Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Das provokative Essay: Literacy als Platzhalter für eine auf Messbarkeit fokussierende Bildungsforschung?
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2014
Andrea Linde
Zusammenfassung: Mit der durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten Projektförderung ist das Interesse an der Alphabetisierung/Grundbildung Erwachsener sprunghaft angestiegen. Wissenschaftler/innen verschiedener Disziplinen nähern sich dem Gegenstand mit ihren je fachspezifischen Fragestellungen und bereichern so den Kenntnisstand zum Arbeitsgebiet. Auch die Kompetenzmessungsorientierung wirkt auf die Alphabetisierung/Grundbildung ein, was sich nicht zuletzt in der fortwährenden Suche nach geeigneten Begriffen und Definitionen niederschlägt: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir vom funktionalen Analphabetismus bzw. von Grundbildung oder neuerdings von Literacy/Literalität sprechen? Dieser und anderen Fragen geht der Beitrag nach, um so scheinbar Selbstverständliches zu hinterfragen und andere mögliche Perspektiven anzubieten.
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277 VHN, 83. Jg., S. 277 -282 (2014) DOI 10.2378/ vhn2014.art25d © Ernst Reinhardt Verlag Literacy als Platzhalter für eine auf Messbarkeit fokussierende Bildungsforschung? Andrea Linde Hamburg Zusammenfassung: Mit der durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten Projektförderung ist das Interesse an der Alphabetisierung/ Grundbildung Erwachsener sprunghaft angestiegen. Wissenschaftler/ innen verschiedener Disziplinen nähern sich dem Gegenstand mit ihren je fachspezifischen Fragestellungen und bereichern so den Kenntnisstand zum Arbeitsgebiet. Auch die Kompetenzmessungsorientierung wirkt auf die Alphabetisierung/ Grundbildung ein, was sich nicht zuletzt in der fortwährenden Suche nach geeigneten Begriffen und Definitionen niederschlägt: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir vom funktionalen Analphabetismus bzw. von Grundbildung oder neuerdings von Literacy/ Literalität sprechen? Dieser und anderen Fragen geht der Beitrag nach, um so scheinbar Selbstverständliches zu hinterfragen und andere mögliche Perspektiven anzubieten. Schlüsselbegriffe: Definitionen, Kompetenzmessung, New Literacy Studies, soziale Praxis, Ziele Is Literacy a Placeholder for an Educational Research Focused on Measurability? Summary: With project funding provided by the German Federal Ministry of Education and Research, the interest in adult basic education/ literacy has grown rapidly. Scientists from various disciplines are approaching the subject, each with their subject-specific focus, thus enriching the knowledge in that field of activity. Moreover, the competence-measurementorientation in all educational domains influences literacy and basic education for adults, which is reflected in the ongoing search of suitable terms and definitions: What do we mean when we speak about “functional illiteracy”, and “basic education”, or more recently “Literalität/ Literacy”? The present article examines this and other questions in order to challenge such seemingly self-evident sights and to offer other possible perspectives. Keywords: Definitions, competence measurement, New Literacy Studies, social practice, goals DAS PROVOK ATIVE ESSAY TH EME NSTR ANG Funktionaler Analphabetismus Das BMBF fördert inzwischen in der zweiten Periode Projekte zum Thema Alphabetisierung/ Grundbildung. Die erste Förderwelle (2008 - 2012) unterstützte Projekte zur Erforschung des Phänomens und zur Entwicklung praxisnaher Konzepte zur Alphabetisierung und Grundbildung, einschließlich der Erschließung der Grundbildungsanforderungen einer modernen Arbeitswelt, um daraufhin geeignete Bildungsangebote auch für die betriebliche Bildungsarbeit gestalten zu können. In der aktuell