Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können?
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2014
Sabine Weiß
Markus Kollmannsberger
Ewald Kiel
Zusammenfassung: Wie sieht das Anforderungsprofil einer Lehrkraft im Förderschwerpunkt Lernen aus? Mittels Gruppendiskussionen wird das Defizit einer fehlenden Erfassung bzw. Spezifizierung von Anforderungen aus der Perspektive von Lehrkräften sowie in der Lehrerausbildung tätigen Personen aufgegriffen. Es wird ein Anforderungsprofil für Lehrkräfte im Förderschwerpunkt Lernen entwickelt. Zentrales Element des Anforderungsprofils ist die Haltung bzw. das Berufsethos: die Annahme, Bildung und Anerkennung der Individualität jeder Schülerin und jedes Schülers. Soziale und personale Fähigkeiten werden übereinstimmend hoch gewichtet. Fachliche Kompetenzen beruhen im Sinne eines sonderpädagogischen Fachwissens auf Diagnostik und dem Umgang mit Heterogenität. Die Ergebnisse werden in Hinblick auf die Lehrerausbildung diskutiert.
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305 VHN, 83. Jg., S. 305 -317 (2014) DOI 10.2378/ vhn2014.art28d © Ernst Reinhardt Verlag Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? Ein Anforderungsprofil aus Sicht von Lehrkräften und Ausbildungspersonen Sabine Weiß, Markus Kollmannsberger, Ewald Kiel Ludwig-Maximilians-Universität München Zusammenfassung: Wie sieht das Anforderungsprofil einer Lehrkraft im Förderschwerpunkt Lernen aus? Mittels Gruppendiskussionen wird das Defizit einer fehlenden Erfassung bzw. Spezifizierung von Anforderungen aus der Perspektive von Lehrkräften sowie in der Lehrerausbildung tätigen Personen aufgegriffen. Es wird ein Anforderungsprofil für Lehrkräfte im Förderschwerpunkt Lernen entwickelt. Zentrales Element des Anforderungsprofils ist die Haltung bzw. das Berufsethos: die Annahme, Bildung und Anerkennung der Individualität jeder Schülerin und jedes Schülers. Soziale und personale Fähigkeiten werden übereinstimmend hoch gewichtet. Fachliche Kompetenzen beruhen im Sinne eines sonderpädagogischen Fachwissens auf Diagnostik und dem Umgang mit Heterogenität. Die Ergebnisse werden in Hinblick auf die Lehrerausbildung diskutiert. Schlüsselbegriffe: Anforderungsprofil, Berufsethos, Gruppendiskussion, Lehrerausbildung, Umgang mit Heterogenität What Competencies do Teachers for Students with Special Needs in Learning Need? Job Requirements from the Perspective of Experts in Teacher Education and Practice Summary: What competencies do teachers for students with special needs in learning need to be prepared for their daily work? In the absence of an empirically elaborated demand profile, the present study faces these questions from the perspective of teachers and the teacher trainers. By interviewing both groups in form of focus groups, social and personal competencies were found to be essential. Professional expertise is based on diagnostics and the handling of heterogeneity. The key element of the demand profile is a positive and respectful attitude towards the students. The results as well as developmental tasks are discussed with regard to teacher education. Keywords: Demand profile, attitude, focus groups, teacher education, heterogeneity FACH B E ITR AG 1 Zur Notwendigkeit eines Anforderungsprofils im Förderschwerpunkt Lernen Zu den Anforderungen an Lehrpersonen finden sich in fast allen europäischen Ländern Kataloge, Zusammenstellungen und Listen meist von Berufsverbänden oder Ministerien, die ein entsprechendes Aufgabenspektrum abbilden. Diese Aufstellungen basieren häufig auf normativen Betrachtungen und lehnen sich an Weltbilder, Autoritäten oder Gesetze an. Viele davon sind vage und wenig konkret formuliert. Zudem sind sie meist weder theoretisch noch empirisch abgesichert - das gilt für den Regelschulkontext und die Förderschwerpunkte VHN 4 | 2014 306 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG gleichermaßen (vgl. dazu Black-Hawkins 2012). Die Desiderate bezüglich einer empirischen Erfassung von Anforderungen sind vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die an Lehrpersonen herangetragenen Aufgaben gerade einem Wandel unterworfen sind. Die fortschreitende Inklusion bringt sowohl einen Bedarf an Professionalisierung von u. a. Lehrpersonen als auch Veränderungen in den Aufgaben und im Selbstverständnis von Lehrkräften mit sich. Studien in verschiedenen Ländern verweisen auf eine zwiespältige Einstellung gegenüber der Inklusion (Avramidis u. a. 2000; Avramidis/ Norwich 2002). Dabei ist weniger eine generelle Ablehnung denn eine tiefgreifende Unsicherheit zu konstatieren. Neben einer defizitären Aus- und Fortbildung wird ein grundsätzliches Informationsdefizit bezüglich des Aufgabenspektrums der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf beklagt. Soll Inklusion gelingen, müssen sich Lehrpersonen für diese