Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2014.art13d
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Rezensionen: Die ausführliche Rezension: Dederich, Markus (2013): Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik
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Urs Haeberlin
Dies ist Band 2 der von Erwin Breitenbach, Markus Dederich und Stephan Ellinger herausgegebenen Buchreihe „Nachbarwissenschaften der Heil- und Sonderpädagogik“.
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VHN 2 | 2014 174 REZE NSION E N Die ausführliche Rezension Dederich, Markus (2013): Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik Stuttgart: Kohlhammer. 282 S. € 34,90 Dies ist Band 2 der von Erwin Breitenbach, Markus Dederich und Stephan Ellinger herausgegebenen Buchreihe „Nachbarwissenschaften der Heil- und Sonderpädagogik“. In der Reihe bereits erschienen ist Band 1, „Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik“ von Erwin Breitenbach. Gemäß Angaben im Vorwort der Herausgeber sind noch weitere fünf Bände geplant: Band 3 „Soziologie in der Heil- und Sonderpädagogik“, Band 4 „Erziehungswissenschaft in der Heil- und Sonderpädagogik“, Band 5 „Medizin in der Heil- und Sonderpädagogik“, Band 6 „Recht in der Heil- und Sonderpädagogik“ und Band 7 „Technik in der Heil- und Sonderpädagogik“. Bezüglich der Konzeption der gesamten Reihe ergeben sich für mich als langjähriger Inhaber eines Lehrstuhls für Heil- und Sonderpädagogik an einer Universität Fragen wissenschaftssystematischer Art: Welchen Status ordnen die Reihenherausgeber dem Fach „Heil- und Sonderpädagogik“ innerhalb des Systems der Wissenschaften zu? Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit ein anderes Fach oder eine andere Disziplin als Nachbarwissenschaft der „Heil- und Sonderpädagogik“ gelten kann? Warum wird das Fach „Erziehungswissenschaft“ als Nachbarfach definiert? Und warum soll „Heil- und Sonderpädagogik“ nicht den Status einer Teildisziplin der Erziehungswissenschaft haben, wie es beispielsweise auch für „Sozialpädagogik“, „Erwachsenenbildung“, „Interkulturelle Pädagogik“ u. v. a. m. als üblich gilt? Und schließlich die zentrale Frage aus der Sicht des Inhabers eines entsprechenden Lehrstuhls: Was kann rechtfertigen, der Heil- und Sonderpädagogik den Status einer eigenständigen Disziplin auf gleichem wissenschaftssystematischem Niveau wie Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie und Philosophie zu geben? Streben nach Prestigegewinn wäre zwar eine menschlich-allzumenschliche Erklärung dafür, aber natürlich keine dem Anspruch auf wissenschaftliche Argumentation angemessene Rechtfertigung. Im Vorwort der Reihenherausgeber im mir zur Rezension vorliegenden Band kann ich zum aufgeworfenen Problem die folgenden Hinweise finden: „Die Grundidee der Reihe wurzelt in der Erkenntnis, dass Vertreterinnen und Vertreter der Heil- und Sonderpädagogik aufgrund der Vielschichtigkeit des Phänomens bei der Beforschung und Bearbeitung verschiedener Fragestellungen im Themenfeld der Behinderung und Benachteiligung schon immer stark auf Nachbarwissenschaften zurückgegriffen haben. Tatsächlich lassen sich die vielfältigen pädagogischen Fragen, die sich im Kontext von Behinderung und Benachteiligung stellen und im Zentrum der Heil- und Sonderpädagogik stehen, in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit angemessen nur in einer inter- und transdisziplinären Perspektive bearbeiten.