eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2014.art02d
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2014
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Entwicklung und Überprüfung eines fallbasierten Instruments zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration

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2014
Susanne Schwab
Tobias Tretter
Markus Gebhardt
Zur Erfassung der Einstellung gegenüber schulischer Integration wurde der Kurzfragebogen „Attitudes Towards Inclusion Scale (ATIS)“ entwickelt. Im Rahmen von zwei Erhebungen wurden insgesamt 2158 Personen befragt. Die Ergebnisse werden in diesem Artikel analysiert, wobei gezeigt werden kann, dass die Skala unabhängig von der Instruktion (integratives vs. Segregatives Setting) eine akzeptable interne Konsistenz aufweist und die einfaktorielle Struktur als weitgehend bestätigt betrachtet werden kann. Die befragten Personen gaben insgesamt eine neutrale bis vorsichtig positive Einstellung zur schulischen Integration von Kindern mit Behinderung an, wobei die Art der Behinderung eine wichtige Rolle spielte. Weiter zeigten sich Reihenfolgeneffekte in Bezug auf die Instruktion. So war die Einstellung zur schulischen Integration positiver, wenn zuerst ein integratives Setting und danach erst das segregative Setting vorgestellt wurde.
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20 VHN, 83. Jg., S. 20 -32 (2014) DOI 10.2378/ vhn2014.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Entwicklung und Überprüfung eines fallbasierten Instruments zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration Wie denken Studierende, Berufstätige und Schüler/ innen über schulische Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf? Susanne Schwab Tobias Tretter Markus Gebhardt Universität Graz Universität Augsburg TU München School of Education Zusammenfassung: Zur Erfassung der Einstellung gegenüber schulischer Integration wurde der Kurzfragebogen „Attitudes Towards Inclusion Scale (ATIS)“ entwickelt. Im Rahmen von zwei Erhebungen wurden insgesamt 2’158 Personen befragt. Die Ergebnisse werden in diesem Artikel analysiert, wobei gezeigt werden kann, dass die Skala unabhängig von der Instruktion (integratives vs. segregatives Setting) eine akzeptable interne Konsistenz aufweist und die einfaktorielle Struktur als weitgehend bestätigt betrachtet werden kann. Die befragten Personen gaben insgesamt eine neutrale bis vorsichtig positive Einstellung zur schulischen Integration von Kindern mit Behinderung an, wobei die Art der Behinderung eine wichtige Rolle spielte. Weiter zeigten sich Reihenfolgeneffekte in Bezug auf die Instruktion. So war die Einstellung zur schulischen Integration positiver, wenn zuerst ein integratives Setting und danach erst das segregative Setting vorgestellt wurde. Schlüsselbegriffe: Einstellungen, schulische Integration, Sonderpädagogik, Behinderung Construction and Evaluation of a Case-Based Instrument for the Measurement of the Attitude Towards Inclusive Education What do Students and Working People Think About the Inclusive Education of Children with Disabilities? Summary: To measure the attitudes towards inclusion, the short questionnaire „Attitudes Towards Inclusion Scale (ATIS)“ was developed. Two surveys covered a total of 2’158 persons. The findings will be analyzed in this article and it will be shown that first, the scale is independent of the instruction (integrative vs. segregative setting), second, it possesses an acceptable internal consistency, and third, the univariate structure of the instrument can be accepted. Surveyed persons responded with a slightly positive attitude towards the inclusion of disabled children whereat the type of disability played a major role. Furthermore, some sequence effects regarding the type of disability could be observed. More specifically, the attitude towards inclusion was more positive if the integrative setting was introduced first and the segregative second. Keywords: Attitudes towards integration, inclusive education, special educational needs, disabilities FACH B E ITR AG VHN 1 | 2014 21 SUSANNE SCHWAB, TOBIAS TRETTER, MARKUS GEBHARDT Ein Instrument zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration FACH B E ITR AG 1 Einstellung zur schulischen Integration bei Kindern mit unterschiedlichen Behinderungsarten In Österreich wie auch im gesamten europäischen Raum ist die schulische Integration von Kindern mit Behinderung auf dem Vormarsch (z. B. Meijer 2010), was sich auch in den steigenden Zahlen der europäischen Länder der European Agency zeigt (European Agency 2010). So hat etwa die Steiermark seit den 1990er Jahren Integration als Ziel ausgegeben, momentan werden 77,3 % der steirischen Schüler/ innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) integriert (Statistik Austria 2010; Buchner/ Gebhardt 2011). Als wesentlichen Einflussfaktor für eine gelingende Integration wird die Einstellung der beteiligten Akteure zu schulischer Integration von Kindern mit Behinderung gesehen (z. B. Acedo u. a. 2009; de Boer u. a. 2011; Eberwein/ Knauer 2009; Pearce u. a. 2009; Zollneritsch 2009). Um jedoch insgesamt zu einer erfolgreichen Integration zu gelangen, nimmt auch die Einstellung der Öffentlichkeit eine ganz entscheidende Rolle ein (Burge u. a. 2008; Schwab u. a. 2012 b; Scior 2011; Siperstein u. a. 2011). In allen Einstellungsbewertungen spielen affektive Komponenten eine Rolle, da Bewertungen mit Emotionen und Unsicherheiten einhergehen (Cloerkes 2007; Haddock/ Mayo 2007). Gleichermaßen relevant scheinen jedoch Kognitionen zu sein, sodass Einstellungen entsprechend dem Zweikomponentenmodell (z. B. Fishbein/ Ajzen 1974) durch eine kognitive und eine affektive Komponente verstanden werden können. Besonders häufig wird das Zweikomponentenmodell bei der Befragung von Expert/ innen verwendet (z. B. Lehrer/ innen), da diese über ein bewertendes Urteil verfügen. Selbstverständlich ist davon auszugehen, dass unser Verhalten durch unsere Einstellungen beeinflusst, keinesfalls jedoch allein hierdurch erklärt werden kann. Berücksichtigt wird dies im weiterentwickelten Dreikomponentenmodell (Eagly/ Chaiken 1993), welches auch eine verhaltensbezogene Komponente mit einbezieht. Es ist aber davon auszugehen, dass die drei Komponenten nicht voneinander zu trennen und somit als ein Gesamtkonstrukt zu verstehen sind (z. B. Ajzen 2005). Die Einstellung einer Person kann somit als heterogenes Konstrukt verstanden werden, bei dem das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten bislang unklar bleibt (siehe dazu auch de Boer u. a. 2012). Am besten beforscht ist die Einstellung der Lehrer/ innen. Ein Review über 26 Studien zeigte zur konkreten Einstellung von Lehrer/ innen insgesamt, dass diese eher eine neutrale bis negative Einstellung zur Integration von Schüler/ innen mit SPF in den Regelunterricht haben (de Boer u. a. 2011). Entscheidender Einflussfaktor scheint besonders die Art der Behinderung der zu integrierenden Kinder zu sein (Avramidis/ Norwich 2002; Cloerkes 2007; de Boer u. a. 2011; Schwab u. a. 2012 a; Gebhardt u. a. 2011). So bestehen gegenüber Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten in den meisten Studien die größten Vorbehalte bezüglich ihrer schulischen Integration. Die Integration von Kindern mit Körperbehinderung, Sinnesbehinderung und oft auch geistiger Behinderung wird hingegen eher positiv gesehen. Die reservierte Haltung der Lehrer/ innen gegenüber der schulischen Integration ist hinsichtlich der praktischen Umsetzung besonders deutlich (Ring 2005), hinsichtlich des generellen Integrationsgedankens ist die Haltung der Lehrer/ innen positiver (Abbott 2006; Avramidis/ Norwich 2002). Für den deutschsprachigen Raum konnten aktuelle Studien zeigen, dass die Einstellung der Lehrer/ innen zur schulischen Integration positiv zu sein scheint. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Auswirkungen schulischer Integration auf Kinder mit Behinderung handelt (Gebhardt u. a. 2011) oder ob gezielt nach VHN 1 | 2014 22 SUSANNE SCHWAB, TOBIAS TRETTER, MARKUS GEBHARDT Ein Instrument zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration FACH B E ITR AG den Auswirkungen der schulischen Integration auf Kinder ohne Behinderung gefragt wird (Schwab u. a. 2012 a). Eltern hatten grundsätzlich eine positive Einstellung zur schulischen Integration (de Boer u. a. 2010; Kalyva u. a. 2007). Dabei ist es egal, ob ihre eigenen Kinder behindert waren oder nicht (Gasteiger-Klicpera u. a. 2013; Kunz u. a. 2010; Rafferty u. a. 2001). In Bezug auf Studierende kamen Schwab u. a. (in Vorbereitung) zu dem Ergebnis, dass diese eine neutrale bis vorsichtig positive Einstellung zur schulischen Integration von Kindern mit Behinderung aufwiesen, wobei die Art der Behinderung eine wichtige Rolle spielte. Unterschiede zwischen Studierenden verschiedener Studienrichtungen konnten jedoch gar nicht oder kaum gefunden werden (z. B. Ellinger/ Koch 2006; Kuhl/ Walter 2008; Scholz u. a. 2010; Schwab u. a. in Vorbereitung). Bei Schüler/ innen zeigten Studien sowohl positive (z. B. Magiati u.a. 2002) als auch negative (z. B. Nowicki/ Sandieson 2002) Einstellungen (siehe dazu auch Siperstein u. a. 2007 a). Die Einstellung der Allgemeinbevölkerung zur schulischen Integration wurde bisher recht wenig untersucht (Kunz u. a. 2010), was am Fehlen von deutschsprachigen Messinstrumenten liegt, welche sich für die Befragung der Allgemeinbevölkerung eignen. Schomerus u. a. (2012) untersuchten im Rahmen einer Metaanalyse die grundsätzliche Einstellung der Öffentlichkeit zu Menschen mit geistiger Behinderung und kamen zu dem Ergebnis, dass die soziale Ablehnung von Menschen mit Behinderung über die letzten 20 Jahre hinweg äußerst stabil geblieben ist. Ein systematisches Review von Scior (2011), welches die Einstellung der Öffentlichkeit zur schulischen Integration von Menschen mit geistiger Behinderung untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass die Einstellung aufgrund des Alters, des Bildungsniveaus und des Kontakts mit Menschen mit Behinderung vorhergesagt werden kann. Ein konsistenter Geschlechtseffekt konnte jedoch nicht gezeigt werden. Die Autorin stellt schlussfolgernd fest, dass es kaum qualitativ hochwertige Forschung zur Einstellung der allgemeinen Bevölkerung zum Thema geistige Behinderung gibt und dass diesbezüglich hoher Forschungsbedarf besteht. Unterschiedliche internationale Studien, welche die Meinung der allgemeinen Bevölkerung untersuchten, berichten uneinheitliche Ergebnisse zur Einstellung gegenüber schulischer Integration von Kindern mit SPF (Burge u. a. 2008; EORG 2001; NDA 2002; Staniland 2010). Grund hierfür könnte sein, dass unterschiedliche Behinderungsarten untersucht wurden. In Bezug auf die schulische Integration von Kindern mit geistiger Behinderung ist ein kleiner Teil der allgemeinen Bevölkerung immer noch der Meinung, dass diese Kinder separiert unterrichtet werden sollten (z. B. Pace u. a. 2010; Scior 2011). Die größte Sorge besteht dabei darin, dass sich der gemeinsame Unterricht von Menschen mit und ohne Behinderung negativ auf die Schüler/ innen ohne Behinderung auswirkt (siehe dazu z. B. Pace u. a. 2010). 2 Erfassung der Einstellung zur schulischen Integration Zahlreiche Fragebögen und Skalen wurden bereits erstellt, um Einstellungen zu erfassen. Für die Zielgruppe der Lehrer/ innen gibt es mehrere reliable deutschsprachige Messverfahren. Beispielsweise wurden die Skalen „Einstellung zur Integration in der Schule“ (EIS) sowie die Einschätzungsskala „Auswirkungen der Integration von Kindern mit Behinderung auf Kinder ohne Behinderung“ von Reicher (1988) durch die Forschergruppe um Gasteiger-Klicpera (Gebhardt u. a. 2011 sowie Schwab u. a. 2012 a) hinsichtlich ihrer Gütekriterien aktuell evaluiert. In der Schweiz haben Kunz u. a. (2010) die „Teacher Attitudes Toward Inclusion“-Skala VHN 1 | 2014 23 SUSANNE SCHWAB, TOBIAS TRETTER, MARKUS GEBHARDT Ein Instrument zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration FACH B E ITR AG (TATI; Stanley u. a. 2003; Bryer u. a. 2004) ins Deutsche (EZI-D) übersetzt und hinsichtlich ihrer Gütekriterien überprüft. Auch die „My Thinking About Inclusion“-Skala (MTAI; Stoiber u. a. 1998) wurde bereits mehrfach verwendet und weist zufriedenstellende psychometrische Kennwerte auf. Für Elternbefragungen wurde die „Parent Attitude to Inclusion“-Skala (PATI) von Palmer u. a. (1998) von Klicpera und Gasteiger-Klicpera (2005) als auch von Kunz u. a. (2010) übersetzt und evaluiert. In den meisten Studien zur Erfassung der Einstellung der Bevölkerung zur schulischen Integration wurden nur einzelne Items (z. B. EORG 2001) verwendet oder es liegen nur unzureichende Informationen über die Güte der Skalen vor (NDA 2002). Inwieweit die bereits gut etablierten Skalen für Lehrer/ innen oder Eltern für den Einsatz in der Allgemeinbevölkerung verwendet werden können, müsste eigens geprüft werden. Problematisch scheint auch, dass in den meisten Fragebögen ohne Konkretisierung von „Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf “ gesprochen wird. Doch auch Personen, die mit Fragen der Integration konfrontiert sind (z. B. Lehrer/ innen), haben kaum fundierte Informationen über die vielen verschiedenen Aspekte des integrativen und segregativen Schulsystems sowie über die verschiedensten spezifischen Behinderungsarten. Deswegen werden konkrete Beschreibungen des schulischen Settings und der speziellen Bedürfnisse der zu integrierenden Kinder benötigt. Zudem gilt: Wenn, wie in der Literatur beschrieben, vor allem die Behinderungsart einen so wesentlichen Einflussfaktor darstellt, müsste auch bei Befragungen der Allgemeinbevölkerung zwischen verschiedenen Behinderungsarten differenziert werden. Ein Beispiel hierfür findet sich bei Staniland (2010), der in seiner Untersuchung Falldarstellungen verwendet, welche die Beeinträchtigung des Kindes näher beschreiben. Allerdings wurde die Güte des verwendeten Messinstruments nicht näher erläutert. 3 Fragestellung Da nur wenige Befragungsmöglichkeiten zur Erfassung der Einstellung zur Inklusion von Laien vorliegen und diese die oben beschriebenen Mängel aufweisen, wurde die Skala ATIS entwickelt und eingesetzt. In der vorliegenden Untersuchung werden die folgenden Forschungsfragen geklärt: 1. Zunächst soll die neu entwickelte Skala ATIS zur Erfassung der Einstellung zur Integration in der Schule hinsichtlich ihrer psychometrischen Gütekriterien untersucht werden. Damit soll die Frage beantwortet werden, ob die Skala ATIS als vergleichbare Alternative zu den bekannten Skalen zur Erfassung der Einstellung zur schulischen Integration für Laien empfohlen werden kann. 2. Hinsichtlich des eigens konstruierten Messinstrumentes, welches neben der Einstellung zur schulischen Integration auch die Einstellung zur schulischen Segregation erfasst, stellt sich die Frage, ob sich Reihenfolgeneffekte zeigen. Hierfür wird untersucht, ob die Einstellung gegenüber der schulischen Integration positiver ist, wenn zuerst die Einstellung zu einem integrativen Setting und erst danach jene zu einem segregativen Setting erfasst wird. 3. Wie in der Literaturübersicht berichtet, war die Einstellung von Lehrer/ innen und Eltern in Österreich zur Integration ausgesprochen positiv. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob diese Einschätzungen in der Allgemeinbevölkerung ähnlich positiv sind. 4. Des Weiteren soll geprüft werden, ob sich auch bei einer Befragung der Allgemeinbevölkerung wieder die zu erwartenden Einstellungsunterschiede in Abhängigkeit von der Art der Behinderung der Kinder zeigen. Somit wird die Hypothese geprüft, ob die schulische Integration von Kindern mit körperlicher Behinderung am positivsten und jene von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten am negativsten gesehen werden. VHN 1 | 2014 24 SUSANNE SCHWAB, TOBIAS TRETTER, MARKUS GEBHARDT Ein Instrument zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration FACH B E ITR AG Item 1: Ich denke, dass sich Lukas in dieser Klasse alleine und ausgeschlossen fühlt. Item 2: Ich denke, dass Lukas in dieser Klasse ein positives Selbstkonzept entwickelt. Item 3: Ich denke, dass Lukas in dieser Klasse eher ein geringeres Selbstvertrauen entwickelt. Item 4: Ich denke, dass die Leistungsmotivation von Lukas durch den Vergleich mit seinen MitschülerInnen steigt. Item 5: Ich denke, dass die Qualität des Unterrichts für Lukas in dieser Klasse sehr gut ist. Item 6: Ich denke, dass Lukas in dieser Klasse viel lernt. „Frau Müller unterrichtet in der Grundschule eine 4. Klasse mit 22 SchülerInnen mit unterschiedlichen Leistungsniveaus, in der fünf SchülerInnen mit Behinderung integriert sind. Zusätzlich befindet sich in dieser Klasse in allen Schulstunden die Integrationslehrerin Frau Maier, welche Frau Müller im Unterricht unterstützt. Bitte lesen Sie die kurze Beschreibung über zwei Schüler aus Frau Müllers Klasse und bewerten Sie diese beiden anhand der folgenden Annahmen.“ „Frau Huber unterrichtet in der Sonderschule eine 4. Klasse mit 10 SchülerInnen mit unterschiedlichen Leistungsniveaus, in der ausschließlich SchülerInnen mit einer Behinderung beschult werden. Bitte lesen Sie die kurze Beschreibung über zwei Schüler aus Frau Hubers Klasse und bewerten Sie diese beiden anhand der folgenden Annahmen.“ „Lukas ist zehn Jahre alt und seit der Geburt körperlich behindert. Da er seinen unteren Körper weder bewegen noch spüren kann, muss er einen Rollstuhl benutzen und braucht beispielsweise auch Unterstützung beim Toilettenbesuch. Lukas hat keine kognitiven Einschränkungen oder Lernschwierigkeiten. Beim Lesen, Schreiben und Rechnen zeigt er durchschnittliche Leistungen.“ „Lukas ist zehn Jahre alt und hat seit seiner Geburt Trisomie 21 (Down Syndrom). Er hat eine geistige Behinderung, welche sich als kognitive Einschränkung in den Bereichen Lernen, Lesen, Schreiben und Kommunikation bemerkbar macht.“ „Lukas ist zehn Jahre alt. Er hat große Probleme beim Lesen, Schreiben und Rechnen und benötigt längere Zeit, um neuen Lernstoff zu lernen. Er hat eine diagnostizierte Entwicklungsstörung der schulischen Fertigkeiten.“ „Lukas ist zehn Jahre alt. Er hat große Schwierigkeiten, die Klassen- und Schulregeln einzuhalten, sodass es beispielsweise oft zu Auseinandersetzungen kommt, in denen er aggressiv gegenüber MitschülerInnen wird. Den Anweisungen der LehrerInnen folgt er des Öfteren nicht und ist im Unterricht leicht abzulenken. Er hat eine diagnostizierte ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung).“ Integratives Setting Segregatives Setting Körperbehinderung Geistige Behinderung Lernbehinderung Verhaltensauffälligkeit Integratives Setting Segregatives Setting FB 5 FB 6 FB 7 FB 8 FB 1 FB 2 FB 3 FB 4 Abb. 1: Aufbau des Fragebogens VHN 1 | 2014 25 SUSANNE SCHWAB, TOBIAS TRETTER, MARKUS GEBHARDT Ein Instrument zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration FACH B E ITR AG 4 Konstruktion des Befragungsinstruments Aus den bestehenden Instrumenten (EZI: Kunz u. a. 2010 [in Englisch als PATI bekannt: Palmer u. a. 1998], MTAI: Stoiber u. a. 1998; EIS: Reicher 1988; Gebhardt u. a. 2011; Einschätzungsskala zu Auswirkungen der Integration von Kindern mit Behinderung auf Kinder ohne Behinderung: Reicher 1988; Schwab u. a. 2012 a) wurden anhand einer Pilot-Onlinebefragung (N = 351) Items nach Faktorladung, Trennschärfe und Itemschwierigkeit ausgewählt und adaptiert. Hierbei wurden die Items vereinfacht und an die Fallgeschichte angepasst (siehe Abbildung 1). Der konstruierte Fragebogen wurde sowohl in Form eines Papierfragebogens als auch eines identisch gestalteten Onlinefragebogens verwendet. Vor dem eigentlichen Fragebogen wurden soziodemografische Daten sowie Angaben über die eigene Erfahrung mit Menschen mit Behinderungen erhoben. Der Fragebogen bestand dann aus einem Einführungstext zum integrativen (Integrationsklasse) bzw. segregativen Setting (Sonderschulklasse) und einer von jeweils vier Fallvignetten (körperliche Behinderung, Lernbehinderung, geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeit), zu welcher die Items beantwortet wurden. Anschließend wurden dieselben Fragen in Bezug auf denselben Fall, jedoch das jeweils zuvor nicht abgefragte Setting beantwortet. Die Fragebögen unterschieden sich somit durch das Setting, welches als Erstes beschrieben wurde, und durch die Art der Behinderung in der Fallvignette. Die Variation beim Setting bestand somit ausschließlich in der Reihung (zuerst integrativ oder segregativ) mit den jeweils gleichen sechs Items. Eine größere Variation bestand in der jeweiligen Fallvignette, in der die Form der Behinderung beschrieben wurde. Somit gab es insgesamt acht verschiedene Fragebögen mit ähnlichem Aufbau. Die Teilnehmer/ innen wurden gebeten, die einzelnen Items pro Fallbeschreibung (je sechs Items) jeweils auf einer fünfstufigen Likertskala von 1 = „stimme überhaupt nicht zu“ bis 5 = „stimme völlig zu“ zu beantworten. Die Gesamtskala wurde als Durchschnitt der Itemscores gebildet, so dass dieser zwischen einem und fünf Punkten lag. 5 Methode und Stichprobe Im Rahmen der Studie wurden insgesamt 2’158 deutschsprachige Personen (69,3 % Frauen, 30,7 % Männer) befragt; 1’244 (74,4 % Frauen, 25,6 % Männer) wurden online befragt, 914 (62,2 % Frauen, 37,7 % Männer) mittels Papierfragebogen. Der Onlinefragebogen wurde an Studierende der Universität Graz, an die Fachschaften der Studierenden der Sonderpädagogik in Deutschland und die Teilnehmer/ innen des Socio Panels (www.sos cisurvey.de) mit der Bitte um Teilnahme sowie Weiterleitung an Bekannte versendet. Im Rahmen der Papiererhebung wurden Passant/ innen an öffentlichen Plätzen (in Graz) und in österreichischen Zügen gebeten, einen Fragebogen auszufüllen. In einer Untersuchung von Schwab u. a. (2012 b) wurde bereits nachgewiesen, dass sich keine Gruppenunterschiede in Bezug auf die Erhebungsart (online vs. Papier) zeigten, weswegen diese beiden Gruppen zusammengefasst werden konnten. Die Teilnehmer/ innen waren im Durchschnitt 26,63 Jahre alt (SD = 11.79; Range = 11 - 82). Etwa 24,4 % der Stichprobe verfügten über einen Universitätsabschluss und 41,6 % über eine Matura (Abitur). Die restlichen 31,7 % hatten zum Zeitpunkt der Befragung einen Hauptschulabschluss oder eine geringere schulische Bildung. 3,5 % der Befragten hatten andere Ausbildungen als höchsten Schulabschluss angegeben bzw. verweigerten die Auskunft. Die Mehrheit der Befragten waren Studierende (41,3 %), davon fast ein Drittel aus den Fachbereichen Pädagogik oder Psychologie. 26,4 % standen bereits im Berufsleben, 21,2 % waren Schüler/ innen. Die restlichen 11,1 % waren im VHN 1 | 2014 26 SUSANNE SCHWAB, TOBIAS TRETTER, MARKUS GEBHARDT Ein Instrument zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration FACH B E ITR AG Ruhestand, beim Bundesheer, im Zivildienst oder arbeitslos bzw. gaben auf diese Frage keine Antwort. 6 Ergebnisse zum Messinstrument Die Berechnung der Reliabilitäten und der Faktorenstrukturen wurden getrennt für die verschiedenen Instruktionsbedingungen und die einzelnen Fallbeschreibungen (Schüler mit KB, Schüler mit LB, Schüler mit GB und Schüler mit V) durchgeführt. Da sich für die verschiedenen Fallbeschreibungen jedoch ähnliche Ergebnisse zeigten, wurden für die im Folgenden dargestellten Kennwerte die Fallbeschreibungen nicht differenziert. Für die Skala ATIS ergab sich für die sechs Items ein Cronbach’s Alpha von .82 für die Instruktion „integratives Setting“ und ein Cronbach’s Alpha von .78 für die Instruktion „segregatives Setting“. Die Trennschärfen der Items wiesen ausnahmslos zufriedenstellende Werte auf (r it = .33 - 66). Zur Überprüfung der Faktorenstruktur der Skala wurde eine explorative Faktorenanalyse berechnet (KMO = .81/ .77; Bartletts Test = sig, p < .001). Dabei ergab sich für die Instruktion „integratives Setting“ eine einfaktorielle Lösung mit einer Varianzaufklärung von 52,65 %. Für die Instruktion „segregatives Setting“ zeigten sich bei einer varimax-rotierten Faktorenanalyse zwei Faktoren. Der niedrige Eigenwert des zweiten Faktors (EigenwertFaktor1 = 2.93, VarianzaufklärungFaktor1=48,88 %; EigenwertFaktor2 = 1.04, VarianzaufklärungFaktor2 = 17,25 %) rechtfertigt es, eine einfaktorielle Lösung zuzulassen, folglich wurde eine Faktorenanalyse mit Beschränkung auf einen Faktor berechnet. Die unrotierte Hauptkomponentenanalyse mit Beschränkung auf eine einfaktorielle Lösung ergab, dass alle Items einem Generalfaktor zugeordnet werden können (VarianzaufklärungGesamtfaktor = 48,88 %) (s. Tab. 1). 7 Einfluss der Reihenfolge der Vignetten auf die Einstellung zur Integration Um die Mittelwerte der Versuchsanordnungen deskriptiv vergleichen zu können, wurden jeweils der Mittelwert der Gesamtskala über die identischen Items (Items 1 - 6) des Integrationsfalls und des Sonderschulfalls in Tabelle 2 dargestellt. Zu beachten ist hierbei, dass die Werte beim Sonderschulfall aussagen, wie es dem Sonderschüler in der Klasse geht. Insofern stehen hier hohe Werte nicht für eine positive Integration, sondern für eine Zustimmung in Richtung Separation. Itemnr. in ATIS Original Skala Integration r it Faktor Integration λ Skala Segregation r it Faktor Segregation λ 1R EZI: Item 3 .54 .69 .43 .60 2 MTAI: Item 20 .66 .79 .60 .75 3R EIS: Item 5 .58 .73 .54 .69 4 EIS: Item 4 .41 .56 .33 .49 5 EZI: Item 8 .64 .78 .65 .80 6 MTAI: Item 14 .65 .78 .66 .81 Tab. 1 Trennschärfen und Faktorladungen der Items der Skala zur Erfassung der Einstellung zur schulischen Integration Anmerkung: R = Recode, r it = Trennschärfen, λ = Faktorladungen VHN 1 | 2014 27 SUSANNE SCHWAB, TOBIAS TRETTER, MARKUS GEBHARDT Ein Instrument zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration FACH B E ITR AG Die Ergebnisse zeigen, dass die Mittelwerte sich in Abhängigkeit der Vignettenanordnung unterscheiden. In den Vignetten 1 - 4 wurde zuerst der Integrationsfall, dann der Sonderschulfall vorgegeben. In den Vignetten 5 - 8 wurde zuerst der Sonderschulfall und danach der entsprechende Integrationsfall vorgegeben. Die Einstellung zur Integration ist dann positiver, wenn zuerst die Fallbeschreibung des Integrationsschülers erfolgt (Vig. 1 - 4). Wenn aber zuerst ein Sonderschülerfall vorgegeben wird (Vig. 5 - 8), sind die Mittelwerte deutlich niedriger. Zudem kann man sehen, dass die Einstellung zur schulischen Integration des Schülers mit einer Verhaltensauffälligkeit bei allen Bedingungen eher negativ ausfiel und unter dem theoretischen Skalenmittelwert von 3 lag. Um statistisch zu prüfen, ob Reihenfolgeneffekte vorlagen, wurde eine multivariate Varianzanalyse für unabhängige Stichproben berechnet. Die Vorgabenreihenfolge (beginnend mit integrativem vs. segregativem Setting) stellte dabei die unabhängige Variable dar, die abhängigen Variablen waren der Skalenwert aus den Versuchsbedingungen „integratives Setting“ sowie „segregatives Setting“. In der Varianzanalyse zeigten sich signifikante Haupteffekte für die Skalenwerte aus der Versuchsbedingung „integratives Setting“. Personen, welche zuerst das integrative Setting bearbeiteten (M = 3.47, SD = 0.81), hatten eine positivere Einschätzung bezüglich der Auswirkung schulischer Integration auf das Kind mit Behinderung als Personen, welche zuerst den Sonderschulfall vorgelegt bekamen (M = 3.31, SD = 0.79; F 1 , 1988 = 19.64, p < .001, partielles Eta 2 = .01). Für die Skalenwerte aus der Versuchsbedingung „segregatives Setting“ zeigte sich kein signifikanter Haupteffekt (F 1 , 1988 = 0.01, n.s.). 