eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2014.art04d
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2014
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Grounded Theory und Intersektionalitätsforschung zur Analyse biografischer Interviews von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung

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2014
Helga Fasching
Natalia Postek
Der Beitrag zeigt den Mehrwert der Grounded Theory in Verbindung mit der Intersektionalitätsforschung zur Analyse von lebensgeschichtlichen Erfahrungen bei Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung auf. Damit wird eine Weiterentwicklung der Frauen-/Geschlechterforschung zu einer Intersektionalitätsforschung im Feld der (inklusiven) Bildung angestrebt. Mittels der Forschungsmethode der Grounded Theory werden lebensgeschichtliche Erfahrungen von vier Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung auf der Identitätsebene analysiert und anschließend mit der Repräsentations- und Strukturebene in Verbindung gebracht. Die Ergebnisse zeigen, wie sehr vorgegebene gesellschaftliche Strukturen und unterschiedliche weibliche Rollenzuschreibungen auf die Identität der Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung einwirken. Die betroffenen Frauen eignen sich Geschlechtermerkmale in einem „Identitätsspagat“ zwischen emanzipiert-selbstbewusster und tugendhaft-zurückhaltender Frauenrolle an. Dieser Identitätsspagat ist von ihnen kaum auszuloten und führt meist zu einer Negierung der einen sowie der verstärkten Betonung und Identifikation mit der anderen Rolle.
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46 VHN, 83. Jg., S. 46 -60 (2014) DOI 10.2378/ vhn2014.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Grounded Theory und Intersektionalitätsforschung zur Analyse biografischer Interviews von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung Helga Fasching, Natalia Postek Universität Wien Zusammenfassung: Der Beitrag zeigt den Mehrwert der Grounded Theory in Verbindung mit der Intersektionalitätsforschung zur Analyse von lebensgeschichtlichen Erfahrungen bei Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung auf. Damit wird eine Weiterentwicklung der Frauen-/ Geschlechterforschung zu einer Intersektionalitätsforschung im Feld der (inklusiven) Bildung angestrebt. Mittels der Forschungsmethode der Grounded Theory werden lebensgeschichtliche Erfahrungen von vier Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung auf der Identitätsebene analysiert und anschließend mit der Repräsentations- und Strukturebene in Verbindung gebracht. Die Ergebnisse zeigen, wie sehr vorgegebene gesellschaftliche Strukturen und unterschiedliche weibliche Rollenzuschreibungen auf die Identität der Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung einwirken. Die betroffenen Frauen eignen sich Geschlechtermerkmale in einem „Identitätsspagat“ zwischen emanzipiertselbstbewusster und tugendhaft-zurückhaltender Frauenrolle an. Dieser Identitätsspagat ist von ihnen kaum auszuloten und führt meist zu einer Negierung der einen sowie der verstärkten Betonung und Identifikation mit der anderen Rolle. Schlüsselbegriffe: Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung, Grounded Theory, Intersektionalität, lebensgeschichtliche Erfahrungen Grounded Theory and Intersectionality Research as Instruments to Analyze Biographical Interviews with Women with Intellectual Disabilities Summary: The article discusses the added values by using Grounded Theory in relation to intersectional analysis of biographical experiences of women with intellectual disabilities. Therewith, a further development of Women/ Gender Studies towards Intersectional Studies in the field of (inclusive) education is intended. Four biographical interviews with women with intellectual disabilities were analyzed on the identity-level, using the Grounded Theory as research method, and then were related to the representational and the structural level. The results show how given social structures impact on the assignment of social roles on the identity-level of these women: The women with intellectual disabilities are performing an “identitysplit” between the role of an emancipated and self-confident and the role of a virtuous and reserved woman. These two roles are hardly balanceable, which leads to the negation of one of the two roles and the positive enhancement of the other one. Keywords: Women with intellectual disabilities, Grounded Theory, Intersectionality, biographical experiences FACH B E ITR AG VHN 1 | 2014 47 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG 1 Relevanz des Themas Im Jahr 2006 wurde die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in New York verabschiedet, die 2008 in Kraft getreten ist. Mittlerweile haben über 20 EU- Mitgliedsstaaten diesen völkerrechtlichen Vertrag unterzeichnet, der Menschenrechte für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen konkretisiert, um ihnen eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Mit dieser Konvention wurde ein Meilenstein in der Behindertenpolitik gesetzt, weil sie eine inklusive Gesellschaft fordert und dafür das Selbstbestimmungsrecht und einen umfassenden Diskriminierungsschutz festlegt. Explizit wird in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf die mehrfache Diskriminierung von Frauen mit Behinderung eingegangen: „Die Vertragsstaaten anerkennen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfachen Diskriminierungen ausgesetzt sind.