Aufgabe vorbereitet fühlen. Dies macht es erforderlich, so etwas wie ein empirisch fundiertes Anforderungsprofil zu erarbeiten. An diesem Desiderat für Forschung und Praxis setzt die vorliegende Untersuchung an. Sie fokussiert auf den Förderschwerpunkt Lernen und zielt darauf ab, n ein speziell auf die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf im Bereich Lernen zugeschnittenes Anforderungsprofil zu entwickeln, n das die Besonderheiten dieses Förderschwerpunktes herausstellt, n das allen Lehrkräften, besonders auch denjenigen, deren Tätigkeitsfeld sich hin zur Inklusion verschiebt, Orientierung bietet, und n ebenso Studierenden und an einem Studium interessierten Personen zur Verfügung gestellt wird, um dem so häufig geäußerten Wunsch nach einem realistischen Einblick in die Anforderungen des Berufs (vgl. Hausstatter 2007) entgegenzukommen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung werden Meinungen und Einstellungen zu den für die Berufsausübung im Förderschwerpunkt Lernen zentralen Anforderungen in Form ermittelnder Gruppendiskussionen erhoben (vgl. Lamnek 2010). Zudem wird die Frage der Vermittlung der Anforderungen in der Lehrerausbildung thematisiert. 2 Forschungsstand zu den Anforderungen des Lehrerberufs 2.1 Die Identifikation beruflicher Anforderungen von Förderschullehrkräften Viele Ansätze und Beschreibungen zum Anforderungsspektrum von Lehrpersonen in allen Schularten sind normativ geprägt. Die häufig zitierten KMK-Standards zur Lehrerbildung haben keine empirische Basis, sondern sind theoriegeleitete Expertenurteile. Dies gilt auch für die Sonderpädagogik, auch hier beruht die Festlegung von Standards auf normativen Überzeugungen, die von den Berufsverbänden und anderen Verantwortlichen im Bildungssystem, unterstützt von Expertisen, vorgelegt werden (vgl. Moser u. a. 2010). Bestehende empirische Studien zur Identifizierung beruflicher Anforderungen von Lehrpersonen fokussieren häufig auf die Regelschularten (z. B. COACTIV, Kunter u. a. 2011; TEDS, Blömeke u. a. 2010). Die Identifizierung beruflicher Anforderungen im Förderschulbereich basiert, im Vergleich zu den Regelschularten, auf besonderen Voraussetzungen: n Die meisten Förderschulen werden geführt wie Grund- und Hauptschulen, mit Modifikationen wie der Reduktion der Klassengröße oder einer Veränderung des Curriculums je nach Förderschwerpunkt. Eine sonderpäd- VHN 4 | 2014 307 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG agogisch ausgerichtete Erziehung und Unterrichtsgestaltung unterscheidet sich nicht prinzipiell von allgemeiner pädagogischer Arbeit. Sonderpädagogik hat subsidiäre Aufgaben (Drave u. a. 2000, 31). n Die Bedürfnisse der Adressaten spiegeln sich in divergierenden Anforderungen wider. Es gibt für die Förderschule nicht das Anforderungsprofil, es muss den unterschiedlichen Förderschwerpunkten Rechnung getragen werden. n Es besteht ein starkes Gefälle zwischen dem (schwer)behinderten Schüler und dem Pädagogen (Benkmann 2011, 9). n Empirische Befunde können nur Aussagen zu konkreten Kompetenzen/ Anforderungen liefern. Herausforderungen struktureller Natur bzw. der pädagogischen Interaktion sind nicht aufzuheben, sondern nur anzunehmen (Benkmann 2011). 2.2 Das Aufgabenspektrum im Förderschwerpunkt Lernen Die Förderschule unterliegt wie die Regelschulen bezüglich der Anforderungen dem Trend der Standardisierung (KMK 1994; Verband Sonderpädagogik 2009). Die konzipierten Standards werden vielfältig kritisiert, z. B. wegen mangelnder Konkretion, eines hohen Allgemeinheitsgrades und geringer Operationalisierbarkeit (z. B. Berner/ Halbheer 2011; Wember/ Prändl 2009). Darüber hinaus liegen v. a. theoretische Darstellungen zu sonderpädagogischer Arbeit vor, die aber häufig nicht auf einen Förderschwerpunkt fokussieren, sondern die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf an sich beschreiben. Dies gilt z. B. auch für die noch folgenden Kompetenzmodelle. Ein Beispiel für ein speziell auf einen Förderschwerpunkt zugeschnittenes Anforderungsprofil ist das zum Bereich Emotionale und soziale Entwicklung, das im Rahmen des Projekts, in dem auch die vorliegende Untersuchung stattfindet, erstellt wurde (vgl. Weiß u. a. 2013) und in der Diskussion noch aufgegriffen wird. Nähert man sich speziell der Arbeit im Förderschwerpunkt Lernen an, kann zuerst einmal auf die diesbezügliche Beschreibung der KMK verwiesen werden: „Eine Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen im schulischen Lernen, in der Leistung sowie im Lernverhalten setzt die Bereitstellung von anregenden Erfahrungsräumen voraus. Sie schafft strukturierte Lernsituationen, in denen vor allem elementare Bereiche der Lernentwicklung wie Motorik, Wahrnehmung, Kognition, sprachliche Kommunikation, Emotionalität und Interaktion beachtet werden. Diese müssen geeignet sein, Interesse zu wecken, individuelle Lernwege zu erschließen, Aneignungsweisen aufzubauen, um die Aufnahmen, Verarbeitung und handelnde Durchdringung von Bildungsinhalten zu ermöglichen und über die Vermittlung von Lernerfolgen das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen zu stärken.“ (Drave u. a. 2000, 32) Eine weitere Ausdifferenzierung des Aufgabenspektrums gelingt mittels theoretischer Darstellungen, die häufig der Gliederung nach Kompetenzbereichen folgen (vgl. dazu auch Kiel 2013). Eine besonders in der Sonderpädagogik häufig gewählte Systematik lehnt sich an Roth (1971) an. Dieser verknüpft den Kompetenzbegriff mit dem Begriff der Mündigkeit. Für ihn ist „Mündigkeit […] als Kompetenz zu interpretieren, und zwar in einem dreifachen Sinne: 1) als Selbstkompetenz, d. h. als Fähigkeit, für sich selbst verantwortlich handeln zu können, 2) als Sachkompetenz, d. h. als Fähigkeit, für Sachbereiche urteils- und handlungsfähig und damit zuständig sein zu können, und 3) als Sozialkompetenz, d. h. als Fähigkeit, für sozial, gesellschaftlich und politisch relevante Sach- oder Sozialbereiche urteils- und handlungsfähig und also ebenfalls zuständig sein zu können“ (ebd., 180). Diese Trias prägt die Diskussion bis heute und wird auch durch die folgende Darstellung abgebildet. VHN 4 | 2014 308 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG Sachkompetenzen sind (vgl. Geiling 2009; Haeberlin 1999; Heimlich 2007 a; 2007 b; 2008): n Kenntnis des zu vermittelnden Stoffes, die Planung von Unterrichtseinheiten und die Gestaltung von überfachlichem bzw. fächerübergreifendem Unterricht bezogen auf Lebenswelt und Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. n Didaktisch-methodische Kenntnisse besonders bezüglich Individualisierung und Differenzierung sowie ein flexibler Einsatz integrativer und kooperativer Unterrichtsmethoden. n Grundkenntnisse bezüglich der individuellen Förderbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in Verbindung mit psychologischen und soziologischen Voraussetzungen des Lernens und der Entwicklung. n Die Schaffung motivierender Bedingungen für Lernen für Schülerinnen und Schüler mit langfristigen Versagenserlebnissen sowie unmittelbares Feedback zu allen Lernergebnissen und positive Verstärkung auch der kleinsten Lernfortschritte. n Förderdiagnostik im Sinne der Ermittlung eines Förderbedarfs, Erstellung eines Gutachtens mit Förderempfehlungen und Erstellen eines Förderplans. Soziale Kompetenzen umfassen (vgl. Haeberlin 1999; Heimlich 2008; Moser u. a. 2010; Schumann u. a. 2009): n Kommunikative Fähigkeiten, v. a. Gesprächsführung, Beratung und Elternarbeit. n Kenntnisse in der Funktionsweise von pädagogischen Teams und der Teamentwicklung zur Schaffung notwendiger Kooperationsstrukturen, (interdisziplinäre) Kooperation mit inner- und außerschulischen Hilfesystemen. n Ein hohes Maß an Vernetzung, die Fähigkeit zur Analyse der systemischen Struktur des Arbeitsfeldes, um darauf aufbauend mit einem vernetzten Interventionsansatz Veränderungsprozesse in Gang setzen. Personale Kompetenzen beziehen sich auf folgende Aspekte (vgl. Benkmann 2011; Haeberlin 1999; Heimlich 2007 a; 2007 b; 2008; Schumann u. a. 2009): n Grundlegende Bereitschaft zur Unterstützung integrativer Prozesse sowie die Fähigkeit, eigene Grenzen und Fehler zu erkennen und zu diskutieren. n Beziehungsgestaltung im Sinne einer Unterstützung der Lernbiografie eines Menschen. n Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz und selbstreflexive Handlungskompetenz, verbunden mit Selbstkritik, Selbstsicherheit und Empathiefähigkeit. n Aushalten von Widersprüchen wie zwischen Vision und Realität. n Reflexiver Umgang mit den eigenen Ressourcen. Als ein die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern in besonderem Maße charakterisierender Aspekt wird die Haltung herausgestellt. Antor und Bleidick (2000) bezeichnen diese als „Kernstück der Disziplin“ (10). Haeberlin (1999, 133) spricht auch von einer „Anwaltschaft“ für Benachteiligte und Ausgegrenzte: Diese ist charakterisiert als Anerkennung der Individualität eines jeden einzelnen, „ideologische Offenheit, Überzeugung vom Lebensrecht für alle, Glaube an Bildbarkeit und Bildungsrecht für alle, Engagement für Selbstständigkeit und Lebensqualität aller“ (Haeberlin 1999, 135). Dlugosch und Reiser (2009) spezifizieren eine ethische Grundhaltung als die Verteidigung des Anspruchs jedes Menschen auf Erziehung und Bildung. 3 Fragestellung Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Erstellung eines Anforderungsprofils für den Beruf der Förderschullehrkraft mit Schwerpunkt Lernen durch verschiedene in diesem Bereich tätige Gruppen. Dabei wird folgenden Fragestellungen nachgegangen: VHN 4 | 2014 309 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG 1. Über welche Fähigkeiten und Eigenschaften müssen Förderschullehrer für ihre Berufsausübung verfügen? 