“ In diesen Sätzen findet man als Argument für die wissenschaftssystematische Eigenständigkeit der Heil- und Sonderpädagogik ihre inhaltliche Thematik „Behinderung und Benachteiligung“. Es erscheint mir fraglich, ob sich mit einer so formulierten Thematik die Eigenständigkeit einer Disziplin in der universitären Wissenschaftssystematik begründen lässt. Die Fragwürdigkeit vergrößert sich, wenn im darauf folgenden Satz präzisiert wird, dass es um „die vielfältigen pädagogischen Fragen“ geht, „die sich im Kontext von Behinderung und Benachteiligung stellen und im Zentrum der Heil- und Sonderpädagogik stehen“. Damit liefern die Herausgeber die Argumente gleich selbst dafür, dass es sich nicht um eine eigenständige Disziplin neben der Erziehungswissenschaft, sondern um eine erziehungswissenschaftliche Teildisziplin handeln dürfte. In dieser Weise von den Vorgaben der Reihenherausgeber irritiert, habe ich mich an die Lektüre des Bandes von Markus Dederich gemacht. Im ersten Satz seines Vorworts setzt er selbst das Wort „Nachbardisziplin“ in Anführungszeichen und scheint damit seine eigenen Vorbehalte diesem Begriff gegenüber zumindest bezüglich der traditionsreichen universitären Disziplin „Philosophie“ signalisieren zu wollen. Philosophie sei „eine wichtige, in Hinblick auf manche Fragen und Probleme sogar die wichtigste Bezugswissenschaft“ (11). Was er damit meint, wird daran erkennbar, wie er den Rückgriff auf die Philosophie für die Be- VHN 2 | 2014 175 REZE NSION E N arbeitung von zentralen Fragen sieht, auf die man bei der pädagogischen Sichtweise von Erschwernissen durch Behinderungen und andere Benachteiligungen unvermeidlich stößt. Im Mittelpunkt seines Buches „stehen zentrale und fundamentale Themen und Probleme der Heil- und Sonderpädagogik, die in einer philosophischen Perspektive untersucht und reflektiert werden“ (11). Ich verstehe Dederich in dem Sinne, dass er Philosophie weder als Hilfsnoch als Nachbarwissenschaft sieht, sondern dass er philosophisches Reflektieren als wesentlichen und notwendigen Teil des Nachdenkens über Fragen der Heil- und Sonderpädagogik als Wissenschaft, aber insbesondere auch als Praxis und Politik betrachtet. Bei den philosophisch zu reflektierenden zentralen Problemen geht es zum einen um das Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit als einem Grundthema der Heil- und Sonderpädagogik und zum andern um die Grenzphänomene, mit welchen sich Heil- und Sonderpädagogik unweigerlich konfrontiert sieht: „Grenzen dessen, was viele Philosophen als ‚allgemeinmenschlich‘ (z. B. im Sinne charakteristischer oder notwendiger Gattungseigenschaften) ansehen, Grenzen der Kommunikation und des Verstehens (die z. B. erfahrbar werden, wenn Menschen sich nur auf einer sehr basalen körperlichen Ebene, nicht aber verbalsprachlich artikulieren können), Grenzen des pädagogisch Mach- und Herstellbaren (z. B. bei Menschen mit schwersten und komplexen Beeinträchtigungen) oder Grenzen normativer Systeme (z. B. hinsichtlich der Frage, ob es Grenzen der Zugehörigkeit zu moralischen Gemeinschaften gibt).“ (11) Mit Recht orientiert sich Dederich an diesen beiden zentralen Problemen, wenn er Fragen nach der Bedeutung von philosophischem Nachdenken für die Heil- und Sonderpädagogik bearbeitet. An anderer Stelle findet man weitere Hinweise, wie er Heil- und Sonderpädagogik wissenschaftssystematisch bzw. -theoretisch einordnet: Er spricht nämlich von „anwendungsorientierter Wissenschaft“. Als solche stehe sie „letztlich im Dienste der Förderung und Bildung von benachteiligten und behinderten Menschen und trage zu einer Verbesserung ihrer Lebenssituation bei“ (25). Und dem wird angefügt, dass „die Hervorbringung eines solchen Wissens niemals wert- und machtfrei“ sei (25). Damit ist es unvermeidlich, dass die Sicht der Realitäten von Benachteiligungen und Behinderungen auch durch die wissenschaftliche Heil- und Sonderpädagogik in Abhängigkeit