“ (UN-Konvention 2006, Artikel 6) Doch in welchem Verhältnis stehen Behinderung und Geschlecht zueinander? Wie werden Analysen durchgeführt, um Erschwernisse und Diskriminierungen in den Lebensbedingungen von Frauen mit Behinderung zu identifizieren und für sie erfahrbar zu machen? Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, darauf Antworten zu geben. Der Beitrag widmet sich der Analyse lebensgeschichtlicher Erfahrungen junger Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung (sogenannter geistiger Behinderung) im Übergang von der Schule in den Beruf, weil sie gerade im Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung mit vielfältigen Partizipationserschwernissen und Diskriminierungserfahrungen konfrontiert werden (vgl. z. B. Baer u. a. 2011; Fasching 2012 a; 2012 b; 2013; Timmons u.a. 2011; Umb-Carlsson/ Sonnander 2006; Winn/ Hay 2009). Der Schwerpunkt des Beitrages liegt aber im methodischen Bereich. Mittels der Forschungsmethode der Grounded Theory unter Anwendung des theoretischen Konzepts der Intersektionalität werden lebensgeschichtliche Erfahrungen von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung in der Übergangsphase von der Schule in den Beruf erfasst. Damit wird eine Weiterentwicklung der Frauen-/ Geschlechterforschung zu einer Intersektionalitätsforschung im Feld der inklusiven Bildung angestrebt. Für die Fallanalyse in diesem Beitrag werden biografische Interviews mit vier Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung aus einem aktuellen Forschungsprojekt herangezogen 1 . Der Beitrag gliedert sich in mehrere Bereiche. Vor der eigentlichen Fallanalyse wird die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive zur theoretischen Erforschung von Wirkungen sozialer Ungleichheiten im Feld der inklusiven Bildung/ Pädagogik dargelegt und das der Fallanalyse zugrundeliegende Forschungsprojekt kurz vorgestellt. Zudem wird das Konzept der Intersektionalität näher erläutert und für Forschungen im Feld der inklusiven Bildung verwendbar gemacht, ebenso wie die Forschungsmethode der Grounded Theory. 2 Inklusive Bildung und die Erforschung sozialer Ungleichheitslagen Das Ziel einer inklusiven Bildung ist die gleichberechtigte Einbeziehung und Partizipation aller Kinder, Jugendlicher und Erwachsener an inklusiven Bildungsprozessen in einem lebenslangen Lernprozess. Damit wird die Erforschung von Wirkungen sozialer Ungleichheitsfaktoren auch im nachschulischen Leben relevant. Im Sinne einer „Pädagogik der Vielfalt“ (vgl. z. B. Prengel 1993) bezieht sich Forschung im Bereich inklusiver Bildung/ Pädagogik nicht nur auf das Verhältnis zwischen Behinderung und Nichtbehinderung, sondern nimmt weitere Faktoren sozialer Ungleichheit in ihre Reflexion auf. In der Theorie inklusiver Pädagogik muss es „um die Wechselwirkung zwischen Behinde- VHN 1 | 2014 48 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG rung - Geschlecht - (sub-)kulturellem Hintergrund - Alter/ Spezifika der Lebensspannen Kindheit/ Jugend gehen, die (mit unterschiedlichen Dynamiken) soziale Ungleichheitslagen anzeigen“ (Schildmann 2012, 94). Vertreter/ innen der Inklusiven Pädagogik (vgl. z. B. Hetzel 2010; Langer 2010; Schildmann 2010 a; 2010 b; 2011; 2012) fordern für die Inklusive Pädagogik, Behinderung nicht geschlechtsneutral zu denken und den Blick auf die gesamte Lebensspanne zu richten, um soziale Ungleichheiten theoretisch und methodologisch zu identifizieren. Hierbei ist die Beschäftigung mit Übergängen zwischen den einzelnen Lebensabschnitten und ihre institutionelle Einbindung eine notwendige Voraussetzung einer systematischen Beschäftigung mit der gesamten Lebensspanne als Perspektive (vgl. Schildmann 2010 b, 45). 3 Das Forschungsprojekt Das Forschungsprojekt „Partizipationserfahrungen in der beruflichen Biografie von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung“ 2 versteht sich als wissenschaftlicher Beitrag zur inklusiven Bildung/ Pädagogik bzw. zur beruflichen Partizipationsforschung. Im Rahmen des Forschungsprojekts werden lebensgeschichtliche Erfahrungen von jungen Frauen und Männern mit intellektueller Beeinträchtigung einerseits in der Übergangsphase von der Schule in den Beruf und andererseits im Arbeitsleben erforscht. Die Zielsetzung des Projekts ist es, sowohl die objektiv bestimmbare als auch die subjektiv erlebte Partizipation im Lebenslauf von Frauen und Männern mit intellektueller Beeinträchtigung erfahrbar zu machen (Biewer u. a. 2009). Auf der Ebene der objektiv bestimmbaren Partizipation wurden für das Projekt bereits bundesweite Strukturdaten zum Übergang von der Schule in den Beruf und zum Arbeitsleben von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung erfasst, die in einer dreibändigen Datenreihe dokumentiert sind 3 . Darüber hinaus wurden im Rahmen einer