2. Welche dieser Eigenschaften werden bisher in der Lehrerausbildung gefördert und welche nicht? 3. Wie könnte man die Förderung dieser Eigenschaften in der Lehrerausbildung (noch) verbessern bzw. ausbauen? Die Fragestellung wurde - mit Bezug zu den später näher erläuterten unterschiedlichen Gruppen - um eine weitere Frage ergänzt: 4. Bestehen Unterschiede in den Fähigkeits- und Eigenschaftsprofilen von Förderschullehrkräften, je nachdem von welcher Gruppe - von Lehrkräften bzw. in der Lehrerausbildung Tätigen - diese erstellt werden? 4 Methode 4.1 Projekte Die vorliegende Untersuchung ist Teil der Forschungsprojekte Anforderungsanalysen für den Lehrerberuf und Risiko-Check für das Lehramt am Lehrstuhl für Schulpädagogik der Ludwig- Maximilians-Universität München. Im Rahmen des Anforderungsanalysen-Projekts werden schulartenspezifische Anforderungsprofile erstellt. In schulartspezifischen Gruppendiskussionen erfolgt eine Erhebung von notwendigen Fähigkeiten und Eigenschaften durch in Praxis und Ausbildung Tätige. Die Anforderungsanalysen fließen, im Sinne eines Realistic Job Preview, in den Risiko-Check ein - ein Instrument, das Personen vor und während des Lehramtsstudiums darin unterstützen soll, individuelle Erwartungen, Motive und Wünsche mit dem Studium und dem zukünftigen Beruf abzugleichen. 4.2 Stichprobe und Vorgehen Die Gruppendiskussionen waren Teil eines groß angelegten Workshops für den Förderschulbereich mit dem Schwerpunkt Lernen zu den zuvor beschriebenen Projekten. Zur Erfassung eines Anforderungsprofils wird auf die Methode der ermittelnden Gruppendiskussion zurückgegriffen. Es handelt sich hierbei um ein Gespräch mehrerer Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einem Thema, das die Diskussionsleitung benennt (Lamnek 2010). Ziel dieses Vorgehens ist u. a. die Ermittlung der Meinungen und Einstellungen der ganzen Gruppe, die Feststellung öffentlicher Meinungen und Einstellungen sowie die Ermittlung kollektiver Orientierungsmuster. Der Vorteil gegenüber quantitativen Verfahren liegt darin, dass über die Beantwortung festgelegter Items oder Fragen hinaus zusätzliche Begründungen und Informationen einfließen können. Zudem kommen in Gruppendiskussionen Meinungen durch gegenseitige Stimulierung deutlicher zum Vorschein als in quantitativen Erhebungen. Dabei wird das Individuum als Meinungsträgerin bzw. als Meinungsträger nicht vernachlässigt, sondern das einzelne Gruppenmitglied repräsentiert in seiner geäußerten Einstellung die dahinter stehende Gruppenmeinung zumindest teilweise mit. Die durch dieses Vorgehen ermittelten kollektiven Orientierungsmuster sind als valide Ergebnisse zu betrachten: Es sind Strukturen, die sich jenseits der einzelnen Diskussion reproduzieren lassen bzw. auf Erfahrungsräume und kollektive Orientierungsmuster von Großgruppen verweisen. 4.2.1 Gruppenzusammensetzung Die Gesamtstichprobe umfasst 36 im Förderschwerpunkt Lernen tätige Personen: 20 erfahrene Lehrkräfte, 14 Schulleiterinnen/ Schulleiter sowie 2 Seminarleiterinnen. Diese wurden durch ein Schreiben zur Teilnahme an dem Workshop an die Universität eingeladen, wel- VHN 4 | 2014 310 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG ches über das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus an alle Schulen in Bayern weitergeleitet wurde. Zugelassen wurde, wer über eine mindestens 10-jährige aktive Berufserfahrung verfügt. Das durchschnittliche Lebensalter der Teilnehmerinnen und Teilnehmer beträgt 48,7 Jahre mit einem Minimum von 29 und einem Maximum von 64 Jahren. Das Dienstalter lag im Durchschnitt bei 21,7 Jahren, hier mit einem Minimum von 10 und einem Maximum von 42 Jahren. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden nach ihrer Tätigkeit in zwei mal drei homogene Diskussionsgruppen eingeteilt: n Drei Gruppen setzten sich aus Lehrkräften (LE) zusammen, die ausschließlich im Schuldienst, ohne eine Ausbildungsfunktion für angehende Lehrkräfte, tätig sind. n Drei bestanden aus im Ausbildungsbereich tätigen Personen (AB) wie Schulleiterinnen/ Schulleiter und Seminarleiterinnen. 4.2.2 Strukturierung der Diskussion Jede Gruppe wurde durch einen in der Lehrerbildung tätigen, erfahrenen Mitarbeiter moderiert. Der Diskussionsverlauf erfolgte thematisch strukturiert anhand der in Kapitel 3 beschriebenen Leitfragen. Die Ergebnisse wurden protokolliert. Die protokollierten Aussagen der Teilnehmer wurden mithilfe des Programms MAXqda Kategorien zugeordnet. In den Gruppendiskussionen spiegelt sich die gängige theoretische Unterscheidung in die Kategorien Fach- und Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und personale Kompetenz (Roth 1971) in den Aussagen der Teilnehmenden wider. Die Ergebnisdarstellung folgt dieser bereits im Datenmaterial zugrunde liegenden Ordnung. Somit wurde theoriegeleitet ein Kategoriensystem