von den die wissenschaftliche Forschung leitenden Werten so oder so konstruiert werden kann. Wenn man dies konsequent weiterdenkt, wird meines Erachtens philosophisches Reflektieren zentrales Element sowohl der wissenschaftlichen wie auch der praktischen Heil- und Sonderpädagogik. Zugleich gilt es aber zu bedenken, dass es auch philosophische Sichtweisen gibt, die wiederum durch den Bezug auf Werte die heil- und sonderpädagogische Praxis und Forschung unterschiedlich konstruieren und bewerten können. Ich meine, dass Dederich in seinem Buch dieses mehrfache Konstruktionsproblem in Wissenschaft, Praxis und auch Politik überzeugend und tiefgreifend herausarbeitet. Der Leser muss allerdings bereit sein, sich auf die differenzierten Argumentationen einzulassen, was möglicherweise vielen einseitig auf scheinbare, angeblich wissenschaftlich erforschte „Fakten“ und brauchbares und vermeintlich eindeutiges Handlungswissen getrimmten Studierenden, Praktizierenden und oft auch an Hochschulen Lehrenden nicht gelingt und nicht einleuchtet. Leider wird heute an vielen Hochschulen und Universitäten, welche Pädagoginnen und Pädagogen für die Schulpraxis ausbilden, von nicht wenigen Dozierenden entweder eine erkenntnistheoretisch und wissenschaftstheoretisch längst nicht mehr haltbare ergebnis- und faktenorientierte Erwartung von Forschung vermittelt oder dann eine undifferenzierte und generelle Ablehnung von allem, was sich wissenschaftlich nennt, gezüchtet und wissenschaftlich als „theoretisch“ und „für die Praxis nicht brauchbar“ charakterisiert. Beide dieser oft vermittelten Haltungen können den Zugang zu Dederichs Reflexionen erschweren oder gar verbauen. Solchen von Klugheit und Weisheit weit entfernten Meinungen über „Wissenschaft als Tatsachenlieferantin“ oder als „theorielastige Praxisabstinentin“ bleiben die wichtigen Hinweise Dederichs auf die grundsätzliche Unfertigkeit, Revidierbarkeit und oft Widersprüchlichkeit von philosophischen Erkenntnissen vermutlich unverständlich, weshalb die Auseinandersetzung mit diesem Buch überflüssig erscheint. Warum sich überhaupt mit Philosophie abmühen, wenn bei ihr noch so vieles strittig und nicht abschließend geklärt ist? Dederich will in seinem Buch unter anderem gerade vermitteln, dass es auch für uns Heil- und VHN 2 | 2014 176 REZE NSION E N Sonderpädagoginnen und -pädagogen äußerst wichtig ist, die Unfertigkeit von Philosophie, aber auch von einer Anwendungswissenschaft wie der Heil- und Sonderpädagogik als wesentlich für die Einstellung zu Behinderung und Benachteiligung zu erfahren und anzuerkennen. Grundsätzliche Offenheit und Ungeklärtheit ist gerade für philosophische Fragestellungen typisch und notwendig. „Vielmehr sind viele Probleme, etwa solche erkenntnistheoretischer oder ethischer Art, in der Philosophie strittig. Tatsächlich gibt es ‚die‘ Philosophie ebenso wenig wie ‚die‘ Heil- und Sonderpädagogik. Beide Bezeichnungen für wissenschaftliche Disziplinen vereinen unterschiedlichste und vielstimmige Traditionen, Diskurse, methodische Präferenzen, überhaupt Vorstellungen davon, was die jeweilige Disziplin ist, kann und soll - und was eben nicht.