8 Unterschiede hinsichtlich der Behinderungsart des zu integrierenden Kindes in Bezug auf die Einstellung zur Integration Um zu prüfen, ob sich die Einstellungen zur schulischen Integration in Bezug auf die Behinderungsart unterscheiden, wurde eine Varianzanalyse mit der Behinderungsart (KB, LB, GB und V) als unabhängige Variable berechnet. Als abhängige Variable diente der Score der ATIS-Skala. Die Haupteffekte der Behinderungsart waren signifikant (F 3 , 1825 = 33.11, p < .001, partielles Eta 2 = .05). Es ergab sich für die Integration von Schüler/ innen mit körperlicher Behinderung ein Mittelwert von 3.64 (SD = 0.74), für die Integration von Schüler/ innen mit einer Vignette Integrationsfall (6 Items) Sonderschulfall (6 Items) FB 1  1 (KB) 3.76/ 0.68 2.91/ 0.68 FB 2  2 (LB) 3.45/ 0.81 3.03/ 0.63 FB 3  3 (GB) 3.47/ 0.83 3.08/ 0.64 FB 4  4 (V) 3.21/ 0.82 2.95/ 0.61 5 (KB) 3.54/ 0.78 3.04/ 0.62  FB 5 6 (LB) 3.23/ 0.72 3.03/ 0.62  FB 6 7 (GB) 3.26/ 0.80 3.16/ 0.61  FB 7 8 (V) 3.12/ 0.81 2.61/ 0.59  FB 8 Tab. 2 Mittelwerte und Standardabweichung in Abhängigkeit der Vignettenanordnung VHN 1 | 2014 28 SUSANNE SCHWAB, TOBIAS TRETTER, MARKUS GEBHARDT Ein Instrument zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration FACH B E ITR AG Lernbehinderung ein durchschnittlicher Wert von 3.32 (SD = 0.77), für die Integration von Schüler/ innen mit einer geistigen Behinderung ein Mittelwert von 3.36 (SD = 0.81), und für die Integration von Schüler/ innen mit einer Verhaltensauffälligkeit lag der Mittelwert bei 3.16 (SD = 0.81). Hierbei waren alle Mittelwertunterschiede mit Ausnahme der Gruppen Lernbehinderung und geistige Behinderung nach dem Post-Hoc-Test nach Scheffé signifikant. Die Einstellungen gegenüber Schüler/ innen mit Körperbehinderung fielen demnach am positivsten aus, gefolgt von Schüler/ innen mit Lernbehinderung/ geistiger Behinderung. Am negativsten waren die Einstellungen gegenüber der Integration von Schüler/ innen mit einer Verhaltensauffälligkeit. 9 Diskussion Die Skala „Einstellung zur Integration in der Schule (ATIS)“ erreichte ein hohes Maß an interner Konsistenz, und die faktorielle Struktur konnte bestätigt werden. Der Vergleich mit anderen Instrumenten zur Erfassung der Einstellung von Integration (MTAI: Stoiber u. a. 1998; EZI/ EZI-D: Kunz u. a. 2010; Gebhardt u. a. 2012) zeigte, dass ATIS ähnliche Reliabilitätskennwerte aufweist wie bereits bestehende Verfahren. Ein Vorteil der Skala ATIS besteht darin, dass die Einstellungen differenziert nach verschiedenen Arten von Behinderungen (LB, KB, GB, V) erfasst werden können, während zum Beispiel beim EZI-D Lehrpersonen die Ergebnisse nur generell auf Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen beziehen. Durch die näheren Beschreibungen der Behinderungsarten der zu integrierenden Kinder ist es auch Laien leichter möglich, die einzelnen Items in Bezug auf verschiedene Behinderungsarten zu beantworten, da sich die Befragten nicht verschiedene Kinder dazu vorstellen müssen, sondern konkrete Hinweise zu den Beeinträchtigungen dieser Kinder haben. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass Messungen von Einstellungen im Allgemeinen nicht das Verhalten in der Praxis vorhersagen können, da ausschließlich die kognitive und die affektive Dimension berücksichtigt werden. In Bezug auf Forschungsfrage 2 ist darauf hinzuweisen, dass die Ergebnisse durch die Versuchsanordnung beeinflusst wurden, wenngleich die Effektstärke darauf hindeutet, dass diese Beeinflussung nur schwach war. Die befragten Personen antworteten unterschiedlich, je nachdem ob zunächst das Integrationssetting und anschließend das Sonderschulsetting oder zuerst das Sonderschulsetting und anschließend das Integrationssetting vorgestellt wurde. Die Einstellung zur Integration ist dabei etwas positiver, wenn zuerst die Fallbeschreibung des Schülers mit sonderpädagogischem Förderbedarf im integrativen Setting erfolgt. Vermutlich ist dies auch auf Effekte der sozialen Erwünschtheit und dem damit verbundenen Priming zurückzuführen. Die Einstellung der Teilnehmer/ innen ließ sich somit manipulieren. Allerdings muss hier auch ergänzt werden, dass der Umkehrschluss nicht für die Einstellung zur Segregation gezogen werden kann. Für die Einstellung gegenüber segregativer Beschulung schien es egal zu sein, ob diese vor der Einstellung zur Integration oder danach abgefragt wurde. Demnach hatten sich die Befragten über Sonderbeschulung ein gefestigteres Bild gemacht, wohingegen das Bild der Inklusion noch nicht so gefestigt und leichter zu manipulieren war. Ergebnisse bisheriger Studien könnten aufgrund dieses Befundes in einem neuen Licht erscheinen. In den meisten Arbeiten wird