im Längsschnitt durchgeführten Untersuchung qualitative Erhebungen mit mehr als 40 Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung über ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen durchgeführt. Das qualitative Datenmaterial wurde nach der Grounded Theory Methodologie bearbeitet (vgl. z. B. Koenig 2012; Postek 2012). Das Forschungsprojekt zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung als Forscher/ innen in einer Referenzgruppe einbezogen wurden (Biewer u. a. 2009). Die quantitativen Daten zu den beruflichen Partizipationserfahrungen von Frauen und Männern mit intellektueller Beeinträchtigung ermöglichen umfangreiche Analysen der strukturellen und institutionellen Bedingungen. Somit konnten auf der Strukturebene bereits intersektionale Erkenntnisse gewonnen werden, die zeigen, welche Dynamik die Verbindung der Kategorien von Geschlecht und Behinderung speziell im Übergang von der Schule in den Beruf einnimmt und sich besonders nachteilig auf die (beruflichen) Partizipationserfahrungen der betroffenen Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung auswirkt (Fasching 2013; 2012 a; 2012 b). Wie aber zeigen sich strukturelle und institutionelle Bedingungen im subjektiven Erleben von Teilhabe- oder Ausschlusserfahrungen der betroffenen Frauen? Unser Interesse im vorliegenden Beitrag gilt deshalb einer vertiefenden intersektionalen Analyse speziell der lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung mittels der Forschungsmethode der GTM am qualitativen Datenmaterial aus dem Projekt, um dadurch subjektive Teilhabe- oder Ausschlusserfahrungen von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung im Übergang von der Schule in den Beruf erschließen zu können. Damit wird auch eine inhaltliche Weiterentwicklung und theoretische Reflexion der Intersektionalitätsforschung im Feld der inklusiven Bildung/ Pädagogik beabsichtigt. VHN 1 | 2014 49 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG 4 Weiterentwicklung der Frauen-/ Geschlechterforschung zu einer Intersektionalitätsforschung im Feld der inklusiven Bildung Als theoretische Grundlage für Untersuchungen zu den lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung auf dem Feld der (inklusiven) Bildung/ Pädagogik bietet sich demnach die Intersektionalitätsforschung an. Die Intersektionalitätsforschung hat ihre Wurzeln in der Frauen- und Geschlechterforschung und versteht sich als erweiterte Perspektive zur Erforschung von sozialen Ungleichheitslagen (vgl. Schildmann 2012, 94). Mit der Intersektionalitätsforschung wird die Analyse der Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Strukturkategorien ermöglicht. Es geht hierbei jedoch nicht darum, die Wirkung von unterschiedlichen Unterdrückungen zu addieren, der Ansatz der Intersektionalität geht vielmehr davon aus, „dass die Kategorien in verwobener Weise auftreten und sich gegenseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern können“ (Winker/ Degele 2009, 10). Zu den ungleichheitsgenerierenden Kategorien zählen Winker und Degele (2009, 10f) „Geschlecht“, „Klasse“, „Rasse“ und „Körper“ (wozu sie auch [Dis-] Ability, Alter und Sexualität zählen). Bislang blieb aber in der intersektionalen Forschung unklar, ob Behinderung eine eigenständige Strukturkategorie bildet. In der allgemeinen Intersektionalitätsforschung wie auch in den Disability Studies wird die Kategorie Behinderung (aber auch die Kategorie Alter) zu einer Subkategorie der „Strukturkategorie Körper“ erklärt. Nach Schildmann (2011, 14) müsste jedoch Behinderung (neben anderen Ungleichheitslagen wie Alter) erstens eine eigenständige Strukturkategorie für die Sozialstrukturanalyse bilden und zweitens nicht mit der Kategorie Alter zusammengefasst werden. Denn eine Unterordnung von Behinderung unter die Kategorie „Körper“ birgt die Gefahr in sich, Behinderung zu sehr an der individuellen Ebene (der Körperfunktionen und -strukturen) festzumachen und nicht an den individuellen Aktivitätsleistungen und gesellschaftlichen Partizipationserfahrungen. Eine derart reduktionistische Definition von Behinderung wäre demnach für eine Sozialstrukturanalyse ungeeignet; ebenso eine Zusammenfassung und Vermischung der Kategorien Alter und Behinderung unter eine Subkategorie, weil dadurch strukturelle Ungleichheitslagen verwischt würden, so die Autorin. „Die Herausforderung besteht darin, den in der allgemeinen sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung geführten Diskurs über Intersektionalität vor allem um eine systematische Verortung der Strukturkategorie Behinderung zu erweitern.