgenommen werden, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Betroffenen traumatisierende Schmerzerfahrungen gemacht haben. Inwieweit solche Eingriffe als existenzielle Lebensbedrohungen mit einer Überflutung von Angst- und Ohnmachtsgefühlen wahrgenommen werden, lässt sich nur erahnen. So schreibt Fuchs (2011, 78), dass große medizinische Eingriffe, die mit starken Schmerzen verbunden sind, letztlich immer zu einer Verletzung der leiblichen Integrität führen. Das Erleben von Schmerzen hat, wie schon beschrieben, große Auswirkungen auf viele physiologische und psychologische Prozesse. Gerade für Menschen mit schweren Behinderungen und einer cerebralen Bewegungsstörung ergeben sich daraus vielfältige weitere Probleme. Schmerzen führen zu einer erhöhten Körperspannung; eine vorhandene Spastizität verstärkt sich. Dies wiederum bewirkt eine gepresste und eingeschränkte Atmung. Sauerstoffmangel im Körper erhöht wiederum Spastizität, die letztlich selbst Schmerzen hervorruft. Schmerzen und Atemnot bewirken ihrerseits das Erleben von Stress, Angst und Panik - das Schmerz- und das Stresszentrum liegen im Gehirn dicht beieinander und beeinflussen sich gegenseitig. Bei Schmerzen kommt es zur Ausschüttung von Stresshormonen und VHN 2 | 2014 142 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG einer starken Erregung des vegetativen Nervensystems, was wiederum Schmerzen und Spastik verstärkt und die Atemnot verschlimmert. Gelingt es nicht, diesen Kreislauf zu durchbrechen, erlebt der betroffene Mensch immer wieder solche sich selbst verstärkende „Stressschleifen“ (Atmanspacher 2011). 4 Schmerzen im pädagogischen Alltag begegnen - Aspekte einer „Palliativen Pädagogik“ Der Begriff einer „Palliativen Pädagogik“ wurde zum ersten Mal von Fröhlich (2012, 136ff) benutzt. Der Autor betont, dass sich die Heilpädagogik genauso wie die Medizin, die Pflege- und die Therapiewissenschaften den Lebensthemen von Menschen mit schwerer Behinderung, zu denen Schmerzen ganz wesentlich gehören, stellen muss. Palliative Pädagogik ist dabei als Teilaspekt von Pädagogik zu verstehen, der immer dann wirksam werden muss, wenn Menschen Schmerzen, Ängste und Lebensbedrohung erleben. Dabei muss es der palliativen Pädagogik, genauso wie der palliativen medizinisch-pflegerischen Versorgung, um eine Verbesserung bzw. bestmögliche Erhaltung von Lebensqualität sowie die Berücksichtigung von Wünschen und Vorstellungen betroffener Menschen gehen. Der Begriff „palliativ“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Mantel bzw. bemänteln oder umhüllen. Palliative Pädagogik meint also eine schützende, umhüllende und tröstende Pädagogik, die Menschen mit schweren Behinderungen und Schmerzen neben Bildung und Erziehung besondere Sicherheit und Geborgenheit geben sowie größtmögliches Wohlbefinden verwirklichen möchte. Was sollte palliative Pädagogik umfassen? 4.1 Genaues Beobachten Schmerzen müssen gerade bei Menschen mit schweren Behinderungen unbedingt erkannt und möglichst wirkungsvoll behandelt werden. Dies ergibt sich einerseits aus dem Anspruch auf Würde und Achtung der Person, die eine unbedingte Leidvermeidung einschließt, und andererseits aus den Erkenntnissen über die Entstehung chronischer Schmer- Schmerzen (körperlich, seelisch) Atmung Spastik Angst, Panik, Stress Abb. 1 Verstärkung von Schmerzen, Spastik und Verschlechterung der Atemsituation (eigener Entwurf) VHN 2 | 2014 143 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG zen. Dies setzt ein Klima achtsamer Fürsorge voraus. Pädagogische Mitarbeiter/ innen sind angehalten, genau zu beobachten und alle Äußerungen des