laufenden Förderperiode (seit 2012) werden bundesweit ca. 60 Projekte zur Gestaltung arbeitsplatzorientierter Alphabetisierung und Grundbildungsangebote für Erwachsene finanziert (vgl. Alphabund). War der Bereich bis zum Eintreten der ersten Förderwelle eher ein Randgebiet sowohl auf bildungspolitischem als auch wissenschaftlichem Terrain, ist mit der Projektförderung ein auffällig angestiegenes Interesse an Alphabetisierung und Grundbildungsthemen zu verzeichnen. VHN 4 | 2014 278 ANDREA LINDE Literacy und Bildungsforschung DAS PROVOK ATIVE ESSAY Vertreter/ innen verschiedener Disziplinen (Erwachsenenbildung, Sonderpädagogik, Wirtschafts- und Berufspädagogik, Soziologie, Psychologie, Sozialpädagogik, Linguistik u. a.) nähern sich dem Gegenstand mit ihren je eigenen Fragestellungen und forschungstheoretischen Ansätzen. So unterschiedlich die fachspezifischen Zugänge auch sein mögen (methodisch-didaktisch, curricular, lernpsychologisch, linguistisch, zielgruppenspezifisch usw.), ist allen eines gemeinsam: Die Suche nach einer geeigneten Definition und daran gekoppelten Konzepten des Gegenstands, der immer noch unter dem Doppelbegriff Alphabetisierung/ Grundbildung firmiert, aber zunehmend ergänzt und teilweise ersetzt wird durch den Begriff Literalität oder - unter Bezugnahme auf die internationalen Kompetenzmessungsstudien - Literacy. Im Kern geht es immer noch um die Frage, was einen funktional alphabetisierten Menschen auszeichnet bzw. wann jemand als „funktionaler Analphabet“ gilt. Erschwerend hinzu kommt die Offenheit des Begriffs „Grundbildung“, der über Lesen, Schreiben und Rechnen hinausgeht. Es findet nicht selten eine Vermischung von bildungstheoretischen, -politischen sowie -praktischen Sichtweisen und Zielsetzungen statt. Dabei drängen sich ganz grundsätzliche Fragen auf: n Worum geht es eigentlich? n Wer verfolgt welche Ziele? n Worin sind diese Ziele begründet? n Wie verläuft der Diskurs? n Was folgt aus all dem für die Bildungspraxis? Diesen Fragen wird hier insbesondere unter Bezugnahme auf Beiträge des VHN-Themenstranges „Funktionaler Analphabetismus“ nachgegangen, die den allgemeinen Diskussionsstand und die neuralgischen Punkte m. E. recht gut widerspiegeln. Worum geht es eigentlich? Nationale Alphabetisierungsinitiativen sind an den internationalen Kontext gekoppelt. Besonders deutlich trat diese Kopplung in den Anfängen der deutschen Alphabetisierungsarbeit hervor, als explizit auf Entwicklungen und Erfahrungen der Alphabetisierung in sogenannten Entwicklungsländern Bezug genommen wurde, die schließlich auf dem Gebiet der Alphabetisierung Erwachsener einen Erfahrungsvorsprung hatten. Rückblickend gibt es in der internationalen Alphabetisierungsarbeit zwei große Stränge, zwischen denen sich die in Phasen verlaufenden unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen bewegen: Einerseits die von Paulo Freire geprägte Volksbildung, deren emanzipatorischer Ansatz überall dort zum Tragen kommt, wo es um (Selbst)Mobilisierung und Bewusstwerdung geht, mit dem Ziel, Armut und Ungerechtigkeit entgegenzuwirken. Andererseits ein funktional geprägter Ansatz mit dem Ziel, die Alphabetisierung als Mittel gegen Arbeitslosigkeit und eine defizitäre Qualifikation von Arbeitskräften zu fördern (vgl. Stagl u. a. 1991; Linde 2008). In ihren Anfängen bezog sich die deutsche Alphabetisierungsarbeit ausdrücklich auf Freire und seinen emanzipatorischen Anspruch. Heute ist Freire weitgehend vergessen, die Kategorie „Emanzipation“ nicht gerade en vogue. Dabei liefert Freire m. E. insbesondere mit seinem dialogischen Prinzip und einem durch Partizipation gekennzeichneten methodischen Vorgehen, die Lernenden als Subjekte und nicht als Objekte des Lernprozesses wahrnehmend - gerade auch ergänzend zu aktuell diskutierten lerntheoretischen Ansätzen -, einen wertvollen Bezugspunkt zur