“ (Schildmann 2011, 14) Wir schließen uns im Beitrag der Argumentation von Schildmann an. Denn mit ihr sind wir der Überzeugung, dass eine systematische Analyse von lebensgeschichtlichen Erfahrungen bzw. Partizipationserschwernissen von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung speziell im Übergang von der Schule in den Beruf den Blick auf die Strukturkategorie Behinderung als eigenständige Kategorie in Wechselwirkung mit anderen Strukturkategorien wie Geschlecht und Alter notwendig macht. Behinderung als soziale Konstruktion und dynamische Kategorie erhält speziell im Übergang von der Schule in den Beruf für die betroffenen jungen Frauen eine lebensgeschichtliche Relevanz. Durch den Wechsel von der Schule ins Ausbildungs- und Beschäftigungssystem geht ein Systemwechsel einher, der mit veränderten sozialrechtlichen Zuständigkeiten und neuen Behinderungszuschreibungen verbunden ist. In dieser Lebensphase werden erneut Mechanismen über Zugangs- oder Ausschlussmöglichkeiten an nachschulischer Bildung, Ausbildung oder Beschäftigung wirksam. Unterschiedliche sozialrechtliche Maßstäbe werden dafür herangezogen, wer wann und warum als VHN 1 | 2014 50 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG „behindert“ gilt (Fasching 2012 b; Marks 2011; Schildmann 2010 a; 2010 b; 2011). Intellektuelle Beeinträchtigung als spezielle Behinderungsart ist hierbei insbesondere eine Kategorie der gesellschaftlichen Ausgrenzung bzw. sozialen Benachteiligung, die sich aber mit der Kategorie Geschlecht nochmals wechselseitig verstärkt (vgl. Fasching 2012 b; 2013). Die Konzeption von Winker und Degele (2009) gibt jedoch einen guten Ansatz vor, wie im Forschungsfeld der inklusiven Bildung/ Pädagogik soziale Ungleichheiten im Sinne von Partizipationserschwernissen bzw. Exklusionsrisiken differenziert erhoben werden können (vgl. auch Schildmann 2012, 96f). Winker und Degele (2009, 18) schlagen dabei einen Mehrebenenansatz vor, der „sowohl gesellschaftliche Sozialstrukturen inklusive Organisationen und Institutionen (Makro- und Mesoebene) sowie Prozesse der Identitätsbildung (Mikroebene) als auch kulturelle Symbole (Repräsentationsebene)“ berücksichtigen soll. Mithilfe der Strukturebene wird es möglich, die soziale Lage von Mitgliedern der Gesellschaft aus ihrer Stellung zum Arbeitsmarkt und ihrer Verantwortung für die Reproduktion der Arbeitskraft hinsichtlich der Strukturkategorien zu bestimmen. Auf dieser Ebene lassen sich gesellschaftliche Strukturen über statistisches Datenmaterial, Gesetze und Analysen von Institutionen untersuchen (Winker/ Degele 2009, 85). Auf der Repräsentationsebene werden Normen und Werte untersucht, die in einer Gesellschaft wirksam sind. Demnach geht es auf dieser Ebene um Verallgemeinerungen, die sowohl Werte als auch Normen zum Ausdruck bringen. Dazu gehören einerseits stereotype Bilder, aber auch unterschiedliche Zuordnungen zu Verhaltensweisen (vgl. Winker/ Degele 2009, 84). Die dritte relevante Ebene ist die Identitätsebene, die eng mit der Struktur- und Repräsentationsebene verknüpft ist. „Identität unterscheidet zwischen dem Selbst und dem Anderen.“ (Winker/ Degele 2009, 59) Auf der Identitätsebene geht es demnach um eine Abgrenzung von Anderen, weil Identitäten sich letztlich nur auf der Grundlage von Differenz bilden lassen (vgl. Winker/ Degele 2009, 81). Auf Basis der Intersektionalitätsanalyse nach Winker und Degele ist es daher besonders bedeutsam, lebensgeschichtliche Erfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen zu analysieren und diese Ebenen miteinander in Beziehung zu setzen. Daraus können sich bereits erste intersektionale Erkenntnisse ergeben, die bei einem Blick auf nur eine Kategorie verloren gingen. Wir folgen in unserer Analyse der Konzeption von Winker und Degele, wobei der Schwerpunkt auf der Identitätsebene, jener der subjektiven Erfahrungen, liegt. Eine intersektionale Analyse setzt auf der methodischen Ebene einen offenen Forschungsprozess voraus, der durch ein induktives Vorgehen im Sinne einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung mittels der Grounded Theory möglich wird. Dadurch können die spezifischen Erfahrungen und Problemlagen von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung, die in unterschiedlichen Kontexten und Altersabschnitten eine je spezifische Gestalt annehmen, analysiert werden. 5 Zur Forschungsmethode der Grounded Theory Die Grounded Theory (GT) kann als Forschungsmethode zur Erfassung subjektiver Erlebnisse sowie der Verdichtung von kommunikativem Material zu ersten Theorieansätzen verstanden werden. Gegenwärtig umschreibt die GT eine Fülle an mittlerweile unterschiedlichen Zugängen zu qualitativer Forschung und Auswertung. In unserer Untersuchung beziehen wir uns im Speziellen auf die Methode der Situationsanalyse nach Adele Clarke (2012) sowie auf die Methode der „Konstruktivistischen Grounded Theory“ nach Kathy Charmaz (2006; 2008). Methodisch verfolgen beide ähnliche Ansätze und weisen dabei auf „Situiertes Wissen“ (Haraway 1995) hin. VHN 1 | 2014 51 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG 5.1 Methodologische Rahmenbedingungen der Grounded Theory Die Situationsanalyse nach Adele Clarke und die Konstruktivistische GT nach Kathy Charmaz stellen unterschiedliche sozialwissenschaftliche sowie philosophische Ansätze in den Mittelpunkt der methodologischen Verortung. In der Entwicklung der ersten Ansätze der GT bei Glaser und Strauss (2005) spielt der symbolische Interaktionismus eine entscheidende Rolle. Vor allem in den Werken von Charmaz (2006; 2008) und Clarke (2012) wird die mit dem Symbolischen Interaktionismus in Zusammenhang stehende perspektivische Betrachtung in der GT weitergetragen und stärker rezipiert. In der feministischen und somit auch intersektionalen Forschung ist hierbei „Situiertes Wissen“ (Haraway 1995) zu nennen. Die Forderung nach Reflexion der in und um Forschung bestehenden und entstehenden Machtstrukturen, der Reflexion der eigenen Standpunkte (örtlich, ideologisch, wissenschaftlich) sowie eine „Politik der Positionierung“ (Haraway 1995, 87) des/ r Forschers/ in und der Beforschten gestalten den Blickwinkel dieser methodologischen Ausrichtung. Dies bedeutet auch, sich als Forscher/ in sowie - in unserer Forschung - die Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung als lenkende und aktiv gestaltende Akteurinnen der Forschung wahrzunehmen. 5.2 Die methodische Umsetzung in der Grounded Theory - ihre Werkzeuge Um den methodologischen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen gerecht zu werden, ist es im Forschungsprozess (d. h. der Gestaltung der Forschungsfrage, der Erhebung der Daten, der Literaturverwaltung sowie in der Auswertung) notwendig, die in der GT als zentral angesehenen methodischen Werkzeuge einzusetzen. In Abbildung 1 werden die unterschiedlichen Werkzeuge der Forschung nach der GT dargestellt. Hierzu zählen unter anderem die Datenerhebung, das Schreiben von Memos sowie das Kodieren und Kategorisieren der Daten (vgl. Böhm 2008). Darüber hinaus nimmt nach der konstruktivistischen GT bei Charmaz das reflexive Herangehen an den Forschungsprozess und die Betrachtung der Aktivität der Forschungsteilnehmerinnen einen zentralen Stellenwert ein (vgl. Charmaz 2006). Clarke hebt das Festhalten der Forschungsschritte und der Entscheidungsfindungen, die Einbeziehung theoretischer Konzepte sowie die Darstellung der Komplexität der Auswertung in „Maps“ (vgl. Clarke 2012) als wichtige Voraussetzung hervor. Letztere lassen sich in drei Formen unterteilen, in 1) Situations-Maps, in 2) Maps von Sozialen Welten/ Arenen und in 3) Positions-Maps: Ad 1): Situations-Maps dienen der Verdeutlichung menschlicher und nichtmenschlicher (bspw. institutioneller oder diskursiver) Komponenten der Forschungssituationen, der Orte der Analyse (vgl. Clarke 2012, 124f) und in weiterer Folge der Darstellung von Beziehungen und Zusammenhängen der Komponenten. Ad 2): Maps von Sozialen Welten/ Arenen verfolgen das Ziel, die Analyse von sozialen Interaktionen und den darin produzierten und reproduzierten Diskursen darzustellen. Dabei werden Elemente sozialer Situationen zu Arenen und Welten zusammengefasst und miteinander in Verbindung gebracht (ebd., 148f ). Speziell stellen Maps von Sozialen Welten/ Arenen Intersektionen zwischen unterschiedlichen Analyseeinheiten oder Diskursen her und ermöglichen dadurch die Darstellung, Interpretation und Abstraktion auf einer höheren Ebene als in VHN 1 | 2014 52 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG den vorher genannten Situations-Maps. Ihr Mehrwert für die intersektionale Betrachtung der Lebenswelten von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung scheint unbestreitbar. Ad 3): Positions-Maps erfassen verschiedene soziale Standorte, zeigen die im Forschungsfeld und -prozess (nicht) sichtbaren und (nicht) eingenommenen Perspektiven, Positionen und Diskurse auf, stellen dabei die Heterogenität der Thematik(en) dar und ermöglichen es dadurch, die situierten Positionen besser zu erkennen (ebd., 166f). Der hier entstehende Zusammenhang zum Ansatz des „Situierten Wissens“ (Haraway 1995) ermöglicht damit auch den Schritt zur Reflexion der geteilten und abweichenden Erfahrungen derInterviewpartnerinnen und Forscherinnen 4 . Zentral in der methodischen Werkzeugkiste der GT sind außerdem die Art des Kodierens, das theoretische Sampling sowie die Vergleiche (vgl. Legewie/ Schervier-Legewie 2011) zwischen den Forschungsteilnehmer/ innen, den Daten sowie mit anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Publikationen. Das Verfassen von Memos 5 dient in der GT der Dokumentation des Forschungsprozesses sowie der Gewährleistung der Intersubjektivität. Die Kodierung ist ein weiteres wichtiges Werkzeug in der GT. Sie gliedert sich in drei Auswertungsschritte, welche nicht aufeinander folgen müssen, jedoch immer zirkulär anzuwenden sind, um Verdichtungen zu überprüfen. Im Rahmen der Fallanalyse wird auf die zentralen Elemente im Kodierprozess noch auszugsweise eingegangen. Abb. 1 Werkzeuge der Grounded Theory (Postek 2012) VHN 1 | 2014 53 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG 6 Fallanalyse 6.1 Fallauswahl Die für die Auswertung herangezogenen biografischen Interviews mit vier Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung wurden nach dem Prinzip der möglichst großen Varianz (Reinders 2005) hinsichtlich Ausbildungs- und Arbeitssituation, Alter und Bundesland ausgewählt. Die Frauen waren zum Zeitpunkt des letzten Interviews zwischen 17 und 31 Jahre alt 6 , wohnten in vier unterschiedlichen Bundesländern in Österreich und standen in verschiedenen Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnissen (Berufsvorbereitungskurs, Teilqualifizierungslehre als Malerin, Hilfskraft in einem Gastronomiebetrieb und Werkstatt für Menschen mit Behinderungen). Mit den Frauen sind zum Zeitpunkt der Auswertung