aus dem Material heraus entwickelt. Die Auswertung orientierte sich am Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010). Die Kategorien wurden zusammengefasst und die Ergebnisse nach Themen geordnet und analysiert. Mehrmals benannten die Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer inhaltlich übereinstimmende Anforderungen mit unterschiedlichen Begriffen. In solchen Fällen wurden die Aussagen durch erneutes Hinzuziehen der Protokolle im Kontext überprüft und gegebenenfalls einem Oberbegriff zugeordnet, der beide Aspekte weitgehend ohne Bedeutungsverlust abbildet. Dennoch kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass Anforderungen zwar mit gleichem Begriff benannt, diese von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aber unterschiedlich interpretiert wurden. Bei der Auswertung erhielten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer Codierungen (LE = Lehrkraft, AB = Ausbildungsperson) und wurden durchnummeriert, um die Aussagen zuordnen zu können. Zur Überprüfung der Gütekriterien wurde die Interrater-Reliabilität berechnet. Dazu wurden alle Nennungen komplett doppelcodiert. Als Übereinstimmung wurde gewertet, wenn mindestens 90 % der entsprechenden Textstellen gleich codiert wurden. In der Literatur werden Reliabilitätskoeffizienten von .70 allgemein als zufriedenstellend angesehen (Bos 1989, 62). 5 Ergebnisse 5.1 Über welche Fähigkeiten und Eigenschaften müssen Lehrkräfte im Förderschwerpunkt Lernen für ihre Berufsausübung verfügen? Abbildung 1 gibt einen Überblick über das Kategoriensystem der ersten Leitfrage. Auffallend ist die Betonung von Sozialkompetenz sowie von personaler Kompetenz, wohingegen die Fach- und Methodenkompetenz weniger stark gewichtet wird. VHN 4 | 2014 311 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG 5.1.1 Soziale Kompetenzen Sowohl Lehrkräfte als auch Schul- und Seminarleitungen sprechen der Führungsfähigkeit eine große Bedeutung zu, worunter insbesondere das Leiten einer Gruppe verstanden wird. Kontrovers wird diskutiert, ob und inwiefern die Fähigkeit zu führen angeboren oder erlernbar ist. Einige Diskutanten sehen den Begriff des Führens im Sinne einer Persönlichkeitseigenschaft in Richtung einer „natürlichen Autorität“ (LE 2) bzw. einer „Grundfähigkeit, die ein Lehrer haben muss“ (AB 2) an. Andere verstehen darunter erlernbare Techniken wie Klassenführung, die bei den fachlichen Kompetenzen angeführt wird. Ebenso bedeutsam ist Empathie, die meist im Sinne von sozialem Feingefühl definiert wird. Sie ist primär im Umgang mit Schülerinnen und Schülern nötig als die Anforderung, sich auf diese selbst sowie ihre spezifischen Problemlagen einzulassen und ihnen wertschätzend entgegenzutreten. Unterschiede bezüglich der Funktion der Diskussionsteilnehmer liegen v. a. in der Bedeutungseinschätzung der Kategorie Nennungen* Sozialkompetenzen ➝ Führungsfähigkeit ➝ Empathie ➝ Freude an der Interaktion mit Kindern/ Jugendlichen ➝ Enthusiasmus ➝ Beziehungsfähigkeit ➝ Kommunikationskompetenz ➝ Humor ➝ Kooperation/ in Netzwerken agieren 9 8 11 5 6 10 3 19 Personale Kompetenzen ➝ Berufsethos/ Haltung ➝ Vorbild sein ➝ Übernahme von Verantwortung ➝ Lehrergesundheit ➝ Selbstwirksamkeit ➝ Persönlichkeit ➝ Authentizität ➝ Zuverlässigkeit ➝ sicheres Auftreten ➝ Selbstorganisation ➝ Selbstreflexion ➝ Anstrengungsbereitschaft ➝ Flexibilität ➝ Handlungsspielräume nutzen 13 3 6 18 4 11 5 3 8 5 3 12 3 Fach- und Methodenkompetenzen ➝ Wissen vermitteln ➝ Sonderpädagogisches Fachwissen -Diagnostik ➝ Umgang mit Heterogenität ➝ Klassenführung 3 5 35 3 Abb. 1 Kategoriensystem zum Anforderungsprofil für den Förderschwerpunkt Lernen ➝ * IRR > 90 % VHN 4 | 2014 312 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG Freude an der Interaktion mit Kindern und Jugendlichen: Für Lehrkräfte ohne Ausbildungsfunktion nimmt diese eine zentrale Stellung ein, die eng mit Enthusiasmus und Beziehungsfähigkeit verknüpft ist. Es entsteht ein Begriffsnetz, das als Grundlage für die Berufsausübung verstanden wird: „Es ist im Förderschulbereich besonders wichtig, nah am Schüler dran zu sein. Oft ist man eine der wichtigsten oder gar die wichtigste Bezugsperson, man hat wesentlich mehr Bezug zum privaten Umfeld der Schüler. Erziehung kann nur funktionieren, wenn eine Beziehung da ist.