Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2014.art22d
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Dialog: Kann man Reflexionsfähigkeit und Beziehungsgestaltung lernen?
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David Zimmermann
Michael Wininger
Lieber Herr Wininger, „Der Mensch wird am Du zum Ich“ - dieser Satz von Martin Buber gilt zweifelsohne nicht nur in der Sonderpädagogik. Dennoch, unter erschwerten Entwicklungsbedingungen ist das Erleben positiver, haltender Beziehungen in ganz existenzieller Weise Grundvoraussetzung für Lernen und emotionales Wachstum.
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250 VHN, 83. Jg., S. 250 -255 (2014) DOI 10.2378/ vhn2014.art22d © Ernst Reinhardt Verlag Kann man Reflexionsfähigkeit und Beziehungsgestaltung lernen? David Zimmermann Hannover Michael Wininger Wien DIALOG David Zimmermann an Michael Wininger 30. Januar 2014 Lieber Herr Wininger, „Der Mensch wird am Du zum Ich“ - dieser Satz von Martin Buber gilt zweifelsohne nicht nur in der Sonderpädagogik. Dennoch, unter erschwerten Entwicklungsbedingungen ist das Erleben positiver, haltender Beziehungen in ganz existenzieller Weise Grundvoraussetzung für Lernen und emotionales Wachstum. Damit ist ein Anspruch an Sonderpädagoginnen und -pädagogen formuliert, der nicht immer leicht einzulösen ist. Sie selbst haben in einem Beitrag im Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik geschrieben, es ginge in der Hochschulausbildung dieser Profession nicht zuletzt um ein „intensives Nachdenken über Beziehungsprozesse“. Auch für mich bildet die Fähigkeit zum Fallverstehen ein Kernmerkmal, manchmal gleichermaßen ein Alleinstellungsmerkmal sonderpädagogischer Professionalität. Die Kompetenz, lebensgeschichtliche Zusammenhänge beeinträchtigter Entwicklung zu entschlüsseln und diese Erkenntnisse in eine förderliche Beziehungsgestaltung zu überführen, scheint mir in heterogenen Gruppen noch an Bedeutung zu gewinnen. Damit sind wir beim Thema, über das ich mich gern mit Ihnen austauschen möchte. Vermutlich beschäftigt sich keine andere pädagogische Fachrichtung so intensiv mit kasuistischem Material wie die Psychoanalytische Pädagogik. Mit deren methodischem Repertoire kann es gelingen, bewusste und unbewusste Motive aller Beziehungspartnerinnen und -partner zu rekonstruieren. Demnach müsste es unser Ziel sein, fallorientierte Reflexion unter psychodynamischen Gesichtspunkten in allen Phasen der Ausbildung von Sonderpädagoginnen und -pädagogen zu etablieren. Meiner Erfahrung nach treffen derartige Seminarangebote zumindest bei einem Teil der Studierenden auf ein sehr großes Interesse. Vielfach erfahre ich im Feedback, dass etwa belastende Praktikumserfahrungen durch Szenisches Verstehen viel besser reflektiert und in die angehende professionelle Identität integriert werden konnten. Gleichermaßen bewegen wir uns in einem akademischen Umfeld, und dies gilt in besonderem Maß für die Lehrerbildung, in dem der Rahmen für intensives Nachdenken doch sehr eng gesetzt erscheint. In der Schulpädagogik nehmen curricular orientierte Trainings, nicht selten verhaltensmodifikatorisch orientiert, für sich in Anspruch, state of the art zu sein. Die Psychoanalyse und mit ihr die Psychoanalytische Pädagogik genießen ein randständiges Dasein. VHN 3 | 2014 251 DAVID ZIMMERMANN, MICHAEL WININGER Kann man Reflexionsfähigkeit und Beziehungsgestaltung lernen? DIALOG Dabei scheint mir das Verb „genießen“ allerdings nicht unpassend, denn in dieser Position mag