bereits zwischen zwei und vier biografische Interviews (nach Schütze 1983) durchgeführt worden. Die Interviews wurden als narrative Interviews durchgeführt, bei denen nach einer Erzählaufforderung 7 lediglich von der Forscherin nochmals nachgefragt wurde oder spezielle von Interesse erscheinende Lebensabschnitte nochmals genauer erfragt worden sind (wie bspw. Erfahrungen in der Schulzeit, Erfahrungen zum Übergang von der Schule in den Beruf bzw. in die Berufsausbildung). In den weiteren Interviews wurden nicht behandelte Abschnitte des Lebenslaufs sowie Unklarheiten, welche sich aus dem ersten Interview ergaben, nochmals erfragt und geklärt. Das sensibilisierende Konzept 8 legte in den Auswertungen anfänglich den Fokus auf die Partizipationserfahrungen von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung und mündete im weiteren Auswertungsprozess in der Forschungsfrage: „Wie beschreiben Frauen mit intellektuellen Beeinträchtigungen ihre Identität? “ Die Interviews wurden gemäß der zuvor beschriebenen methodischen Schritte nach der GT - in einer Verbindung der Ansätze von Charmaz und Clarke - ausgewertet, indem zuerst Codes gebildet worden sind, die anschließend zu Kategorien verdichtet wurden, um in einem weiteren Schritt erste Theorien und Theorieansätze zu formulieren, die wiederum am Datenmaterial erneut überprüft werden können. Die Reflexion der Interviewsituation, der Auswertungsschritte, der Verdichtung des Materials und der Ergänzung der Lücken mit Hilfe einer Literaturrecherche wurde in Memos 9 festgehalten. 6.2 Datenauswertung Die Datenauswertung beginnt in einem ersten Schritt mit dem „Initial Coding“. Der/ die Forscher/ in bewegt sich schnell über die Daten und versucht dabei, diese möglichst genau zu betrachten. Die dabei hergestellten Codes werden kurz und einfach gehalten, um die Nähe zum Datenmaterial nicht zu verlieren 10 (Charmaz 2006). Wichtig ist es hier, die gesagten und erzählten Elemente aus den Interviews in dicht beschreibende analytische Einheiten zu teilen. Diese dichten Beschreibungen der erzählten Lebensgeschichten sind beobachtend, festhaltend und bereits analytisch (vgl. Geertz 1983). In einem zweiten Schritt, dem „Focused Coding“, werden redundante Codes zusammengefügt sowie erste Verdichtungen durchgeführt. Als zentral angesehene Codes werden dabei ins Zentrum der Auswertung gerückt und mit anderen Codes verbunden. Hierbei geht es um einen ersten Schritt einer dichten Analyse der im ersten Schritt aufgebrochenen Daten (vgl. Clarke 2012), weshalb sich methodisch gut „Situational Maps“ einbringen lassen, welche Themengeflechte zusammenfügen, ohne die Komplexität der Daten zu reduzieren. In Abbildung 2 wird ein mit der Software Atlas.ti erstelltes Netzwerk als eine „Situational Map“ der Interviewperson A VHN 1 | 2014 54 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG Abb. 2 Situational Map „Behinderung und Frauenrolle“ Frauen mit Behinderungen VHN 1 | 2014 55 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG zum Thema Behinderung und Frauenrolle dargestellt. Um die dichte Analyse weiter voranzutreiben, ist der dritte Auswertungsschritt das „Theoretical Coding“ (Charmaz 2006), welches die erstellten Kategorien und Verdichtungen nochmals miteinander in Zusammenhang bringt und die Komplexität der Daten erhöht. Erste Theoriegenerierungen, die Entstehung immer komplexerer „Situational Maps“ sowie die Entwicklung von „Maps von Sozialen Welten und Arenen“ und „Positions Maps“ (vgl. Clarke 2012) werden vorgenommen. Wichtig ist es, im Auswertungsprozess Begrifflichkeiten zu entwickeln und diese klar zu fassen. Ergebnis der Analyseschritte ist somit ein erster Theorieentwurf zur Identität als Frau mit intellektueller Beeinträchtigung. 6.3 Intersektionalitätsforschung und die Verdichtung von Erfahrungen von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung Die Forschungsmethode der GT ermöglicht es, auf die unterschiedlichen Elemente intersektionaler Forschung einzugehen. Indem das Zusammenspiel von Struktur, Identität und Repräsentation durch die Verdichtung des Materials ausgearbeitet und auch in „Maps“ dargestellt wird, können Intersektionen und Komplexitäten erkannt und wiedergegeben werden. In Abbildung 3 wird ein Beispiel einer „Position- Map“ dargestellt, welche die Zusammenhänge zwischen den vier ausgewerteten Interviews in den Rahmen intersektionaler Forschung unter Anwendung der GT-Methode aufzeigt. Abb. 3 Position Map „Zusammenhänge“ VHN 1 | 2014 56 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG In der Auswertung und Verdichtung wurde der Blick verstärkt auf die beschriebene Identität als Frau mit intellektuellen Beeinträchtigungen gelegt. Auffällig dabei war, dass es in den Fallbeispielen zu einem Spagat zwischen der Identität als Frau und der Identität als Person mit intellektueller Beeinträchtigung kommt. Erstere lässt sich als eine Polarisierung des Geschlechtercharakters (Hausen 2007) beschreiben, wodurch die Frauen sich Tugenden selbst zuschreiben bzw. annehmen, die ihnen von außen zugetragen werden und die als „klassische Geschlechtermerkmale“ bezeichnet werden können. Dabei handelt es sich um Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen, Hilfsbereitschaft, Liebenswürdigkeit, Zurückhaltung u. a. Erklärungen für diese Annahmen der Zuschreibungen bzw. der Identifikation mit ihnen bleiben bei den Frauen vage. Die Beschreibung fehlender positiver Vorbilder wird hier als eine Möglichkeit herangezogen, da Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung oftmals die Rolle der Mutter als „häuslich“ beschreiben. Die Mutter ist zumeist diejenige, die mit dem behinderten Kind zu Hause bleibt sowie während und nach der Schulzeit pädagogische und erzieherische Aufgaben übernimmt. Die Frauen beschreiben in diesem Zusammenhang die Väter - wenn vorhanden - meist als zurückhaltend in der Erledigung anfallender Aufgaben und dadurch als „Nebenrolle“ im System Familie. Die Rolle der Frauen im gesellschaftlichen System verfestigt sich mit dem Eintritt in die Schule nochmals, da Lehrer/ innen und im späteren Verlauf auch Arbeitsassistent/ innen, Betreuer/ innen, Unterstützer/ innen usw. zumeist weiblich sind. Die sich den Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung im biografischen Verlauf präsentierenden Frauenrollen spiegeln somit die von ihnen angenommenen Eigenschaften wider und werden als ein Teil ihrer „weiblichen Identität“ angenommen (vgl. auch Bretländer 2007 zu körperbehinderten Mädchen und Frauen). Die Rolle einer Person mit Behinderung wird mit der weiblichen Rolle auszuloten versucht. Beschrieben wird die eigene Behinderung nicht an (sicht- oder unsichtbaren) körperlichen Merkmalen, welche den Frauen die „Weiblichkeit des Körpers“ nehmen, sondern an der Leistungsfähigkeit, welche kritisch betrachtet wird, und einer damit für die Frauen verbundenen persönlichen „Beschaffenheit“ - einige Frauen beschreiben sich als „einfühlsam und etwas langsamer im Lesen“. Im Zusammenhang mit ihrer Behinderung zeigen sich die Frauen, im Gegensatz zu ihrer weiblichen Rolle, selbstbewusst und emanzipiert. Der stattfindende Emanzipationsprozess von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung kann den in den vergangenen Jahrzehnten aufgekommenen Selbstvertretungs- und Emanzipationsbewegungen von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen zugeschrieben werden (vgl. auch Goeke 2010). Doch die Rolle des emanzipierten und selbstbewussten Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung einerseits sowie der tugendhaften und zurückhaltenden Frau andererseits erweist sich für die Frauen als ein persönlicher „Identitätsspagat“, der schwer auszuloten ist; er führt in den Fallbeispielen zu einer Negierung der einen sowie der verstärkten Betonung und Identifikation mit der anderen Rolle. 7 Reflexion - Mehrwert der Grounded Theory für die Intersektionalitätsforschung Wie bereits Goeke (2010) und Langer (2010) darstellen, erscheint die GT als eine geeignete Methode, die Lebensumstände von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung zu beforschen 11 . Betrachtet man den Mehrwert der GT für die intersektionale Forschung, so lassen sich vor allem folgende drei Aspekte festhalten: VHN 1 | 2014 57 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG 1. Durch die Nähe am Material, welche die GT voraussetzt, d. h. die Nähe an den erzählten Lebensgeschichten und Erfahrungen von jungen Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung, werden „dichte Beschreibungen“ (Geertz 1983) und „dichte Analysen“ (Clarke 2012) vorgenommen, welche die Interviewpartnerinnen als aktive Subjekte des Forschungsprozesses wahrnehmen. Dies wird den wissenschaftstheoretischen und ethischen Grundlagen einer intersektionalen Forschung gerecht. 2. Durch die methodologische Verortung in der GT nach Charmaz sowie nach Clarke ergibt sich das Element der Reflexion des eigenen Standpunktes und der Positionierung der eigenen wissenschaftlichen, philosophischen und ideologischen Überzeugung im Forschungskontext, durch welche Forschung beeinflusst wird. Dies ist vor allem dann bedeutsam, wenn Forscherinnen nicht selbst Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung sind - was in der Regel der Fall ist. Intersektionale Forschung im Bereich der inklusiven Bildung/ Pädagogik setzt voraus, auch die eigene Sozialisation und Positionierung in geschlechtlichen und körperlichen Konstruktionen zu benennen und zu reflektieren. 3. Durch die Anwendung von Maps sowie die Darstellung von Erfahrungen und produzierten und reproduzierten Diskursen in diesen werden neue Intersektionen bzw. Themengebiete der Intersektion beschrieben, dargestellt und entdeckt. Dabei wird das Zusammenspiel von intellektueller Beeinträchtigung, Geschlecht und Alter abseits von einer kumulativen doppelten oder dreifachen Diskriminierung analysiert. Ein Bewegen zwischen einzelnen, feinen und tief analytischen Elementen (wie weibliche Identität) sowie Intersektionen ist ein wichtiger Bestandteil der GT und bringt somit einen Mehrwert mit sich. 8 Fazit Der Beitrag - auch wenn aufgrund begrenzter Darstellungsmöglichkeiten der Analyseprozess der Grounded Theory (GT) nur beispielhaft dargestellt werden konnte - macht auf die Bedeutsamkeit der GT in der intersektionalen Forschung aufmerksam und zeigt erste Theorieentwürfe