“ (LE 9) Die Schul- und Seminarleitungen ordnen vergleichbare Aspekte auf einer abstrakteren Ebene den Kategorien Berufsethos bzw. Menschenbild zu. Kommunikationsfähigkeit und Humor werden überwiegend von den Lehrkräften genannt und spielen in den Aussagen der Schul- und Seminarleitungen eine untergeordnete Rolle. Erstere wird definiert als eine klare, aber anpassungsfähige Sprache. Ein Schulleiter ergänzt dies um den Aspekt der mündlichen und schriftlichen Artikulationsfähigkeit, d. h. die Anforderung, „Gutachten ohne sprachliche Mängel“ (AB 11) erstellen zu können. Dem Humor hingegen wird die Funktion zugeschrieben, einen bedeutsamen Beitrag zu einem effektiven Umgang mit Unterrichtsstörungen leisten zu können. Von den Ausbildungspersonen genannt wird die Fähigkeit zur Kooperation. Dieser wird sowohl innerhalb der Schule, im Sinne von Teamfähigkeit, als auch in der Zusammenarbeit mit externen Akteuren (z. B. Ärzten, Polizei, Jugendamt) große Bedeutung beigemessen. Das Herstellen von und Agieren in Netzwerken wird als eine zentrale Anforderung gesehen, u. a. bedingt durch die verschiedenen Tätigkeitsfelder (z. B. Sonderpädagogisches Förderzentrum, Inklusionsklassen). 5.1.2 Personale Kompetenzen Bei den personalen Kompetenzen ist die Funktion (in der Ausbildung tätig oder nicht) der Diskutanten entscheidend. Für die Befragten mit Ausbildungsfunktion ist eine wertschätzende pädagogische Haltung, als Berufsethos bezeichnet, eine „unabdingbare Notwendigkeit“ (AB 9) für die Tätigkeit. Zentral spiegelt dies der immer wieder angeführte Begriff der „Annahme“. Dieser ist im Sinne eines „Mandats“ zu verstehen, jedes Kind bzw. jeden Jugendlichen anzunehmen und sich mit Milieus auseinanderzusetzen, in denen Werthaltungen gelten, die von den eigenen abweichen oder sogar in Konflikt damit stehen. Diese Grundhaltung stellt die Basis für sonderpädagogisches Handeln dar und ist zentrale Anforderung der Förderschulprofession im genannten Förderschwerpunkt. Damit verknüpft werden die Anforderungen, als Lehrperson ein Vorbild zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Von den Schul- und Seminarleitungen ebenfalls stärker betont wird der Bereich der Lehrergesundheit mit Aspekten wie Stressresistenz, Distanzierungsfähigkeit, Belastungsfähigkeit und Work-Life-Balance. Nur so ist man dauerhaft dem breiten Aufgabenspektrum und den damit einhergehenden Belastungen gewachsen. In diese Kategorie ordnen die Diskutanten auch das Erleben von Selbstwirksamkeit ein, denn man ist damit konfrontiert, dass sich „Fortschritte bei Schülern oft sehr langsam einstellen bzw. viele Ohnmachtserlebnisse auftreten“ (AB 8) und so das „Sinnerleben“ (AB 8) bzw. das Gefühl des „Wirksam-Seins“ (AB 2) eine wichtige Rolle für das Agieren von Lehrpersonen spielen. Die Lehrkräfte ohne Ausbildungsfunktion diskutieren eine Reihe verschiedener Anforderungen, die sie mit dem Begriff der Persönlichkeit umschreiben. Darin enthalten sind Merkmale wie Authentizität, sicheres Auftreten und Zuverlässigkeit. Eine gefestigte Persönlichkeit bildet eine wichtige Basis für erfolgreiches Lehrerhandeln, z. B. in Bezug auf Klassenführung: „Wenn ich weiß, wer ich bin und was ich will, dann kann ich auch leiten.“ (LE 10) Au- VHN 4 | 2014 313 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG thentisches Auftreten bedeutet, „hinter seinen Überzeugungen zu stehen, mit seinem Wesen hinter dem zu stehen, wie man handelt und was man sagt“ (LE 8) und impliziert auch, aus Schülersicht berechenbar zu sein. Eng mit dieser Kategorie verknüpft sehen die Lehrkräfte die Kategorie Selbstorganisation, die Zeitmanagement, Organisationsvermögen und Strukturierungsfähigkeit umfasst. Die Schul- und Seminarleitungen nennen in diesem Zusammenhang zusätzlich die Fähigkeit zur Selbstreflexion sowie die Anstrengungsbereitschaft. Betont wird auch Flexibilität, da im Lehreralltag viel Unvorhergesehenes passiert. Es soll den „Lehrern leicht fallen, sich in neuen Situationen zurecht zu finden“ (LE 3) und nicht „in Panik zu verfallen“ (LE 3) - es geht darum, handlungsfähig zu bleiben und Handlungsspielräume zu nutzen. 5.1.3 Fach- und Methodenkompetenzen Fach- und Methodenkompetenzen spielen insgesamt eine eher untergeordnete Rolle. Lehrerinnen und Lehrer nur einer Diskussionsgruppe verweisen konkret auf Wissen vermitteln als Anforderung, schätzen diese für ihre Tätigkeit aber weniger bedeutsam ein. Es wird darauf hingewiesen, dass diese Einschätzung wohl ein Spezifikum der Schulart bzw. der Profession darstellt: „Das ist typisch Sonderschullehrer, da steht nirgends ,Vermittlung von Wissen‘ […], das ,soziale Feingefühl‘ steht jetzt evtl. bei Gymnasialen nicht so im Vordergrund.“ (LE 2) Schul- und Seminarleitungen beschreiben eine Sonderpädagogische Fachlichkeit, die Elemente wie Diagnostik, pädagogisches und psychologisches Wissen, aber auch Kompetenzen in den Fächern bzw. Fachdidaktiken umfasst, da „bei allem Fokus auf Diagnostik, Pädagogik und Psychologie auch die Unterrichtsfächer nicht vergessen werden dürfen“ (AB 4). Darüber hinaus wird die Bedeutsamkeit des Umgangs mit Heterogenität herausgestellt, z. B. bezogen auf ein Austarieren zwischen Differenzierung und dem damit verbundenen Aufwand, da eine heterogene Schülerklientel ein Wesensmerkmal der Lehrerarbeit darstellt. 