Reflexion der eigenen theoretischen und/ oder praktischen Verortung im Bereich der Alphabetisierung/ Grundbildung. Derzeit ist indes die Alphabetisierung/ Grundbildung auf den Arbeitsmarkt hin ausgerichtet: Es geht darum, dem Fachkräftemangel vor dem Hintergrund des demografischen Wan- VHN 4 | 2014 279 ANDREA LINDE Literacy und Bildungsforschung DAS PROVOK ATIVE ESSAY dels zu begegnen, Reserven zu mobilisieren. Ohne die Bedeutsamkeit einer am Arbeitsmarkt orientierten Grundbildung sowohl für Unternehmen als auch für die Arbeitnehmer/ innen anzuzweifeln, stellt sich die Frage: Ist Schriftsprache und deren Anwendung nicht auch in anderen Kontexten relevant? Und vor allem: Wo bleiben die Menschen, die nicht im Arbeitsprozess stehen, und/ oder diejenigen, die aus anderen Motiven heraus ihr Lesen und Schreiben verbessern möchten, vielleicht um Romane zu lesen, Märchen vorzulesen, eigene Gedanken aufs Papier zu bringen oder um sich politisch zu engagieren? Wo bleiben Menschen, die sich in eher ungewöhnlichen Lebenslagen befinden, wie beispielsweise beharrliche Schulverweigerer oder Mitglieder von Zirkusfamilien? Wer bestimmt, wie und wofür Lesen und Schreiben sich im Erwachsenenalter zu lernen und damit zu fördern lohnt? Wer verfolgt welche Ziele und worin sind diese Ziele begründet? Da ist zum einen die Bildungspolitik, die ihre Interessen durch die thematischen Schwerpunktsetzungen in der Projektförderung steuert; da sind die Bildungspraktiker/ innen, also die Dozent/ innen, Berater/ innen, Bildungsträger, Programmmacher usw. mit ihren je eigenen Vorstellungen davon, wie Alphabetisierung/ Grundbildung umgesetzt werden sollte; da sind die Wissenschaftler/ innen, die ihre fachspezifischen Fragestellungen einbringen und damit Markierungen setzen; da sind die Lernenden, die ganz unterschiedliche Erwartungen, Interessen und Prägungen mitbringen; da sind die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wie z. B. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die ganz bestimmte Vorstellungen davon haben, was wie gelernt werden soll. Bildungsdiskussionen sind aktuell stark beeinflusst durch die allseits präsente Mahnung des Fachkräftemangels einschließlich der damit einhergehenden Stärkung der Arbeitsplatzorientierung von Bildungsangeboten, der ökonomischen Verwertbarkeit von Bildung. Dies findet auch in den bildungspolitisch forcierten Kompetenzmessungsstudien der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) seinen Niederschlag, die nicht nur die schulische Bildung (Stichwort PISA), sondern auch die Erwachsenenbildung (Stichwort PIAAC) betreffen. Der PISA-Schock war unbestritten nützlich, um aus der komfortablen Situation eines Landes der Dichter und Denker gestoßen zu werden und sich angesichts geradezu erschütternder Ergebnisse in seinem Selbstverständnis hinterfragen zu müssen. Testen zur Kompetenzerfassung findet seither regelmäßig im schulischen und neuerdings auch im Kontext der Erwachsenenbildung statt. In der Schule wird gar speziell fürs gute Abschneiden in solchen Tests gelernt, sodass sich inzwischen nicht nur kritischen Pädagog/ innen und Wissenschaftler/ innen die Frage nach dem Sinn und Zweck stellt; und vor allem: was wird da eigentlich gemessen? „Empirische Gewissheit gibt es nicht“, so der Mathematikdidaktiker Wolfram Meyerhöfer, der die Verengung des Blicks auf Lernergebnisse und auf Werte in Kompetenzstufenmodellen und Zahlenskalen kritisiert und gar eine mit der zunehmenden Standardisierung von Bildung einhergehende intellektuelle Verarmung des Schulsystems befürchtet. Anstatt mehr Geld in die Verbesserung von Schule zu investieren, wird aktuell viel Geld für das Testen von Schülerinnen und Schülern ausgegeben (Meyerhöfer 2013). Zugespitzt gesagt belegen die Ergebnisse, wie gut Schüler/ innen darin sind, Tests zu bewältigen, nicht unbedingt wie gut