zu Identitäten von Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung auf. Durch ein induktives Vorgehen im Sinne einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung der GT wird es möglich, Analyseschritte zu rekonstruieren und zu zeigen, dass manche Aussagen und Subjektkonstruktionen nicht genau einer, sondern mehreren oder neuen Kategorien zugeordnet werden können. Daraus ergeben sich bereits erste intersektionale Erkenntnisse, die bei einem Blick auf nur eine Kategorie verloren gingen. Aus einem erkenntnistheoretischen Blickwinkel kann zusammengefasst gefolgert werden, dass mittels der GT in Verbindung mit der Intersektionalitätsforschung neue Aspekte in der lebensgeschichtlichen Forschung mit intellektuell beeinträchtigten Frauen im Feld der inklusiven Bildung/ Pädagogik gewonnen werden konnten. Anmerkungen 1 Die empirische Datenbasis für den vorliegenden Beitrag bezieht sich auf das Forschungsprojekt „Partizipationserfahrungen in der beruflichen Biographie von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung“ (Finanzierung: Österreichischer Wissenschaftsfonds FWF; Projektnummer: P20021; Laufzeit: 2/ 2008 - 1/ 2013; Durchführung: Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien; Projektwebsite: http: / / vocational-participation.univie.ac.at/ .). 2 Finanzierung: Österreichischer Wissenschaftsfonds FWF; Projektnummer: P20021; Laufzeit: 2/ 2008 - 1/ 2013; Durchführung: Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien; Projektwebsite: http: / / vocational-participation. univie.ac.at/ VHN 1 | 2014 58 HELGA FASCHING, NATALIA POSTEK Analyse biografischer Interviews von Frauen mit ID FACH B E ITR AG 3 „Die Übergangs-, Unterstützungs- und Beschäftigungssituation von Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung in Österreich“. Wien: Universität Wien. Online unter: http: / / vocational-participation.univie.ac.at/ de/ publikationen/ 4 Besonders unterstützen Position-Maps die Reflexion der ein- und übernommenen Diskurse durch die Ausrichtung einer feministischemanzipatorisch arbeitenden Forschung. 5 Es besteht die Möglichkeit, unterschiedliche Memos zu verfassen: „Zusammenfassende Memos“ bringen Metadaten der Interviewpersonen zusammen, stellen den Interviewverlauf dar oder heben besondere Themen im Interview hervor, welche für weitere Auswertungen relevant sein können. Diese sind besonders bei einer großen Datenmenge empfehlenswert, da Interviews und Daten schnell auf einen Blick wieder ins Gedächtnis gerufen werden. „Prozessmemos“ ermöglichen es, Kodier- und Kategorisierungsprozesse nach den vier Auswertungseinheiten: „1) Wann wurde ausgewertet? 2) Was wurde ausgewertet? 3) Wie ging die Auswertung voran? 4) Was ist aufgefallen? “ zu dokumentieren. Besonders bedeutsam sind „Stop-and-Memo“-Prozesse (vgl. Charmaz 2006). Diese ermöglichen ein Innehalten im Auswertungsprozess, um diesen zu beschreiben, zu reflektieren und eventuell erste Verdichtungen zu erkennen. Eine weitere Möglichkeit stellen „Audio-Memos“ dar (vgl. Clarke 2012), welche während der Auswertung und Verdichtung des Materials in Maps, neben dem Mapping, aufgenommen werden. Die sich daraus ergebende Dokumentation des Forschungsprozesses ohne Abbruch des Auswertungsvorganges, wie es beim „Stop-and- Memo“-Verfahren der Fall ist, kann für die Arbeit befruchtend sein. 6 Das „hohe Alter“ der Frauen mit intellektueller Beeinträchtigung ist zum Teil auf einen „verschobenen Übergang“ zurückzuführen, der durch verlängerte Schulbesuche, längerfristige Berufsorientierungsmaßnahmen sowie eine längere Lehrausbildung im Rahmen der integrativen Berufsausbildung erzeugt wird. 7 Zum Beispiel: „Ich bitte dich zu Beginn unseres Gespräches, dass du dich vorstellst und einfach erzählst, wer du bist, was dich ausmacht, und wer alles in deinem Leben zu dir gehört.“ 8 Sensibilisierende Konzepte stellen in der GT den „point of departure“ dar, indem sie erste Forschungsinteressen oder -fragen fassen, welche sich im Laufe der Auswertung(en) verändern können (vgl. Charmaz 2006). 9 Memos gestalteten sich im Rahmen der Auswertung einerseits als verschriftlichte Dokumente (Fließtext) sowie als „Maps“ (Netzwerke, Gedankenstrukturen usw.), welche handschriftlich und/ oder elektronisch erstellt wurden. 10 „In-Vivo-Codes“ spielen hierbei genauso eine wichtige Rolle wie die Möglichkeiten des Codierens bei „Word-by-Word“, bei „Line-by- Line“ oder auch bei „Incident-by-Incident“. 11 Katrin Pittius (2011) verwendete die GT in ihrer Arbeit zur Analyse von Erwerbsbiografien körperbehinderter Frauen. Literatur Baer, R.-M.; Daviso, A.-W.; Flexer, R. W.; McMahan Queen, R.; Meindl, R.-S. (2011): Students with Intellectual Disabilities: Predictors of Transition Outcomes. In: Career Development for Exceptional Individuals 34, 132 -141 Biewer, G.; Fasching, H.; Koenig, O. (2009): Teilhabe von Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung an Bildung, Arbeit und Forschung. In: SWS-Rundschau 49, 391 -403 Böhm, A. 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Natalia Postek Universität Wien Institut für Bildungswissenschaften Sensengasse 3 a A-1090 Wien +43 (0)1 42 77 4 68 03 helga.fasching@univie.ac.at