eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Aktuelle Forschungsprojekte: Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt aus Sicht der Allgemeinen Behindertenpädagogik (Dissertation)

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Jasmina Merkli-Müller
In der Dissertation werden die Entwicklungen rund um die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung mit spezifischem Fokus auf die Thematik der Arbeitsintegration aus historischer, wissenschaftstheoretischer und berufspraktischer Sicht beleuchtet. Hierzu wird an ein gesellschaftstheoretisches Verständnis von Behinderung angeknüpft, wie es in der Allgemeinen Behindertenpädagogik gebräuchlich ist (Jantzen 1990; 1992). Diese spezifische Perspektive soll in ihrem umfassenden Potenzial genutzt werden und ermöglicht ein Durchbrechen gewohnter Denkweisen.
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256 VHN, 83. Jg., S. 256 -257 (2014) DOI 10.2378/ vhn2014.art23d © Ernst Reinhardt Verlag Integration von erwachsenen Menschen mit einer geistigen Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt aus Sicht der Allgemeinen Behindertenpädagogik (Dissertation) Jasmina Merkli-Müller Universität Zürich Thema und Ziel In der Dissertation werden die Entwicklungen rund um die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung mit spezifischem Fokus auf die Thematik der Arbeitsintegration aus historischer, wissenschaftstheoretischer und berufspraktischer Sicht beleuchtet. Hierzu wird an ein gesellschaftstheoretisches Verständnis von Behinderung angeknüpft, wie es in der Allgemeinen Behindertenpädagogik gebräuchlich ist (Jantzen 1990; 1992). Diese spezifische Perspektive soll in ihrem umfassenden Potenzial genutzt werden und ermöglicht ein Durchbrechen gewohnter Denkweisen. Hinsichtlich eines gesellschaftstheoretischen Wissenschaftsverständnisses wird auf die Ausführungen von Jantzen und Feuser zurückgegriffen, die die Entwicklungen der Allgemeinen Behindertenpädagogik in den letzten Jahrzehnten intensiv geprägt haben: Jantzen legte 1982 in seiner „Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens“ einen sozialgeschichtlichen Ansatz der ersten Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert vor. Er geht darin von der Annahme aus, dass die Arbeitskraft der Betroffenen nicht mit der durchschnittlichen Produktivitätsentwicklung mithalten konnte und mit der zunehmenden Industrialisierung in immer deutlicheren Widerspruch zur Verwertungslogik des Kapitals geraten musste. Er bezeichnet in dieser Phase Behinderung als „Arbeitskraft minderer Güte“ (Jantzen 1992, 30). In seinen Weiterentwicklungen befasst sich Jantzen mit der Kategorie der „Isolation“: „Isolation ist (…) zu verstehen als Störung des Widerspiegelungs- und Aneignungsprozesses im innerorganismischen Bereich wie im Verhältnis zur objektiven Realität in Natur und Gesellschaft. Isolation wirkt sich auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen entsprechend ihrem AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Ort der Entstehung und Lokalisation im Widerspiegelungs- und Aneignungsprozess unterschiedlich aus.“ (Jantzen 1976, 23) Behinderung ist „ihrem Wesen nach folglich als Isolation zu verstehen“ (ebd., 22). Feuser entwickelte in den 80er Jahren ein umfassendes Konzept der entwicklungslogischen Didaktik, das in seinem Werk „Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik“ erstmals vorgestellt wurde (Feuser 1989). In seiner Konzeption der „Allgemeinen Pädagogik“ stützt er sich auf den Subjektbegriff, wie er von Jantzen auf der Basis der Gesellschaftsanalyse und des historischen Materialismus geprägt wurde. Er umschreibt den Begriff der „Integration“ als Idee vom Erhalt beziehungsweise der Wiederherstellung gemeinsamer Lebens- und Lernfelder für behinderte und nichtbehinderte Menschen. Dies verbunden mit dem Ziel der Schaffung einer inklusiven Gesellschaft, aus der niemand mehr wegen Art oder Schweregrad seiner Behinderung, seiner Nationalität, Kultur, Sprache und Religion ausgegrenzt wird (ebd.). Fragestellung und empirisches Vorgehen Vor diesem Hintergrund stellen sich zwei Forschungsfragen: Einerseits wird untersucht, ob durch ein Verständnis von Behinderung, wie es die Allgemeine Behindertenpädagogik postuliert, Isolation und Separation von Menschen mit geistiger Behinderung überwunden werden können. Des Weiteren wird die Frage aufgeworfen, welche Forderungen an die wissenschaftliche Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik und an die Bildungs- und Sozialpolitik gestellt werden müssen, damit Menschen mit geistiger Behinderung vermehrt der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt ermöglicht werden kann. Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen wurde eine empirische Untersuchung durchgeführt, die durch die gewonnenen Daten Aussagen über den emotionalen und kognitiven Handlungshintergrund der in den Beobachtungssettings untersuchten Personen machen kann. Die Daten lassen sich aus einem Medien- und Integrationsprojekt für Menschen mit und ohne geistige Be- VHN 3 | 2014 257 hinderung generieren, das 2008 von Martin Kunz und Jasmina Merkli-Müller initiiert wurde und im Kontext der Medialen Kunst und der Sonderpädagogik angesiedelt ist (www.vb8.ch). Ergebnisse und Schlussfolgerungen Der in der Studie vorgenommene Überblick über aktuelle Entwicklungen im deutschsprachigen Raum Europas hinsichtlich der Integration von Menschen mit geistiger Behinderung zeigt, dass die letzten Jahrzehnte geprägt waren von sozial- und bildungspolitischen Erneuerungen, die bezüglich der Integration hoffen lassen. Ein Blick auf die Zahlen der im ersten Arbeitsmarkt beschäftigten Menschen mit geistiger Behinderung mit spezifischem Fokus auf die Schweiz zeigt jedoch ein anderes Bild: Die Mehrheit arbeitet an einem geschützten Beschäftigungs- oder Arbeitsplatz, nach wie vor sind externe Integrationsarbeitsplätze in der freien Marktwirtschaft die Ausnahme. Dieser Umstand führt dazu, nach Antworten auf die gegenwärtig immer noch stark ausgeprägte Separationspraxis zu suchen. Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen die aus dem Datenmaterial deduktiv gewonnenen Kategorien Selbstständigkeit, Selbstvertrauen, Partizipation und Individualität. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf das interpretative inhaltsanalytische Verfahren der Strukturierung, dessen Ziel es ist, eine bestimmte Struktur aus dem Datenmaterial herauszufiltern (vgl. Mayring 2002). Die wissenschaftstheoretische und empirische Reflexion über die Projekttätigkeit und die daraus resultierenden Erkenntnisse zeigen auf, dass Isolation und Separation von Menschen mit geistiger Behinderung durch ein gesellschaftstheoretisches Verständnis von Behinderung überwunden werden könnten. Ausgehend von dieser Analyse kann konstatiert werden, dass grundlegende Entwicklungen hin zu einer Integration im Sinne Feusers auf wissenschaftstheoretischer und berufspraktischer Ebene bis heute nicht stattgefunden haben. Im Wissen darum, dass Entwicklungen der Allgemeinen Behindertenpädagogik in der heil- und sonderpädagogischen Disziplin und in der Regelpädagogik nahezu unbeachtet bleiben, betrachtet es die Autorin der vorliegenden Arbeit als umso dringlicher, die der Allgemeinen Behindertenpädagogik verpflichteten Arbeiten um eine weitere zu ergänzen. Dies in der Hoffnung, dass die Dissertation einen Teil dazu beitragen kann, den wissenschaftlichen Diskurs rund um die nationalen und internationalen Integrationsdebatten fachkritisch zu analysieren, was, mit den Worten Feusers ausgedrückt, in einem Fach, „in welchem noch nie so viel Qualität wie in dem Zeitraum, in dem über Qualitätssicherung gesprochen wird,“ (Feuser 2006, 2) zerstört wurde, unabdingbar erscheint. Dass die Aufarbeitung eines Ansatzes, wie er in der Allgemeinen Behindertenpädagogik gegeben ist, auf zahlreiche Widerstände stößt, die sowohl in der Struktur der gesellschaftshistorischen und der materiellen wie auch in den ökonomischen Bedingungen liegen, sollte nicht ausschlaggebend für seine Nichtbeachtung sein. Die Ausführungen der vorliegenden Arbeit weisen eingehend auf das Potenzial hin, welches in einer Wissenschaft vorhanden ist, die Behinderung dialektisch und gesellschaftskritisch denkt. Angesichts dessen, dass in weiten Kreisen der wissenschaftlichen Disziplin wie auch in der heil-, sonder- und mitunter auch in der sozialpädagogischen Berufspraxis seit einigen Jahren ein neuer Anglizismus an Beliebtheit gewonnen hat - der Begriff der Inklusion -, ist eine analysierende und kritische Betrachtung und Aufarbeitung der eigenen Geschichte der mehr als 30-jährigen Integrationsbewegung dringlicher denn je. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass für die Ermöglichung der Integration von Menschen mit Behinderung in alle gesellschaftlichen Lebens- und Lernbereiche Weiterentwicklungen und Veränderungen dringend notwendig sind, die nur im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsbemühungen vorangetrieben werden können. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei Jasmina.Merkli@ agogis.ch AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE