Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2014.art21d
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Trend: Eine Pädagogik der Beschämung?
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Birgit Herz
Sven Heuer
Vorbemerkung: Der populistische Ruf nach Härte Seit den achtziger Jahren werden in der Gewaltprävention - in der Schule wie in der Kinder- und Jugendhilfe - langfristig angelegte pädagogische Erziehungshilfen durch kognitiv-behavioristische oder repressive Trainingsprogramme ersetzt (vgl. Grummt u. a. 2010). Die Frage nach demokratischen Bildungs- und Rechtsansprüchen scheint bei „Verhaltensstörungen“ oder „Jugendgewalt“ an pädagogischer Reflexivität einzubüßen und in ein autoritäres Gegengewicht umzuschlagen. „Der pädagogische Zeitgeist bläst (…) derzeit aus einer ziemlich rückwärtsgewandten, antiliberalen, Strenge, Zucht und Ordnung einfordernden Richtung.“ (Göppel 2008, 60) Der Anfälligkeit für derart ausgestaltete „Erziehungsmoden“ liegt ein gemeinsames Muster zugrunde: Pädagogisch-reflexive Argumentationen werden mit Etiketten des „Erziehungsnotstands“, „ehlender Autoritä“ und „Werteverlusts“ neu bewertet, um den populistischen Erwartungen eine pädagogisierbare Antwort folgen zu lassen (vgl. Brumlik 2007).
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246 VHN, 83. Jg., S. 246 -249 (2014) DOI 10.2378/ vhn2014.art21d © Ernst Reinhardt Verlag TRE ND Eine Pädagogik der Beschämung? Emotionale Gewalt als Disziplinartechnik Birgit Herz, Sven Heuer Universität Hannover Vorbemerkung: Der populistische Ruf nach Härte Seit den achtziger Jahren werden in der Gewaltprävention - in der Schule wie in der Kinder- und Jugendhilfe - langfristig angelegte pädagogische Erziehungshilfen durch kognitiv-behavioristische oder repressive Trainingsprogramme ersetzt (vgl. Grummt u. a. 2010). Die Frage nach demokratischen Bildungs- und Rechtsansprüchen scheint bei „Verhaltensstörungen“ oder „Jugendgewalt“ an pädagogischer Reflexivität einzubüßen und in ein autoritäres Gegengewicht umzuschlagen. „Der pädagogische Zeitgeist bläst (…) derzeit aus einer ziemlich rückwärtsgewandten, antiliberalen, Strenge, Zucht und Ordnung einfordernden Richtung.“ (Göppel 2008, 60) Der Anfälligkeit für derart ausgestaltete „Erziehungsmoden“ liegt ein gemeinsames Muster zugrunde: Pädagogisch-reflexive Argumentationen werden mit Etiketten des „Erziehungsnotstands“, „fehlender Autorität“ und „Werteverlusts“ neu bewertet, um den populistischen Erwartungen eine pädagogisierbare Antwort folgen zu lassen (vgl. Brumlik 2007). Ihre Popularität bedient Oberflächeneffekte, die ethische wie emanzipatorische Prinzipien mit dem Argument revidieren, dass sich pädagogische Effizienz durch Zwangsinterventionen herstellen lässt. Vermarktet als sichere Bastion gegen Ordnungsverletzungen und Autoritätsverluste sind diese Verfahren nichts weniger als disziplinarische wie punitive - also übermäßig strafbetonte - Praktiken, die Normalitätsordnungen als neue Wohlfahrtsstaatlichkeit in moralische Notwendigkeiten umwandeln (vgl. Dollinger/ Schmidt- Semisch 2011, 13f ). „Abweichungen“ und „Störverhalten“ sind dementsprechend keine gesellschaftlich ambivalent erzeugten Attribute, die wohlfahrtsstaatliche Integrationsansprüche markieren, sondern dienen der Stigmatisierung jugendlicher Risikogruppen und potenzieller „Tätertypen“ ebenso wie ihrer Instrumentalisierung zur Legitimation härterer Eingriffe. „Bei STOPP ist Schluss! “ - Zwang als Beschämung in Macht-Ohnmacht-Beziehungen Eine in vielfacher Hinsicht extreme Variante solcher punitiver „Heilslehren“ ist das Programm „Bei STOPP ist Schluss! Werte und Regeln vermitteln“ der Autoren Thomas Grüner und Franz Hilt für die Klassenstufen 1 - 10, ein Baustein ihres Fortbildungsprogramms „Konflikt-Kultur“. Hier werden bspw. Lehrer/ innen Handlungsanleitungen empfohlen, die einen „effektiven“ und „störungsfreien“ Unterricht „mit möglichst wenig Kraftaufwand“ möglich machen sollen (Grüner/ Hilt 2008, 3). In ihrer simplifizierenden und suggestiven Sprache vermitteln die beiden Autoren, dass ein Recht auf störungsfreien Unterricht zur gesundheitlichen Selbstsorge des Lehrpersonals gehört: „Wer gesund bleiben will, tut gut daran, die Regeln des Zusammen-Arbeitens VHN 3 | 2014 247 BIRGIT HERZ, SVEN HEUER Emotionale Gewalt als Disziplinartechnik TRE ND gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen zu entwickeln und mit einheitlichen Konsequenzen für Regeleinhaltung und Regelverstößen zu arbeiten.“ (Grüner/ Hilt 2008, 6) Diese Anregung entspricht zunächst einmal dem Mainstream der Lehrer/ innenratgeberliteratur. Das Trainingsprogramm von Grüner/ Hilt repräsentiert allerdings mit der Kultivierung der emotionalen Dimensionen von Angst, Isolierung, Beschämung und Bloßstellen als pädagogische Mittel - im Kontext der Peergruppendynamik - eine neue punitive Variante. Effiziente „Handlungsfähigkeit“ als Ermächtigung zur Disziplinierung Um „effektiv“ unterrichten zu können, sollten Lehrer/ innen ihre Illusion aufgeben, dass Schule ein „Wohlfühlort für alle“ sein könne (Grüner/ Hilt 2008, 8). Man solle nicht länger an „sich selbst zweifeln“ und den Schüler/ innen „etwas vormachen“ - sondern endlich zu einer Pädagogik finden, die dem „erlebten Zwangscharakter“ und dem „Selektionsauftrag“ der Schule gerecht werden werde (ebd., 9). Wer das Programm nicht anwendet, riskiere „schwere und chronische Gesundheitsschäden“ (ebd., 6). Der Ausgangspunkt einer ständigen Überforderungssituation im konkreten Arbeitsalltag in Schule und Jugendhilfe, hervorgerufen durch ökonomisierten Leistungsdruck, „folgt einem neoliberalen Arbeitsethos. Er führt wie in vielen Berufen (…) zu belastenden Arbeitsbedingungen, die gesundheitliche Folgen haben, zur emotionalen Erschöpfung und Überforderung, die krank machen.“ (Hafeneger 2013, 110) Die damit verbundenen Schuldgefühle und Selbstzweifel berühren jedoch ein subjektiv bedeutsames Tabu bei Praktikerinnen und Praktikern, weil der funktionierende und sozial angepasste Bürger als Leitfigur den pädagogischen Normalisierungsauftrag als ausschließlich ökonomisierbare Selbstverantwortung beschreibt. Nach Grüner und Hilt (2008) wird dieses Handlungsdilemma einer zunehmenden Deprofessionalisierung rhetorisch aufgelöst: Es gibt „nur eine Möglichkeit, die vielfältigen Belastungen des Unterrichtsalltags gesundheitsverträglich zu gestalten“, ohne an „Burnout“ zu erkranken, und zwar ihr Programm eines „konsequenten Erziehungsstils“: „Bei STOPP ist Schluss! “ (ebd., 6) Soziale Ausschließung als schulischer Auftrag Beide Autoren berufen sich auf die Selektionsfunktion von Schule und ermutigen und bestärken die angesprochenen Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Selektionsaufgabe, die