betroffenen Menschen ernst zu nehmen. Menschen mit schweren Behinderungen können ihre Schmerzen, deren Art, Lokalisierung und Stärke nicht sprachlich, sondern nur über körperliche Ausdrucksformen mitteilen. Körperliche Signale, die auf Schmerzen hindeuten können, sind beispielsweise Stöhnen, Jammern, Appetitlosigkeit, Verstärkung von Spastik, Schwitzen oder Frieren, eine beschleunigte und flache Atmung oder auch das Auftreten oder die Verstärkung von selbstverletzendem Verhalten. Jeder Mensch hat dabei seine individuellen Ausdrucksformen. Bezüglich des Erkennens von Schmerzzuständen wurde festgestellt, dass eine einfache Beobachtung nicht ausreicht, sondern dass spezifische Messinstrumente für diesen Personenkreis entwickelt werden müssen. Es zeigte sich, dass es bei den Mitarbeiter/ innen große Unterschiede in der Wahrnehmung und Beurteilung von Schmerzen gibt. Aus diesen Erkenntnissen heraus entwickelten einige Ärzteteams spezielle Schmerzskalen für Menschen bzw. Kinder mit schweren Behinderungen, die sich gut dafür eignen, Schmerzen bzw. die Veränderung von Schmerzzuständen bei den Betroffenen relativ zuverlässig zu beurteilen. Belot u. a. (2009) entwickelten hierzu die sog. EDAAP-Skala. Diese besteht aus verschiedenen Items, die mit Punkten bewertet werden. Dabei wird einerseits der Ausdruck der somatischen Veränderungen beurteilt. Dazu gehören somatische Beschwerden, die durch Weinen, Schreien und weitere Lautäußerungen zum Ausdruck gebracht werden, Schonbzw. Schutzhaltungen, die eingenommen werden, und das Auftreten von Schlafstörungen. Andererseits wird der Ausdruck der psychomotorischen und körperlichen Veränderungen beurteilt. Dazu gehören beispielsweise Änderungen im Muskeltonus und in der Mimik, Veränderung von Kommunikationsweisen oder im Interesse an der Umwelt. Für die Einschätzung von Schmerzen bei Kindern mit schweren Behinderungen wurde als Schmerzmessinstrument das Paediatric Pain Profile (Hunt 2006 in Zernikow 2009, 122) entwickelt. Ähnlich wie bei der EDAAP-Skala werden körperliche Ausdrucksformen beurteilt. Die folgende Tabelle zeigt auszugsweise In den letzten Stunden Name: … überhaupt nicht ein wenig ziemlich (oft) sehr (häufig) nicht einschätzbar Punkte war gesellig oder reagierte auf Kontakt 3 2 1 0 0 sah ängstlich aus (mit weit geöffneten Augen) 0 1 2 3 0 zeigte selbstverletzendes Verhalten (z. B. biss sich oder schlug mit dem Kopf) 0 1 2 3 0 aß widerwillig/ war schwer zu füttern 0 1 2 3 0 … Tab. 2 Auszug aus dem Paediatric Pain Profile (Hunt 2006 in Zernikow 2009, 122) VHN 2 | 2014 144 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG einige Items, die im Paediatric Pain Profile bewertet werden. Diese werden zunächst im Zustand relativen Wohlbefindens beurteilt, und es wird ein sog. Basiswert ermittelt. Werden Schmerzen vermutet, werden die Items wiederum beurteilt. Es wird davon ausgegangen, dass bei einer Steigerung des Punktwertes um +7 Schmerzen vorliegen. Nach der Gabe von Schmerzmedikamenten muss der Basiswert wieder erreicht werden, nur dann ist von einer ausreichenden Wirksamkeit auszugehen. Die genannten Schmerzskalen können im Alltag, in der Schule, im Förderbereich oder im Heim unkompliziert eingesetzt werden. Immer, wenn Mitarbeiter/ innen Schmerzen vermuten, sollte eine solche konkrete Evaluation durchgeführt werden. 