5.2 Welche Fähigkeiten und Eigenschaften werden in der Lehrerausbildung bisher (gut) gefördert und welche nicht? Die Einschätzung, was die Lehrerausbildung leistet, fällt ambivalent aus. Die genannten Kritikpunkte lassen sich weitgehend der Thematik des fehlenden Praxisbezugs zuordnen. Die bisweilen praxisferne Ausbildung erlaubt in den Augen der Diskutanten häufig keinen realistischen Blick auf die Anforderungen des Schulalltags. Zudem sind die Ausbildungsphasen ungenügend miteinander verzahnt. Kritisiert wird auch eine fehlende Fokussierung auf das Thema Lehrergesundheit. In der Ausbildung Tätige nennen zusätzlich den damit verknüpften Aspekt einer ökonomischen Arbeitsweise, deren Förderung aufgrund der Struktur der Ausbildung und der hohen Anforderungen bisweilen ins Gegenteil verkehrt wird. Für nicht ausreichend gefördert erachten die Befragten auch die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit und damit einhergehend Beratung sowie den Umgang mit Disziplinschwierigkeiten. Ausreichend gefördert hingegen werden das Aufbereiten von Wissen sowie die Themen Unterrichtsplanung und Methoden. Die Aussagen aller Befragten weisen eine breite theoretische Basis an sonderpädagogischem Fachwissen (z. B. Inhalte von Testverfahren) aus, die Absolventen im Förderschulbereich in der Regel erworben haben; die Umsetzung in die Praxis (z. B. die Anwendung diagnostischer Instrumente) gestaltet sich aber bisweilen schwierig. Positiv wird auch die Entwicklung der Selbstreflexion vor allem zum Ende der Ausbildung gesehen. Darüber hinaus erwähnen einige Teilnehmende die Teamfähigkeit sowie die mündliche und schriftliche Ausdrucksfähigkeit als im Rahmen der Lehrerausbildung gut gefördert. VHN 4 | 2014 314 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG 5.3 Wie könnte man die Förderung dieser Eigenschaften in der Lehrerausbildung (noch) verbessern bzw. ausbauen? Die große Menge an teilweise divergierenden und z. T. sehr unspezifischen Vorschlägen zur Verbesserung der Lehrerausbildung lässt sich zu einigen wenigen zentralen Aspekten zusammenfassen. Diskutiert werden insbesondere Vorschläge, die sich auf die Struktur des Studiums beziehen. Dies betrifft u. a. den Ausbau bzw. die Neuorganisation von Praxisphasen, die zu verbessernde Verzahnung zwischen erster und zweiter Phase sowie die Gestaltung der Ausbildung zwischen den Zielvorstellungen „Alleskönner“ und „Spezialist“. Ebenfalls angesprochen werden eine Vorauswahl von Studierenden bzw. die Einführung von Instrumenten, mit denen Interessenten oder Studierende ihre Berufswahl überprüfen können. Darüber hinaus wird gefordert, sich stärker an den Realitäten des Schulalltags zu orientieren. 6 Diskussion 6.1 Das Anforderungsprofil im Schwerpunkt Lernen Lehrkräfte sowie Seminar- und Schulleitungen entwickeln zusammenfassend folgendes Anforderungsprofil für den Förderschwerpunkt Lernen: n Hauptmerkmal ist die Annahme jedes Kindes/ jedes Jugendlichen unabhängig von seinem Verhalten, seiner Leistungsfähigkeit, seinem familiären Hintergrund usw. n Soziale und personale Fähigkeiten werden übereinstimmend hoch gewichtet, zentral sind v. a. Aspekte der Interaktion mit Schülerinnen und Schülern wie Empathie, Führungskompetenz oder Flexibilität. n Fachliche und methodische Anforderungen sind untergeordnet; sie werden nicht als fachliche Wissensbasis definiert, sondern bezogen z. B. auf Diagnostik und ein Wissen im Umgang mit der heterogenen Schülerschaft u. a. im Sinne von Differenzierung. n Zwischen Lehrkräften und Ausbildungspersonen bestehen im Anforderungsprofil Überschneidungsbereiche ebenso wie Unterschiede. n Lehrerinnen und Lehrer betonen v. a. „konkrete“ Anforderungen der Interaktion mit Kindern und Jugendlichen wie Kommunikationsfähigkeit oder Authentizität. n In der Lehrerausbildung Tätige erarbeiten ein breiteres Anforderungsspektrum und beschreiben zugleich eher abstraktere bzw. umfassendere Kategorien wie Ethos/ Menschenbild oder Verantwortung. Dieses von im Förderschwerpunkt Lernen Tätigen erstellte Anforderungsprofil spiegelt viele der zu Beginn beschriebenen Kompetenzbereiche wider (vgl. z. B. Benkmann 2011; Haeberlin 1999; Heimlich 2007 a; 2007 b; 2008). Sozialen und personalen Kompetenzen wird große Bedeutung zugesprochen, zentral ist das „Mandat“ für die Schülerschaft, die Haltung. Schule wird verstanden als Bildungsauftrag für jede Schülerin und jeden Schüler (Haeberlin 1999, 135). Diskutiert werden kann der geringe Stellenwert fachlicher und didaktischer Kompetenzen, doch steht die von den Diskutanten vorgenommene „Labelung“ der fachlichen Kompetenz in Einklang mit bestehenden Ansichten im Schwerpunkt Lernen. Fachliche Kompetenz bedeutet nicht einfach, über Fachwissen zu verfügen und dieses zu vermitteln, wie Studien aus dem Regelschulbereich dies häufig definieren (Kunter u. a. 2011). Anders als im Regelschulbereich erscheint Fachlichkeit nicht an Wissensdomänen gebunden, sondern als ein Fachwissen im Sinne individueller Förderung