“ (12) Die Logik der Anordnung der einzelnen Kapitel wird nicht gleich zu Beginn, jedoch beim weiteren Lesen des Buches immer einleuchtender. Die fünf Kapitel mit den Bezügen zu den für die Heil- und Sonderpädagogik als einschlägig betrachteten Teilbereichen der Philosophie werden sinnvoll umklammert von zwei Kapiteln mit der Thematik „Die Anderen“ davor und zwei Kapiteln mit der Thematik „Ich und die Anderen“ danach. Als Teilbereiche der Philosophie werden kapitelweise Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Anthropologie, Technikphilosophie und Ethik behandelt. Im Kapitel „Die Anderen I: Gleichheit und Verschiedenheit“ wird skizzenartig die zentrale Problematik aufgezeigt, wie wir uns in Zukunft noch intensiver und vertiefter als bisher mit der Frage auseinandersetzen müssen, was Verschiedenheit zwischen den Menschen und doch auch immer wieder postuliertes Allgemeines aller Menschenwesen für heil- und sonderpädagogisches Denken bedeutet und wie sich das Zusammenleben angesichts einer oft als radikal empfundenen Andersheit von Menschen und Menschengruppen gestalten lässt. Damit hat Dederich das Grunddilemma aufgezeigt, mit dem er sich bei seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie in den folgenden Kapiteln immer wieder beschäftigt. Immer wieder wird - nicht nur in der Heil- und Sonderpädagogik - die Tendenz sichtbar, alles Besondere und das Allgemeine zu kategorisieren und in ein festes Schema zu bringen. Dass der Leser die Ambivalenz dieser Tendenz zu sehen und zu verstehen beginnt, ist meines Erachtens eines der zentralen Anliegen von Dederich. „Die Kritik des Schematismus von Allgemeinem und Besonderem im Zeichen radikal verstandener Differenz hat gezeigt, dass die kategoriale Bezeichnung von etwas als etwas ambivalent ist: Einerseits ist sie für begriffliche Erkenntnis und das Gelingen von Kommunikation unverzichtbar, andererseits haftet ihr aber auch stets etwas Gewaltförmiges an, weil sie es im Kontext einer sprachlichen und gesellschaftlichen Ordnung auf ein ‚So-und-nicht-anders‘ festlegt und dadurch in seiner radikalen Differenz stets auch verfehlt. Dieser Sachverhalt rückt kategoriale Bezeichnungen wie ‚Behinderung‘, ‚Beeinträchtigung‘ usw. in ein Zwielicht, dem nicht zu entkommen ist. Dies hat für Humanwissenschaften wie die Heil- und Sonderpädagogik weitreichende Konsequenzen, die in den nachfolgenden Kapiteln schrittweise ausgelotet werden sollen.“ (56) Es kann natürlich nicht Aufgabe dieser Rezension sein, die schrittweise Auseinandersetzung mit der Philosophie komprimiert zusammenzufassen, um gleichsam dem Leser die Lektüre des Buches zu ersparen. Damit würde ich das anfänglich kritisierte und als falsch erachtete Speichern von Eindeutigem und Abgeschlossenem unterstützen und fördern. Das wäre meines Erachtens ganz und gar nicht im Sinne der Intentionen, welche Dederich mit diesem Buch verfolgt. Ich will mich deshalb mit einer Prognose begnügen, die allerdings nur für Personen mit grundsätzlicher Bereitschaft für das Akzeptieren von Ambivalenzen und Nicht-eindeutig-Entscheidbarem im kulturell, historisch und politisch geprägten Umfeld von zusammenlebenden Menschen Gültigkeit haben wird: Es „lohnt“ sich, sich auf das Buch einzulassen und es bis zum Ende zu lesen. Aber ich wage auch die Prognose, dass es einige nicht zu Ende gelesen weglegen werden, weil sie nicht gewohnt sind, sich auf Gedankengänge philosophischer Art einzulassen. Man braucht Zeit und Muße, um sich mit dem Buch „erfolgreich“ beschäftigen zu können. Wer ist heute noch auf ein nicht greifbares und nicht nutzbares Erfolgserlebnis ausgerichtet, nachdem beispielsweise die Ausbildung in Sonder- und Heilpädagogik an Universitäten und Hochschulen weitgehend durch das Sammeln der vorgeschriebenen Anzahl Punkte im Sinne der Bologna-„Reform“ geprägt ist! ? Trotz dieser beklagenswerten augenblicklichen Situation im Bildungswesen glaube ich daran, dass sich demnächst bei einer der kommenden Generatio- VHN 2 | 2014 177 REZE NSION E N nen wieder ein kritischer Geist und das Interesse an zentralen und grundlegenden Fragen, welche von Dederich behandelt werden, manifestieren werden. Dederich leistet mit seinem Buch einen wesentlichen Beitrag dazu, dass