auf leistungsorientierten Vergleichsprozessen basiert (vgl. Grüner/ Hilt 2008, 9 und 28). Das eindeutige Legitimationsargument liefert die „genetische Ausstattung“ (ebd., 9) auf der Grundlage „unveränderbarer Schichtzugehörigkeit“ (ebd., 9). Beide Argumentationsfiguren begründen das Kausalmotiv möglicher Ausschließungsprozesse aus der Klassengemeinschaft (ebd., 77f). Eine Deskription potenziell zum Scheitern prädestinierter Schülerinnen und Schüler wird den Lehrpersonen an die Hand gegeben: „Diese Schüler, die schon früh in ihrem Leben ‚fallen gelassen‘ wurden, sind wie alle auf der Suche nach Halt und Sicherheit. In diesem Fall allerdings außerhalb oder am Rande der Gesellschaft. (…) Manche finden Halt im kriminellen Milieu. (…) In all diesen Fällen ist die ‚normale‘ Schule kein guter, heilsamer und hilfreicher Ort für die betreffenden Schüler. (…) Es sind Schüler, die wollen, aber nicht können. Schüler, die nicht ‚können‘, verfügen nicht über die notwendigen bio-psychosozialen Voraussetzungen für soziales Verhalten.“ (ebd., 77ff) Diese Exklusionsrhetorik zielt auf eine Mischung zwischen Pathologisierung, Etablierung von Ressentiments der Schichtzugehörig- VHN 3 | 2014 248 BIRGIT HERZ, SVEN HEUER Emotionale Gewalt als Disziplinartechnik TRE ND keit und einer Sozialtechnologie der gezielten Desintegration: „Genauso wie eine Gesellschaft ihren ‚kranken‘ Mitgliedern eine Krankenrolle anbietet, die mit besonderen Privilegien ausgestattet ist, sollten Schulen ihren ‚kranken‘ Schülern einen Sonderstatus geben.“ (ebd., 77ff). Das regelkonforme Verhalten von Kindern und Jugendlichen wird in einem trivialen Maschinenmodell erläutert - allerdings erfolgt zynisch konnotiert eine Abgrenzung von der Spezies Ratten: „Schüler haben im Gegensatz zu Ratten die Möglichkeit, sich ein Bild von sich selbst zu machen und mit diesem Selbstbild in die Zukunft zu denken.“ (ebd., 31) Das methodisch rekonstruierte Kontrollsystem wird von den Autoren positiv umgewandelt. Nur ein Beispiel für die oft eingesetzte Reframingtechnik aus dem NLP findet sich in der Rhetorik dieser Disziplinierungspädagogik wieder: Statt Strafe als Bestrafung zu benennen, bieten die Autoren alternative Begriffe an wie „Konsequenz“, „Preis“, „Wiedergutmachung“ (vgl. ebd., 66). Das Befolgen der Unterrichtsregeln wird in der Klasse/ Schule öffentlich dokumentiert; wem die Einhaltung der zahlreichen Unterrichtsregeln nicht gelingt, der wird vor der Klasse an den Pranger gestellt. Intendiert ist, die Kinder und Jugendlichen emotional zu erschüttern, allerdings ohne sie zu misshandeln (vgl. ebd., 67)! Fazit Das Bloßstellen und „lächerlich machen“ vor der Klasse wird zur Formel der „Missachtung von Anerkennung“ (Honneth 1994, 217). Lehrpersonen werden zu „Beschämungsspezialisten“ (Hafeneger 2013, 113), die die Machtdemonstrationen nicht als fachlichen Widerspruch erfahren, sondern vielmehr als legitimierte Professionsanteile in ritualisierten Handlungsketten des Programms wiederfinden. Scham ist eine zentrale emotionale Dimension von sozialer Angst, die in ganz besonderer Weise Konformität und Anpassung befördert (vgl. Wertenbruch/ Röttger-Rössler 2011). Solche Angstkaskaden der Degradierung beeinträchtigen jedoch nachweislich die Mentalisierungsfähigkeit bei Kindern, und das heißt auf Schule bezogen kognitives Lernen. „Scham belastet die Person und verunsichert sie, Scham isoliert: Sich schämen macht einsam, Scham ruiniert das Selbstbewusstsein, und andere können das sehen.