4.2 Interdisziplinäre Zusammenarbeit Um Schmerzen nachhaltig auszuschließen, ist es wichtig, die Ursachen festzustellen und wenn möglich zu behandeln. Diese Suche ist bei Menschen mit schweren Behinderungen nicht einfach und erfordert eine genaue Beobachtung und Interpretation von Anzeichen in verschiedenen Kontexten, idealerweise durch Personen, die die Betroffenen gut kennen. Beobachtungen, ob Schmerzäußerungen bei bestimmten Bewegungen, beim oder nach dem Essen, beim Atmen, überwiegend nachts usw. auftreten, können die Ursachensuche erleichtern. Weiter muss natürlich eine eingehende medizinische Diagnostik durchgeführt werden. Hier ist eine intensive Zusammenarbeit von pädagogischen Mitarbeiter/ innen, Eltern, Ärzt/ innen des SPZ und Pflegefachkräften von grundlegender Bedeutung. So müsste die aktuelle Schmerzsituation durch die genannten Fachleute regelmäßig besprochen, Schmerzprotokolle gemeinsam ausgewertet und über eine wirksame Schmerzmedikation beraten werden. In Einrichtungen muss es möglich sein, bei Bedarf Schmerzmittel zu geben, bürokratische Hindernisse und Ängste seitens der Mitarbeiter/ innen müssen hier abgebaut werden. Leider ist das Bewusstsein der Ärzt/ innen der SPZ und Praxen noch nicht ausreichend entwickelt, und es gibt nur wenige Palliativärzte, die sich auf den Personenkreis der Kinder bzw. Erwachsenen mit schweren Behinderungen spezialisiert haben. 4.3 Ausreichendes Wissen Zur genauen Beobachtung, einer ersten Ursachensuche und für eine schnelle Hilfe ist ein grundlegendes Wissen über Schmerzen nötig. Pädagogische Mitarbeiter/ innen müssen die hauptsächlichen Schmerzursachen, wie sie in den obigen Tabellen dargestellt sind, kennen. Mitarbeiter/ innen sollten einfache Möglichkeiten und „Hausmittel“ kennen, um leichte Schmerzen lindern zu können, wie z. B. die Verwendung eines Bauchwickels oder Körnerkissens sowie die Durchführung einer Darmmassage bei Blähungen und Verstopfungen oder Einreibungen und einfache Inhalationen bei einer Atemwegserkrankung. Dazu sollten sie auch den interdisziplinären Austausch mit therapeutisch und pflegerisch ausgebildeten Mitarbeiter/ innen suchen. 4.4 Ernst nehmen Ob und wie pädagogische Mitarbeiter/ innen Schmerzen bei den ihnen anvertrauten Menschen wahrnehmen und bewerten, hängt wesentlich von ihren eigenen Einstellungen und Bewältigungsmustern ab. So gibt es Menschen, die kaum eine Toleranz bei Schmerzen haben, sofort zu Schmerzmitteln greifen und einen Arzt aufsuchen. Andere verdrängen Schmerzen oder haben gelernt mit ihnen umzugehen und lehnen eine Medikation ab. Mit- VHN 2 | 2014 145 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG arbeiter/ innen sollten darüber nachdenken, ob sie bei Schmerzen eher zu dramatischen Reaktionen neigen oder ob sie Schmerzen bagatellisieren. Beides ist in der Praxis mit Menschen mit schweren Behinderungen eher nicht hilfreich (Fröhlich 2012, 138f). Grundsätzlich werden Schmerzen von jedem Menschen individuell wahrgenommen. So können wohl Schmerzäußerungen beim anderen beobachtet werden, ein Nachempfinden ist aber nicht wirklich möglich. Pädagogische Mitarbeiter/ innen können nur auf ihre eigenen Erfahrungen mit Schmerzen zurückgreifen. So bestehen wahrscheinlich Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung von Schmerzen, wenn Mitarbeiter/ innen selbst häufig von Schmerzen betroffen sind oder wenn sie kaum Erfahrungen damit haben. Mitarbeiter/ innen, die regelmäßig infolge einer Migräne, rheumatischer oder orthopädischer Erkrankungen unter Schmerzen leiden, wissen, wie diese alle Lebensaktivitäten beeinträchtigen und wie viel Energien es kostet, mit Schmerzen den Alltag zu bewältigen. Möglicherweise können sie deshalb empathischer auf andere betroffene Menschen eingehen. Es ist grundsätzlich festzuhalten, dass Schmerzäußerungen eines Menschen immer ernst genommen werden müssen. Nichts ist schlimmer als eine Bagatellisierung von Schmerzen! Ein schreiendes Kind mit Behinderungen kann nicht dadurch beruhigt werden, dass man ihm mit Worten klar macht, dass es gar nicht so weh tue … (Fröhlich 2012, 138). Es gilt sich bewusst zu machen, dass ein „schmerzender Körper…immer ein schmerzender Mensch [ist]“ (ebd., 139). Oft stehen Mitarbeiter/ innen aus Unwissenheit, aber auch, weil sie mit dem Thema alleingelassen werden, den Schmerzen eines Menschen hilflos gegenüber. Das kann dazu führen, dass sie abstumpfen oder irgendwann das jammernde Kind bzw. den Erwachsenen ignorieren. So schreibt Fröhlich: „Ein ständig jammerndes Kind, dem man ,nichts recht machen kann‘, wird im Laufe der Zeit mit seinem ,Gejammer‘ zum Störfaktor, den man umgeht, vermeidet. Die eigene Hilflosigkeit vor Augen geführt, möchte man den Kontakt lieber meiden, das Gejammere ignorieren. Man legt sich eine dickere Haut zu, lässt sich von den Schmerzäußerungen nicht mehr so stark berühren.“ (Fröhlich 2012, 139) Mitarbeiter/ innen sind dazu angehalten, im tätigen Sinn „mit zu leiden“, vermutete Schmerzen sollten immer mit helfenden Handlungen beantwortet werden. Ein passives „Mitleid haben“ kann zu eben solchen Abwehrreaktionen, wie Schmerzen nicht mehr sehen und hören zu können, führen. Schmerzen müssen demzufolge unmittelbar beantwortet werden: Einerseits indem Mitarbeiter/ innen Trost in Form von beruhigenden Worten und körperlicher Zuwendung spenden, andererseits müssen aber für den Bedarfsfall auch wirkungsvolle Schmerzmedikamente zur Verfügung stehen. Werden Schmerzen ignoriert oder bagatellisiert, besteht die Gefahr, dass ein betroffener Mensch noch mehr Ängste, Stress und Hilflosigkeit erlebt, mit selbstverletzendem Verhalten reagiert oder sich zu einem totalen Rückzug entschließt (ebd.). 4.5 Schmerzen begleiten Angesichts von Schmerzen und erlebter körperlicher Bedrohung sollte eine „Palliative Pädagogik“ umhüllen, trösten und schützen sowie größtmögliches Wohlbefinden vermitteln. Der pädagogische Anspruch, den Korczak (1970 in Rest 2006, 40) als „Recht des Kindes auf den heutigen Tag“ bzw. die gegenwärtige Stunde und den Augenblick formuliert, erfährt unter den Bedingungen von Schmerzen VHN 2 | 2014 146 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG eine besondere Bedeutung. „Wir sollten jeden einzelnen Augenblick achten, denn er stirbt und wiederholt sich nicht, und immer sollten wir ihn ernst nehmen; wird er verletzt, so bleibt eine offene Wunde zurück, wird er getötet, so erschreckt er uns als ein Gespenst böser Erinnerungen …“ (ebd.) Die pädagogische Aufforderung besteht darin, den Tag für den betroffenen Menschen bestmöglich zu gestalten. Dazu müssen Bezugspersonen dessen augenblickliche Befindlichkeit sehr aufmerksam beobachten, versuchen, sich einzufühlen und daraus die Frage zu stellen: Was könnte JETZT für diesen Menschen wichtig und bedeutsam sein? Daut (2011, 100) fordert von Mitarbeiter/ innen, „inne zu halten“, genau „hin zu spüren“ und „hin zu hören“, was sie gerade im Kontakt mit den Menschen erleben, die sie betreuen, und was das über deren Bedürfnisse und Wünsche aussagt. Eine bekannte und orientierende Umgebung sowie ein rhythmisierter Alltag vermitteln Sicherheit und Geborgenheit. Dabei gilt, je weniger kommunikative Möglichkeiten ein Mensch hat, je schwerer er in seiner Sinneswahrnehmung eingeschränkt und je mehr er von Schmerzen betroffen ist, desto wichtiger werden Strukturen und Rituale. Gerade im Angesicht von Schmerzen und Ängsten verschafft beispielsweise ein Windelritual, das von allen pädagogischen Mitarbeiter/ innen immer gleich durchgeführt wird, die Vorhersehbarkeit und Gewissheit, welche Handgriffe in