sie in den abgefragten Kompetenzbereichen wirklich sind, welche Gedanken sie sich über die Aufgaben machen, welche Fragen sie stellen - nicht zuletzt die nach dem Sinn. Wenngleich Testergebnisse Steuerungsinformationen und ein gewisses Maß an Transparenz liefern, bleibt die Frage: Was ist mit dem VHN 4 | 2014 280 ANDREA LINDE Literacy und Bildungsforschung DAS PROVOK ATIVE ESSAY Lernen und Erkennen, das sich nicht ohne Weiteres in Kompetenzstufenmodelle packen lässt? Z. B. ob Schulen gut oder schlecht funktionieren, der Wert einer Schule, die Individualisierung nicht nur proklamiert, sondern umsetzt, indem gemeinsam mit jeder Schülerin und jedem Schüler persönliche Lernziele verfolgt und angepasst werden? Und wo Leistung nicht über Angst und Stress forciert wird, wo es vielmehr darum geht, den Schüler/ innen ein positives Lebensgefühl zu vermitteln und Leistung zu fordern, und die nach oben durchlässig ist für den Wechsel in Klassen für höhere Bildungsabschlüsse, anstatt zum Scheitern zu verurteilen; wo Hochbegabte ebenso gefördert werden wie Menschen mit einer Lernbehinderung. Eine dieser Schulen, die Gemeinschaftsschule Lobdeburgschule in Jena, hat sich zum Ziel gesetzt, „Kindern von der ersten bis zur 13. Klasse die Möglichkeit [zu] geben, zusammen zu lernen, aber trotzdem auf die individuellen Bedürfnisse eines jeden Kindes ein[zu]gehen“ (Kotwitz 2013, 126) und dabei ein über die Konzentration auf kognitive Kompetenzen wie Mathematik oder Leseverständnis hinausgehendes breites Spektrum an Entfaltungsmöglichkeiten anzubieten. Dieses „Mehr“, das Schule auch ausmacht und das über auf Kompetenzstufen abbildbare Werte hinausgeht, gilt es m. E. auch in der Alphabetisierung und Grundbildung zu erfassen. Sven Basendowski (2014) stellt im Ergebnis einer Studie zu relevanten (insbesondere) mathematischen Kompetenzen im Bereich typischer Tätigkeiten in sogenannten Einfachstarbeitsplätzen fest, dass die zu bewältigenden beruflichen Aufgaben primär andere Anforderungen an die Ausführenden stellen als die in Bildungsstandards gemessenen. Basendowski weist im Kontext von Jugendlichen und deren Integration in den Arbeitsmarkt auf die Schere zwischen „richtigem Wissen“ und „richtigem Handeln“ hin, wonach eine (gemessen) kompetente Schülerin nicht gleichfalls eine kompetent handelnde Beschäftigte sein wird, respektive eine (gemessen) wenig kompetente Schülerin nicht trotzdem einen Arbeitsplatz finden und diesen kompetent ausfüllen können wird. Vielleicht konnte sie einfach die schulische Mathematik nicht begreifen, wohingegen sie durchaus in der Lage ist, die am Arbeitsplatz situativ erforderliche Mathematik zu bewältigen? Basendowski weist auf eine große Distanz zwischen dem Soll der fachdidaktisch für bedeutsam erachteten mathematischen und den in beruflichen Situationen tatsächlich erforderlichen Kompetenzen hin, insbesondere im unteren Segment der Arbeitsmärkte. Sind diese im beruflichen Handeln relevanten Kompetenzen weniger wert bzw. woran bemisst sich der Wert von Kompetenzen, die nicht ohne Weiteres Bildungsstandards folgend formal abbildbar sind? Wie verläuft der Diskurs? Im Dialog zwischen Birte Egloff und Louis Henri Seukwa (vgl. Egloff/ Seukwa 2013) werden die hinter Definitionen liegenden Intentionen und theoretischen Verortungen herausgearbeitet. Egloff als Vertreterin der von der Alphabund-Fachgruppe erarbeiteten Definition stellt dort heraus: „Vor allem aber sollte es eine Definition sein, die konkrete Operationalisierungen erlaubt (…) um die Frage, wer denn nun funktionaler Analphabet ist und wer nicht, eindeutiger klären zu können.