“ (Neckel 1991, 17) Mitgefühl, als eine zentrale Voraussetzung für soziales Lernen, kann sich im Kontext dieses Verhaltenstrainings nicht entwickeln. Emotionales Lernen ist eine grundlegende Voraussetzung für kognitives Lernen. Im Programm von Grüner und Hilt wird das emotionale Lernen reduziert auf Unterdrückung eigener Emotionen, indem emotionale Gewalt ausgeübt wird. In der BRD haben seit dem Jahr 2000 Kinder und Jugendliche das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung - körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind verboten. Derart gestaltete „kränkende und herabsetzende Verhaltensweisen wie etwa das Bloßstellen eines Minderjährigen vor Dritten (Freunden, Schulklasse etc.) (…) [sind] als entwürdigende Maßnahmen oder gar seelische Verletzungen zu werten“ (Rzepka 2005, 381). Der Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck in schulischen und außerschulischen Institutionen von Bildung und Erziehung scheint eine der Ursachen zu sein, die verfassungsrechtliche Grundprinzipien temporär außer Kraft zu setzen und Beschämung als pädagogisches Prinzip zu kultivieren. Literatur Brumlik, M. (Hrsg.) (2007): Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb. Weinheim: Beltz Dollinger, B.; Schmidt-Semisch, H. (2011): Mit dem Hochdruckreiniger gegen soziales Elend? In: Dollinger, B.; Schmidt-Semisch, H. (Hrsg.): VHN 3 | 2014 249 BIRGIT HERZ, SVEN HEUER Emotionale Gewalt als Disziplinartechnik TRE ND Gerechte Ausgrenzung? Wohlfahrtproduktion und die neue Lust am Strafen. Wiesbaden: VS Verlag, 11 -24. http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ 978- 3-531-94083-0_1 Göppel, R. (2008): Grenzen der Erziehung - Erziehung an den Grenzen - Erziehung durch Grenzen. In: Reiser, H.; Dlugosch, A.; Willmann, M. (Hrsg.): Professionelle Kooperation bei Gefühls- und Verhaltensstörungen auf dem Prüfstand. Pädagogische Hilfen an den Grenzen der Erziehung. Hamburg: Kovac, 45 -66 Grummt, R.; Schruth, P.; Simon, T. (2010): Neue Fesseln der Jugendhilfe: Repressive Pädagogik. Historische Bezüge, rechtliche Grenzen und aktuelle Diskurse. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren Grüner, T.; Hilt, F. (2008): „Bei STOPP ist Schluss“. Werte und Regeln vermitteln. Lichtenau: AOL Hafeneger, B. (2013): Beschimpfen, bloßstellen, erniedrigen. Beschämung in der Pädagogik. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel Honneth, A. (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Neckel, G. (1991): Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt a. M.: Campus Rzepka, D. (2005): Anti-Aggressivitätstraining - Anmerkungen aus verfassungsrechtlicher Sicht. In: Behindertenpädagogik 44, 373 -384 Wertenbruch, M.; Röttger-Rössler, B. (2011): Emotionsethnologische Untersuchung zu Scham und Beschämung in der Schule. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 14, 241 -257. http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s11618-011-0209-0 Anschrift der Autoren Prof. Dr. Birgit Herz Sven Heuer Leibniz Universität Hannover Institut für Sonderpädagogik Lehrstuhl Pädagogik bei Verhaltensstörungen Schloßwender Straße 1 D-30159 Hannover birgit.herz@ifs.phil.uni-hannover.de