welcher Reihenfolge ablaufen werden. Von besonderer Bedeutung sind stabile und sichere Beziehungen zu anderen Menschen. Gerade Menschen mit schweren Behinderungen werden aufgrund ihrer enormen Kommunikationsbarrieren oft von Geburt an missverstanden und stoßen auf Unverständnis. Deshalb und wegen häufiger Trennungen erleben sie viel mehr Beziehungsabbrüche als andere Menschen. Basale Kommunikationsformen können dazu beitragen, Zugangswege zu ihnen zu finden. So können ein gemeinsames Lautieren, ein gemeinsames Schaukeln auf dem Schoß oder das gemeinsame Atmen Beziehungsangebote sein, durch die sich Menschen mit schweren Behinderungen angenommen und verstanden fühlen. Über den Körper können diese Menschen am unmittelbarsten erreicht werden, deshalb sollten auch erwachsene Betroffene Körperkontakt erfahren. Fröhlich (2012, 139) betont die Bedeutung von Berührungen; sie zeugen vom „Dasein“, von der „Anwesenheit eines anderen“. Mit unmittelbaren Berührungen kann Sicherheit vermittelt, Beziehung deutlich gemacht und Trost gespendet werden. Für manche Menschen ist es hilfreich und wichtig, wenn andere ihren Schmerz zum Ausdruck bringen, also im Sinne basaler Kommunikation (Mall 2008) mit einem oder für einen betroffenen Menschen jammern oder schreien (Fröhlich 2012, 139). Aus der Forschung zu chronischen Schmerzen ist bekannt, dass Misserfolge und Versagen das Erleben von Schmerzen verstärken können. Menschen mit schweren Behinderungen müssen immer wieder ihre Unfähigkeit und Begrenztheit hinnehmen, wenn sie beispielsweise versuchen, einen gewünschten Gegenstand zu ergreifen oder sich in eine bestimmte Position zu bringen. Erfolgserlebnisse und das Bewusstsein, selbst etwas bewirkt zu haben, können die betroffenen Menschen stolz machen und sie stärken. Ein positives Körpererleben kann Schmerzen erträglicher werden lassen. Beruhigende und entspannende Angebote aus dem Konzept der Basalen Stimulation können hier sehr gut eingesetzt werden. So hilft beispielsweise ein warmes Bad, Muskelanspannungen zu lösen, es durchwärmt den Körper und vermittelt Wohlbefinden. Das Konzept gibt weiterhin Antworten auf die Fragen, VHN 2 | 2014 147 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG n wie man einen Menschen bei Schmerzen gut berühren kann. Dazu eignen sich die sog. Berührungsregeln nach Bienstein (1999), wie Kontakt halten, umfassend und deutlich berühren usw.; n wie pflegerische Situationen behutsam und fördernd gestaltet werden können; n wie Spastik gelöst werden kann; n wie Atmung unterstützt und beruhigt werden kann; n wie die Sinne angeregt werden und darüber Interessantes vermittelt oder auch Entspannung erzeugt und somit von Schmerzen abgelenkt werden kann. Musik und Klangangebote können helfen, Ängste und Anspannungen zu reduzieren. Aber auch kreatives Tun mit Farben oder verschiedensten Materialien, das Erleben von Märchen und Geschichten, das Sammeln spannender Sinneseindrücke oder fröhliche Gemeinschaftserlebnisse verschaffen Ablenkung und wirken entspannend. Wichtig bei allen Unternehmungen ist, dass sie den betroffenen Menschen erreichen und etwas Gemeinsames entsteht. 5 Fazit Menschen mit schweren Behinderungen sind mehr als jede andere Personengruppe von akuten sowie chronischen Schmerzen betroffen. Das erfordert von pädagogischen Mitarbeiter/ innen grundlegendes Wissen über die Genese und die Behandlungsmöglichkeiten typischer Schmerzzustände und eine gute Beobachtungsfähigkeit. Schmerzen bei Menschen mit schwerer Behinderung müssen im pädagogischen Alltag begleitet werden. Dazu gehört, dass Bezugspersonen da sind, die Sicherheit und Geborgenheit vermitteln und bei Anzeichen von Schmerzen mit helfenden Handlungen reagieren. Literatur Atmanspacher, D. (2011): Chronische Schmerzen - Kindheit als Risikofaktor? Vortrag zum 2. Symposium der Pädiatrie „Liebes Kind, wachse und gedeihe“. 