“ (ebd., 346) Seukwa hingegen betont die Bedeutsamkeit der Soziokontextualität von Kompetenzen und weist auf die New Literacy Studies (NLS) hin, die entgegen der am autonomen Modell von Literalität orientierten Definition der Fachgruppe Literalität als soziale Praxis verstehen und somit einen kontextspezifischen Zugang ermöglichen. Seukwa stellt explizit die Frage nach der Bestimmungsmacht - wer bestimmt über das Kriterium funktionale/ r Analphabet/ in? (ebd., 348) VHN 4 | 2014 281 ANDREA LINDE Literacy und Bildungsforschung DAS PROVOK ATIVE ESSAY Die von den Vertretern der NLS und insbesondere von Brian Street entwickelte modellhafte Gegenüberstellung von Literalität als soziale Praxis (ideologisches Modell) und dem Verständnis von Literalität als Kulturtechnik (autonomes Modell) polarisiert zwei Positionen (vgl. Street 1993; Linde 2008). Dieses Modell bietet einen theoretischen Rahmen, um das eigene Verständnis oder auch die eigene Praxis zu reflektieren und eine Position zu entwickeln. Es geht den Vertretern der NLS darum herauszuarbeiten, dass Literalität mehr ist als eine Kulturtechnik, dass Literalität immer als eine im sozialen Kontext verortete Praxis stattfindet, also: Auf den sozialen Kontext kommt es an, auf die Verbundenheit und die Bedeutung von Literalität für den sie praktizierenden Menschen. Dem Verständnis von Literalität als sozialer Praxis folgend, gibt es verschiedene Formen von Literalität, die je nach Anwendungskontext variieren; so verwende ich z. B. in wissenschaftlichen Kontexten eine andere Schriftsprache als beim Schreiben von Geburtstagskarten an Freunde oder in einer Nachricht an Kollegen. Die aktuell fokussierte arbeitsplatznahe Grundbildung erreicht Menschen mit Schriftsprachproblemen direkt im Kontext der Arbeit und somit ohne Umwege über den oftmals gar nicht in Betracht gezogenen Weg des Kursbesuches in klassischen Bildungseinrichtungen der Erwachsenenbildung, wie beispielsweise den Volkshochschulkurs. Es werden neue Zugänge eröffnet, und die Ansprache der potenziellen Teilnehmer/ innen von Grundbildungskursen wird breiter. Dabei sollte es jedoch ebenso möglich sein, dass Menschen unter Berücksichtigung ihrer je eigenen (Lern) Bedürfnisse und Interessenslagen unabhängig vom Arbeitsplatzbezug Lesen und Schreiben lernen können. Aus den beispielhaft angeführten verschiedenen Anlässen - oder auch Events - folgt, dass die Erfolgskriterien je nach Anwendungskontext variieren, gekoppelt an die Perspektive desjenigen, der Erfolg definiert. Dies kommt insbesondere im Kontext der arbeitsplatzorientierten Grundbildung zum Tragen, da hier zu den zwei Instanzen des Lernenden und Lehrenden als dritte Instanz die des Arbeitgebers hinzukommt, dessen Ziele nicht immer deckungsgleich mit denen des Lernenden sind. Wer die Ziele setzt, definiert damit auch Erfolgskriterien. Ulrike Buchmann schildert in ihrem Beitrag (vgl. Buchmann 2013) neue curriculare Wege für Grundbildungsangebote an Jugendliche, die mit konventionellen, institutionell organisierten, d. h. schulisch geprägten Bildungsangeboten kaum erreicht werden können. Sie arbeitet die Bedeutsamkeit von echten Erfolgserlebnissen heraus, „die durch Emotionsverläufe von Freude, Stolz und Selbstvertrauen gekennzeichnet sind“ (Buchmann 2013, 298), in Abgrenzung zu quasi erschwindelten Leistungen in der Schule. Hier wurden Bildungsprozesse nicht aus dem Blickwinkel der Dominanzkultur betrachtet, von der sich diese Jugendlichen abgewendet haben, sondern ausgehend von den Bedürfnissen und Interessen der Jugendlichen; so konnten sie den Sinn von Lernprozessen verstehen und deren Bedeutung für ihre Entwicklung nachvollziehen. Es war ihr Lernprozess und ihr Erfolg. Also: Was ist das Kriterium für Erfolg und vor allem: Wer definiert Erfolg? Was folgt aus all dem für die Bildungspraxis? Hiermit sind insbesondere folgende Aspekte angesprochen: n Wer gestaltet das Bildungsangebot nach welchen Kriterien? n Wie können die Lernenden ihre Interessen und Bedürfnisse einbringen? n Wie verläuft die Professionalisierung und Institutionalisierung? VHN 4 | 2014 282 ANDREA LINDE