und Differenzierung (vgl. z. B. Heimlich 2007 a; 2008). Deutlich werden auch spezielle Charakteristika des Anforderungsprofils im Förderschwer- VHN 4 | 2014 315 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG punkt Lernen. Diese lassen sich durch einen Abgleich mit dem Profil des Bereichs Emotionale und soziale Entwicklung (Weiß u. a. 2013) schärfen. Gemeinsamkeiten bestehen in der hohen Bedeutungszuschreibung von Haltung und sozialen Kompetenzen. Unterschiede lassen sich v. a. auf die große Heterogenität der Schülerinnen und Schüler zurückführen. Als besondere Anforderungen im Förderschwerpunkt Lernen gilt es Möglichkeiten des Umgangs mit der heterogenen Schülerschaft zu schaffen, z. B. durch Differenzierung. Es müssen auch Handlungsspielräume z. B. in bürokratischen Vorgängen erkannt und genutzt werden, um Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler initiieren zu können. Die zwischen Personen mit und ohne Ausbildungsfunktion bestehenden Unterschiede könnten darauf zurückzuführen sein, dass die Lehrerinnen und Lehrer aus der Perspektive der Praxis, die Ausbildner aus der Perspektive der Anleitung von (angehenden) Lehrkräften, aus der Metaperspektive des Auftretens einer Lehrperson argumentieren. Diese Metaperspektive bedingt das Denken und Handeln in „übergeordneten Kategorien“, es wird nicht von Authentizität gesprochen, sondern von Ethos. 6.2 Der Blick auf die Lehrer(aus)bildung Zentraler Kritikpunkt und Verbesserungswunsch in den Gruppendiskussionen ist der Praxisbezug. Dies deckt sich mit der Studie von Gehrmann u. a. (2000), in der sich Studierende u. a. mehr Praxisanteile im Studium wünschen. Doch muss, im Sinne der Expertiseforschung, eine qualifizierte wissenschaftliche Lehrerbildung auf einen breiten Wissens- und Interessenhorizont hinarbeiten (Bromme/ Haag 2008): Es genügt nicht, angehende Lehrkräfte nur in Themen und Fragestellungen einzuführen, die einen unmittelbaren Praxisbezug aufweisen und durch konkrete Handlungsanforderungen des Unterrichtsalltags begründet sind. Sind Studieninhalte ausschließlich an den Bedürfnissen und Problemen der späteren Berufspraxis ausgerichtet, werden die komplexen Probleme des Verhältnisses von wissenschaftlichem Wissen und praktisch-pädagogischem Handeln ignoriert bzw. verkürzt. Die Entwicklung von Expertise erfordert die Reflexion und Distanzierung von der eigenen Schulzeit, es muss „kategoriales und metakognitives Wissen auf akademischem Weg gelernt werden, und zwar in bedeutsamem Abstand zur eigenen Primärerfahrung“ (Bromme/ Haag 2008, 811). Daraus sollen keine Entwicklungsaufgaben für Lehrerinnen und Lehrer abgeleitet werden, denn diese wirken fest verankert in ihrer Profession, sondern für angehende Lehrpersonen. Für diese gilt es einen großen Balanceakt zu leisten. Denn einerseits ist eine fundierte fachliche Ausbildung erforderlich, die über einen ausschließlichen Praxisbezug hinausgeht. Doch andererseits ist mehr notwendig als Fachwissen, es geht um habituelle Aspekte wie Einstellungen und Haltungen (Dlugosch/ Reiser 2009): Erforderlich sind „komplexe Persönlichkeitsleistungen, die das Ertragen von Paradoxien und das Ausbalancieren von Widersprüchen ermöglichen sowie eine reflexive und zugleich selbstkritische wie selbstsichere Handlungsfähigkeit herstellen“ (ebd., 96). Die Entwicklungsaufgaben, die diesen Persönlichkeitsleistungen zugrunde liegen, bestehen ebenso in der Schulung von Wahrnehmung, Empathie und Intuition sowie in konkreten Reflexionshilfen und Handlungsvorlagen wie in der Bearbeitung der eigenen Biografie und der Bewältigung eventueller blinder Flecken in der Berufswahl und Berufsausübung. Hier ergeben sich auch die Anknüpfungspunkte für den fortschreitenden Prozess der Inklusion. Diese Aspekte charakterisieren die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf. Sie sind somit auch handlungsleitend für diejenigen Lehrerinnen und Lehrer, die in der Inklusion tätig sind. Es gilt also, diese Lehrpersonen an die Haltung heranzuführen. VHN 4 | 2014 316 SABINE WEISS, MARKUS KOLLMANNSBERGER, EWALD KIEL Was sollen Lehrerinnen und Lehrer im Förderschwerpunkt Lernen können? FACH B E ITR AG Aus den Befunden ergeben sich Anknüpfungspunkte für weitergehende Forschungen. Durch das inhaltsanalytische, qualitative Vorgehen wurden als bedeutsam eingeschätzte Anforderungen der Lehrertätigkeit im Förderschwerpunkt Lernen herausgearbeitet. Diese könnten als Basis für eine Hypothesengenerierung zum Berufsbild dienen. Diese Hypothesen könnten dann mittels quantitativer Verfahren überprüft und in der Folge in einem Multi-Method-Ansatz mit den Befunden der vorliegenden Studie trianguliert werden. Literatur Antor, G.; Bleidick, U. (2000): Behindertenpädagogik als angewandte Ethik. Stuttgart: Kohlhammer Avramidis, E.; Bayliss, P.; Burden, R. 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