5. 3. 2011, Wehretal Belot, M. (2009): Der Ausdruck von Schmerz bei mehrfachbehinderten Personen: Evaluation der Schmerzzeichen bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung. In: Maier-Michalitsch, N. J. (Hrsg.): Leben pur - Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben, 88 -107 Belot, M.; Marrimpoey, P.; Rondi, F. (2009): Bogen zur Evaluation der Schmerzzeichen bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung - die EDAAP-Skala. Sonderdruck aus: Maier-Michalitsch, N. J. (Hrsg.): Leben pur - Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben Bienstein, C. (1999): Berühren ist Begegnen. In: Bienstein, C.; Zegelin, A. (Hrsg.): Handbuch Pflege. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben, 154 -165 BMBF/ Bundesministerium für Bildung und Forschung (2001): Chronischer Schmerz. Online unter: www.gesundheitsforschung-bmbf.de/ _ media/ chronischer_schmerz(1).pdf, 10. 12. 2011 Daut, V. (2011): Über Sterben und Tod mit betroffenen Kindern und Jugendlichen reden. In: Deutscher Kinderhospizverein e.V. (Hrsg.): Lebenskünstler und ihre Begleiter. Ludwigsburg: der hospiz verlag, 97 -106 Fröhlich, A. (2012): Schmerzen bei Kindern mit schwersten Behinderungen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 63, 136 -141 Fuchs, T. (2011): Zur Phänomenologie des Schmerzgedächtnisses. In: Schiltenwolf, M.; Herzog, W. (Hrsg.): Die Schmerzen. Beiträge zur Medizinischen Anthropologie Band 7. Würzburg: Königshausen & Neumann GmbH, 73 -84 Hasan, C.; Müller, A. (2009): Spezialisierte Schmerztherapie bei lebensverkürzt erkrankten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen -Schmerzerfassung und -therapie aus multiprofessioneller Sicht und aus der Sicht der Betroffenen. Vortrag zum 3. Deutschen Kinderhospizforum, 3. 10. 2009 in Essen VHN 2 | 2014 148 HELGA SCHLICHTING Schmerzen bei Menschen mit schweren Behinderungen FACH B E ITR AG Höffe, O. (2008): Lexikon der Ethik. 7. Aufl. München: C. H. Beck Lautenbacher, S. (2009): Der Schmerz und seine psychische Dimension. In: Maier-Michalitsch, N. J. (Hrsg.): Leben pur - Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben, 183 -186 Mall, W. (2008): Kommunikation ohne Voraussetzungen mit Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. 6., überarbeitete Aufl. Heidelberg: Winter Merkle, W.; Egle, U. T. (2001): Die somatoforme Schmerzstörung. In: Hessisches Ärzteblatt o. Jg., 498 -504 Nüsslein, F. (2009): Leiblichkeit und Schmerz - Eine praxisorientierte Auseinandersetzung aus leibphänomenologischer Perspektive. In: Maier-Michalitsch, N. J. (Hrsg.): Leben pur - Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben, 58 -87 Rest, F. (2006): Möglichkeiten und Grenzen der Sicherung der Würde unserer Kinder: Die Hospizidee in Deutschland angesichts persönlicherundgesellschaftlicherHerausforderungen. In: Deutscher Kinderhospizverein e. V. (Hrsg.): Kinderhospizarbeit - Begleitung auf dem Lebensweg. Wuppertal: der hospiz verlag Zernikow, B. (2009): Schmerz- und Schmerztherapie bei Kindern mit schwersten Behinderungen. In: Maier-Michalitsch, N. J. (Hrsg.): Leben pur - Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben, 121 -126 Anschrift der Autorin Dr. Helga Schlichting Universität Leipzig Erziehungswissenschaftliche Fakultät Geistigbehindertenpädagogik Marschnerstraße 29 D-04109 Leipzig Tel. +49 (0)3 41 9 73 15 13 helga.schlichting@uni-leipzig.de