Literacy und Bildungsforschung DAS PROVOK ATIVE ESSAY Marc Thielen (2013) arbeitet in seinem Beitrag auf der Grundlage einer qualitativen Studie die Bedeutsamkeit der Berücksichtigung der Erwartungen von Teilnehmenden auch im Fall der arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung/ Grundbildung heraus. Kritisch sei es zum einen, den Teilnehmenden das Gefühl zu vermitteln, eine psychosozial belastete und sonderpädagogisch zu fördernde Klientel zu sein, und zum anderen, wenn das Grundbildungsangebot sich auf eine kontextunabhängige Vermittlung von Kulturtechniken beschränkt. Wenn es sich nicht gerade um einen Kurs mit einer speziell arbeitsplatzorientierten Ausrichtung handelt, ergibt sich das Problem einer heterogenen Gruppe von Teilnehmenden, die mit ganz unterschiedlichen Motiven und Bedürfnissen in einen Grundbildungskurs gehen. Eindrücklich belegt durch folgendes Zitat aus einem Interview mit einer ehemaligen Teilnehmerin eines Volkshochschulkurses: „Okay, ich arbeite alleine und die anderen arbeiten nicht. Und dann sagen sie ,was interessiert mich eine Zentrifuge‘? … Na ja, ich schreibe auch ein bisschen zu Hause … Na ja, so viel Zeit habe ich auch nicht. Wenn ich nach Hause komme, dann bin ich froh, dass ich mich ein bisschen ausruhen kann.“ (Thielen 2013, 195) Thielen plädiert vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen einer allgemeinen Lese- und Schreibkompetenz und einer arbeitsplatzbezogenen Literalität für eine stärkere inhaltliche Differenzierung der Bildungsangebote und vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses einer nachholenden Förderpädagogik versus eines lebenslagenbezogenen Bildungsangebotes für eine reflexive pädagogische Professionalität. Wie muss ein Bildungsangebot aussehen, das die Teilnehmer/ innen nicht auf hilfebedürftige Personen reduziert, sondern als durchaus bildungsmotivierte Erwachsene wahrnimmt und dabei ihre je individuellen Biografien und aktuellen Lebenslagen wertschätzend einbezieht, d. h. den heterogenen Bedürfnissen der Adressaten gerecht wird? Literatur Alphabund: http: / / www.alphabund.de/ , 7. 12. 2013 Basendowski, S. (2014): Grundbildung - Ein Konzept für alle in einem inklusiven Bildungssystem? In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83, 191 -204. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2014.art17d Buchmann, U. (2013): Vom Tagging zur Domäne - Neue curriculare Wege zur Alphabetisierung und Grundbildung Jugendlicher. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82, 294 -310. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2013.art13d Egloff, B.; Seukwa, L. H. (2013): Brauchen wir eine neue Definition des Analphabetismus? In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82, 344 -350 Kotwitz, D. (2013): Das schiefe Bild von Pisa. Die Ergebnisse von Schultests sind das eine. Die schulische Realität ist etwas anderes. Das zeigt ein Besuch in Thüringen. In: Brand eins 07/ 13, 124 -127 Linde, A. (2008): Literalität und Lernen. Eine Studie über das Lesen- und Schreibenlernen im Erwachsenenalter. Münster: Waxmann Meyerhöfer, W. (2013): Empirische Gewissheit gibt es nicht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 9. 2013, 7 Stagl, G.; Dvorak, J.; Jochum, M. (Hrsg.) (1991): Literatur/ Lektüre/ Literalität. Vom Umgang mit Lesen und Schreiben. Wien: Öbvhpt Street, B. (1993): Introduction: The New Literacy Studies. In: Street, B. (Ed.): Cross-Cultural Approaches to Literacy. Cambridge: Cambridge University Press, 1 -21 Thielen, M. (2013): Anforderungen und Widersprüche arbeitsplatzorientierter Alphabetisierung und Grundbildung. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82, 190 -201. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn20 13.art09d Anschrift der Autorin Dr. Andrea Linde Warburgstraße 9 D-20354 Hamburg andrealinde@hotmail.com
