eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2014.art14d
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Rezensionen: Koechlin, Annette / Gruntz-Stoll, Johannes (Hrsg.) (2013): Das Fremde lesen als das Eigene. Beiträge zur narrativen Heilpädagogik

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Andreas Fischer
Schon im Titel findet sich mit „narrativer Heilpädagogik“ ein Begriff, der auf einen speziellen Ansatz im Verstehen von Menschen mit Behinderungen hinweist. Es ist das Anliegen von Johannes Gruntz-Stoll, emeritierter Professor für Spezielle Pädagogik und Psychologie der Fachhochschule Nordwestschweiz, aus Erzählungen und Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen zu lernen und diese als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu erfassen und nutzbar zu machen.
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VHN 2 | 2014 177 REZE NSION E N nen wieder ein kritischer Geist und das Interesse an zentralen und grundlegenden Fragen, welche von Dederich behandelt werden, manifestieren werden. Dederich leistet mit seinem Buch einen wesentlichen Beitrag dazu, dass die Entwicklung eines „neuen“ kritischen Geistes vorangetrieben wird. Es ist zu hoffen, dass sich möglichst viele Personen, die Heil- und Sonderpädagogik studieren oder in diesem Fach ausbilden, aber auch möglichst viele in der heil- und sonderpädagogischen Praxis Tätige auf das Buch einlassen werden. Meinen Glauben daran, dass sich das verbreitete bolognasierte Punktesammeln und die gesamte darin zum Ausdruck kommende Haltung zum Konsumieren um- oder weiterentwickeln wird, finde ich - allerdings viel allgemeiner gedacht - auch in den Schlusssätzen von Dederich bestätigt: „Die Konflikte oder Dissense zwischen unterschiedlichen Lebensformen und (Teil-)Kulturen werden sich daher nicht in einem harmonischen, konsensuellen Weltethos oder dergleichen auflösen. (…) Dies gilt allein deswegen, weil sich Gesellschaft und Kultur stets weiterentwickeln und damit neue Fragen, Probleme und Konfliktfelder erzeugen und damit neue Antworten oder Lösungen erforderlich machen. Es gilt aber auch deshalb, weil die Frage, wie die Menschen sich selbst verstehen und leben sollen und wie die Gesellschaft gestaltet werden kann, wohl niemals zu einem Abschluss kommen wird (…).“ (261) Prof. em. Dr. Urs Haeberlin CH-8050 Zürich DOI 10.2378/ vhn2014.art13d Rezensionen Koechlin, Annette; Gruntz- Stoll, Johannes (Hrsg.) (2013): Das Fremde lesen als das Eigene. Beiträge zur narrativen Heilpädagogik Bern: Haupt. 144 S., € 36,90 Schon im Titel findet sich mit „narrativer Heilpädagogik“ ein Begriff, der auf einen speziellen Ansatz im Verstehen von Menschen mit Behinderungen hinweist. Es ist das Anliegen von Johannes Gruntz-Stoll, emeritierter Professor für Spezielle Pädagogik und Psychologie der Fachhochschule Nordwestschweiz, aus Erzählungen und Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen zu lernen und diese als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu erfassen und nutzbar zu machen. Das Buch „Das Fremde lesen als das Eigene. Beiträge zu einer narrativen Heilpädagogik“ ist der zweite Band einer Trilogie. Hier sind die Vorträge einer Tagung über „Erzählte Behinderung“ veröffentlicht, welche Ende September 2012 an der Universität Basel stattfand. Die Texte der Vorträge werden ergänzt durch einen Beitrag von Johannes Gruntz-Stoll und zwei Aufsätze von Odo Marquard. Die Vortragsnachschriften behandeln das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Der erste Beitrag mit dem Titel „Ein Ich sichtbar machen“ von Christian Mürner thematisiert drei Erzählungen im Hinblick auf Behindertenpädagogik. Er zeigt auf, dass erzählende Literatur zum Thema Behinderung neue Blickwinkel ermöglicht und das Verständnis für die Betroffenen vertiefen kann. Der Beitrag von Susanne Schriber macht anhand eines Kinderbuches darauf aufmerksam, dass Geschichten dazu beitragen können, Kindern mit Behinderungen neue Perspektiven zu eröffnen und ihnen zu helfen, sich in ressourcenorientierter, Ich-stärkender Weise mit dem eigenen Anders-Sein auseinanderzusetzen. „Ich verstehe mehr als du denkst“ lautet der Titel des Beitrags von Andreas Fischer: Auf der Grundlage des anthroposophischen Menschenverständnisses wird hier versucht, Selbstaussagen von Menschen mit Unterstützungsbedarf