ausschließlich danach gefragt, wie positiv sich das Kind mit Behinderung in einer Integrationsklasse entwickelt oder wie es diesem Kind in der Integrationsklasse geht. Wenn sich die Ergebnisse der hier durchgeführten Studie generalisieren lassen, könnte es bei früheren Untersuchungen zu einer positiven Antworttendenz der Befragten gekommen sein, was die Ergebnisse verzerren würde. VHN 1 | 2014 29 SUSANNE SCHWAB, TOBIAS TRETTER, MARKUS GEBHARDT Ein Instrument zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration FACH B E ITR AG Betrachtet man nun im Hinblick auf Forschungsfrage 3 weniger die Konstruktion des Fragebogens, sondern vielmehr die Ergebnisse in Bezug auf die befragten Personen, lässt sich folgendes Fazit ziehen: Schulische Integration wird neutral bis (vorsichtig) positiv bewertet. Insgesamt waren jedoch fast alle Werte über bzw. nahe dem theoretischen Mittelwert der Skalen und sind damit als (vorsichtige) Zustimmung zu werten. Unterschiede in der Einstellung zur Integration abhängig von der Art der Behinderung: hier konnte ein mittlerer Effekt gezeigt werden. Wie auch in anderen Untersuchungen (EORG 2001; NDA 2002; Siperstein u. a. 2007 b; Staniland 2010) zeigte sich, dass die Einstellung zur Integration von Schüler/ innen mit einer körperlichen Behinderung am positivsten ist, in Bezug auf die Integration von Schüler/ innen mit einer Verhaltensauffälligkeit hingegen ist die Einstellung am ungünstigsten. In der Mitte liegen Schüler/ innen mit einer Lernbehinderung beziehungsweise einer geistigen Behinderung. Fraglich ist, warum sich in dieser Studie keine Unterschiede in den Behinderungsarten Lernbehinderung und geistige Behinderungen zeigten. Zudem wären anhand der Literatur eher starke Effekte zu erwarten gewesen. 10 Fazit Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die befragten Personen der Integration von Schüler/ innen mit Behinderung neutral (tendenziell positiv) gegenüberstehen. Insbesondere bei Verhaltensstörungen scheint eine größere Sorge zu bestehen, ob die Integration dieser Kinder nicht auch zu einer Benachteiligung der Regelkinder führt. Jedoch werden die Schüler/ innen mit Verhaltensauffälligkeit auch nicht als Fall für die Sonderschule gesehen. So geben die Befragten sowohl geringe Werte für die Integration als auch für die Sonderschule an. Dies zeigt das Dilemma im Umgang mit dieser Gruppe von Schüler/ innen. Es bleibt zu hoffen, dass sich in den nächsten Jahren - ähnlich wie bei Lehrer/ innen bereits seit 1988 festzustellen (Gebhardt u. a. 2011; Schwab u. a. 2012 a) - ein positiver Trend zur Einstellung gegenüber schulischer Integration durchsetzt. Mit steigenden Integrationsquoten (welche überall in Österreich zu erwarten sind) wird es vermehrt zu Kontakten und Erfahrungen mit schulischer Integration von Kindern mit Behinderung kommen. Dies könnte wiederum zu einer Zunahme der positiven Einstellung zur Integration von Schüler/ innen mit Behinderung in der Steiermark und in Österreich beitragen. Einschränkend ist hierbei zu erwähnen, dass die Verteilung der Gruppen der Befragten (Schüler/ innen, Berufstätige und Student/ innen) für Österreich nicht repräsentativ ist, da Student/ innen überproportional vertreten waren. Analysen bezüglich der Gruppenunterschiede zeigten jedoch, dass sich die Einstellung von Schüler/ innen und Berufstätigen zur schulischen Integration nicht signifikant unterschied (siehe dazu auch Schwab u. a. 2012 b). Wenn die Gesellschaft nicht vom generellen Nutzen integrativer Konzepte überzeugt ist, drohen diese zu scheitern. Die Befragung von Personen, die keinen oder nur einen kleinen Einblick in die Welt der Schule und die Welt der Schüler/ innen mit Behinderung haben, ist einerseits wichtig, da der politische Mainstream vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Rahmenbedingungen eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration ist. Andererseits ist es aber schwierig, generelle Einstellungen und Einschätzungen der Allgemeinbevölkerung zu erheben. Dies zeigt sich beispielsweise an den verzerrenden Reihenfolgeeffekten und dem fehlenden Wissen über Integration. Die meisten Befragten folgten bei den Antworten ihrem „Bauchgefühl“ - gaben VHN 1 | 2014 30 SUSANNE SCHWAB, TOBIAS TRETTER, MARKUS GEBHARDT Ein Instrument zur Messung der Einstellung zur schulischen Integration FACH B E ITR AG doch viele von ihnen (69,1 %) an, über keinerlei Erfahrung mit der Integration von Menschen mit Behinderung zu verfügen. In den nächsten Jahren erscheint es daher notwendig, verstärkt Aufklärung zu betreiben. 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