die Entwicklung eines „neuen“ kritischen Geistes vorangetrieben wird. Es ist zu hoffen, dass sich möglichst viele Personen, die Heil- und Sonderpädagogik studieren oder in diesem Fach ausbilden, aber auch möglichst viele in der heil- und sonderpädagogischen Praxis Tätige auf das Buch einlassen werden. Meinen Glauben daran, dass sich das verbreitete bolognasierte Punktesammeln und die gesamte darin zum Ausdruck kommende Haltung zum Konsumieren um- oder weiterentwickeln wird, finde ich - allerdings viel allgemeiner gedacht - auch in den Schlusssätzen von Dederich bestätigt: „Die Konflikte oder Dissense zwischen unterschiedlichen Lebensformen und (Teil-)Kulturen werden sich daher nicht in einem harmonischen, konsensuellen Weltethos oder dergleichen auflösen. (…) Dies gilt allein deswegen, weil sich Gesellschaft und Kultur stets weiterentwickeln und damit neue Fragen, Probleme und Konfliktfelder erzeugen und damit neue Antworten oder Lösungen erforderlich machen. Es gilt aber auch deshalb, weil die Frage, wie die Menschen sich selbst verstehen und leben sollen und wie die Gesellschaft gestaltet werden kann, wohl niemals zu einem Abschluss kommen wird (…).“ (261) Prof. em. Dr. Urs Haeberlin CH-8050 Zürich DOI 10.2378/ vhn2014.art13d Rezensionen Koechlin, Annette; Gruntz- Stoll, Johannes (Hrsg.) (2013): Das Fremde lesen als das Eigene. Beiträge zur narrativen Heilpädagogik Bern: Haupt. 144 S., € 36,90 Schon im Titel findet sich mit „narrativer Heilpädagogik“ ein Begriff, der auf einen speziellen Ansatz im Verstehen von Menschen mit Behinderungen hinweist. Es ist das Anliegen von Johannes Gruntz-Stoll, emeritierter Professor für Spezielle Pädagogik und Psychologie der Fachhochschule Nordwestschweiz, aus Erzählungen und Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen zu lernen und diese als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu erfassen und nutzbar zu machen. Das Buch „Das Fremde lesen als das Eigene. Beiträge zu einer narrativen Heilpädagogik“ ist der zweite Band einer Trilogie. Hier sind die Vorträge einer Tagung über „Erzählte Behinderung“ veröffentlicht, welche Ende September 2012 an der Universität Basel stattfand. Die Texte der Vorträge werden ergänzt durch einen Beitrag von Johannes Gruntz-Stoll und zwei Aufsätze von Odo Marquard. Die Vortragsnachschriften behandeln das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Der erste Beitrag mit dem Titel „Ein Ich sichtbar machen“ von Christian Mürner thematisiert drei Erzählungen im Hinblick auf Behindertenpädagogik. Er zeigt auf, dass erzählende Literatur zum Thema Behinderung neue Blickwinkel ermöglicht und das Verständnis für die Betroffenen vertiefen kann. Der Beitrag von Susanne Schriber macht anhand eines Kinderbuches darauf aufmerksam, dass Geschichten dazu beitragen können, Kindern mit Behinderungen neue Perspektiven zu eröffnen und ihnen zu helfen, sich in ressourcenorientierter, Ich-stärkender Weise mit dem eigenen Anders-Sein auseinanderzusetzen. „Ich verstehe mehr als du denkst“ lautet der Titel des Beitrags von Andreas Fischer: Auf der Grundlage des anthroposophischen Menschenverständnisses wird hier versucht, Selbstaussagen von Menschen mit Unterstützungsbedarf zu verstehen, zu verorten und mit der Praxis zu verbinden. Der letzte Beitrag mit der Überschrift „Im Sanatorium der kranken Geschichten“ stammt von Karen Joisten. Er geht davon aus, dass wir in einer Zeit des fortschreitenden Vergessens von Geschichten leben, und zeigt anhand der drei Schritte Anamnese, Diagnose und Therapie auf, wie der ruhelos suchende Mensch einen Weg finden kann, der ihm wieder einen Zugang zur narrativen Identität von sich und dem Mitmenschen eröffnet.