zu verstehen, zu verorten und mit der Praxis zu verbinden. Der letzte Beitrag mit der Überschrift „Im Sanatorium der kranken Geschichten“ stammt von Karen Joisten. Er geht davon aus, dass wir in einer Zeit des fortschreitenden Vergessens von Geschichten leben, und zeigt anhand der drei Schritte Anamnese, Diagnose und Therapie auf, wie der ruhelos suchende Mensch einen Weg finden kann, der ihm wieder einen Zugang zur narrativen Identität von sich und dem Mitmenschen eröffnet. VHN 2 | 2014 178 REZE NSION E N Der vorgestellten Publikation ging ein wichtiges Werk voraus: Im ersten Band „Erzählte Behinderung. Grundlagen und Beispiele narrativer Heilpädagogik“ (Haupt 2012) begründet Johannes Gruntz-Stoll als Autor die wissenschaftliche Relevanz seines Ansatzes. Im dritten Band der Trilogie „Alles wie immer? Geschichten mit Behinderung“ (Hrsg. J. Gruntz-Stoll und C. Mürner, Chronos Verlag Zürich 2013) haben vierundzwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren Geschichten von und über Menschen mit Behinderung zur Verfügung gestellt. Die drei Bände eröffnen auf einer breiten Grundlage neue und unbekannte Perspektiven von Menschen mit Behinderungen und helfen mit, diese in ihrem So-Sein besser zu verstehen und sie damit auch adäquat begleiten zu können. Dr. Andreas Fischer CH-4143 Dornach DOI 10.2378/ vhn2014.art14d Herzog, Walter (2013): Bildungsstandards Stuttgart: Kohlhammer. 116 S., € 19,90 Mittlerweile sind rund zehn Jahre vergangen seit der von Eckhard Klieme und Mitarbeitenden verfassten Expertise zu Bildungsstandards und der Einführung von Regelstandards in den deutschen Bundesländern. In der Schweiz wurden 2011 mit der Verabschiedung nationaler Bildungsziele für die vier Fachbereiche Schulsprache, Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften Grundkompetenzen formuliert, welche die Basis für die Entwicklung von Lehrmitteln, Lehrplänen und Evaluationsinstrumenten bilden sollen (siehe: http: / / www.edk.ch/ dyn/ 12930.php ). Kompetenzbasierte Bildungsstandards sind somit auch im deutschen Sprachraum zu einem zentralen Element staatlicher Bildungspolitik geworden. Was aber sind Bildungsstandards genau und was soll und kann mit ihnen erreicht werden? Welches Verständnis von Lernen und Lehren steht hinter dem heute inflationär verwendeten Kompetenzbegriff? Was ist unter Output-Steuerung zu verstehen und welche möglichen Auswirkungen hat sie auf die Arbeit von Lehrpersonen sowie auf Unterricht und Schülerleistungen? Solchen und weiteren Fragen geht der Berner Erziehungswissenschaftler Walter Herzog in seiner jüngsten Publikation mit dem Titel „Bildungsstandards“ nach. Als ausgewiesener Kenner der Materie, der sich in zahlreichen Publikationen kritisch mit der Standardisierung im Bildungswesen auseinandergesetzt hat, identifiziert er die Problemzonen standardbasierter Bildungsreformen, indem er die fehlende Klarheit und Schärfe gängiger Kompetenzkonzepte moniert und die Probleme artikuliert, die sich mit dem Anspruch der Systemsteuerung einstellen. Dabei bezieht er sich einerseits auf die Konzeptionen im deutschsprachigen Raum und andererseits auf die weitgehend ernüchternden Erfahrungen mit Standards im angelsächsischen Raum. Auch wenn Herzogs kompaktes Buch durchaus den Charakter einer Streitschrift trägt und der Autor mit analytischer Schärfe und unmissverständlich auf Unstimmigkeiten und mögliche Fehlentwicklungen verweist, geht es ihm nicht darum, Bildungsstandards per se abzulehnen, sondern der mit ihnen einhergehenden Entwicklung Gegensteuer zu geben: „Gegensteuer würde nicht heißen, dass wir die Standardbewegung in Bausch und Bogen verdammen, wohl aber, dass wir auf deren Grenzen hinweisen, die sich vor allem aus ihren unausgesprochenen theoretischen Grundlagen ergeben.“ (S. 101, unter Verweis auf eigene frühere Publikationen.) Leser/ innen stellen sich angesichts dieses kritischen Fazits natürlich die Frage, welches denn mögliche Konsequenzen im Umgang mit der Thematik sein könnten. Darauf kann und will Herzogs Buch keine Antwort geben. Es bildet einen zwar reichlich späten, aber notwendigen und kritischen Beitrag, um die Diskussion um Kompetenzkonzepte und Bildungssteuerung (z. B. im Zuge der Einführung des Lehrplans 21) neu zu beleben. Dr. phil. Ulrich Halbheer CH-8280 Kreuzlingen DOI 10.2378/ vhn2014.art15d