manchmal auch ein Reiz liegen. An der Wiener Universität bildet die Psychoanalytische Pädagogik seit Langem einen eigenen Arbeitsbereich. Deshalb habe ich einige Fragen an Sie: Haben Sie ähnliche oder gänzlich andere Erfahrungen hinsichtlich der Bedeutung selbst- und fallreflexiver Prozesse in der Lehrerbildung? Welche Organisationsformen haben Sie gefunden, psychoanalytischpädagogisches Denken in der sonderpädagogischen Ausbildung zu verankern? Welche Rückmeldungen erhalten Sie von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Arbeitsbereichen? Mit herzlichen Grüßen David Zimmermann Michael Wininger an David Zimmermann 22. Februar 2014 Lieber Herr Zimmermann, ich freue mich sehr über Ihre Initiative zum gemeinsamen Austausch! Das Thema der Lehrer/ innenbildung ist auch in Österreich hoch aktuell, da diese derzeit neu gestaltet wird und bald in neuer Fassung in Kraft treten soll. Im Einklang mit den internationalen Entwicklungen sieht auch die Neustrukturierung der österreichischen Lehrer/ innenbildung vor, dass die Sonderschullehrer-Ausbildung aufgelöst und stattdessen die Vermittlung inklusiver Unterrichtskompetenzen in die Regelschul-Lehrämter aufgenommen werden soll. Die Neustrukturierung der Lehrer/ innenbildung bietet dem österreichischen Schulsystem eine historische Chance auf dem Weg in Richtung Inklusion - vorausgesetzt, die Reform besteht nicht bloß darin, sonderpädagogische Ausbildungsschienen abzuschaffen und durch halbherzige curriculare Lippenbekenntnisse zu inklusivem Unterricht zu ersetzen. Im Zentrum der Reformbemühungen muss also die Frage stehen, was angehende Lehrer/ innen wissen und können müssen, um Unterricht inklusiv gestalten zu können - respektive, wie dies vermittelt werden kann. Bekanntlich ist in den letzten Jahren viel zu diesem Thema geschrieben und - z. T. kontrovers - diskutiert worden. Ungeachtet aller Divergenzen scheint aber zumindest in einem Punkt weitgehend Einigkeit im Fachdiskurs zu bestehen: dass nämlich angehende Lehrer/ innen künftig umfassend mit Konzepten des Gemeinsamen Unterrichts vertraut gemacht werden müssen und Curricula folglich der Vermittlung inklusiver Didaktik - wie es Neudeutsch heißt - viel „Workload“ zuzumessen haben. Einer der wenigen kritischen Einwände stammt von Urs Haeberlin, der unlängst an dieser Stelle (Hofmann/ Haeberlin 2013) betonte, dass lange Ausbildungen keineswegs ein Garant dafür seien, dass sich Lehrkräfte in ihrer späteren Schulpraxis auch tatsächlich didaktisch kompetent und kreativ zeigen. Vielmehr legte er nahe, dass womöglich „das Engagement des Pädagogenteams in einer Schule …viel wichtiger für das Gelingen von Gemeinsamem Unterricht [sei]… als das in der Ausbildung vermittelte Wissen“ (ebd., 247). Dieses Engagement - so Haeberlin weiter - lasse sich aber nicht oder nur sehr schwer ausbilden. Ich stimme Urs Haeberlin in seiner Relativierung der didaktischen Kompetenzen weitgehend zu, würde aber den Begriff des „Engagements“ durch jenen der „Haltung“ ersetzen. Schließlich lässt sich persönliches Engagement in der Tat kaum im Rahmen von Ausbildungen fördern, während man - zumindest ein Stück weit - Einfluss auf die Ausbildung von pädagogischen Haltungen nehmen kann. Selbstverständlich benötigen Lehrer/ innen ausreichend Handwerkszeug, um Gemeinsamen Unterricht verwirklichen zu können. Ob dieses fruchtbar werden kann, hängt aber VHN 3 | 2014 252 DAVID ZIMMERMANN, MICHAEL WININGER Kann man Reflexionsfähigkeit und Beziehungsgestaltung lernen? DIALOG letztlich von der Haltung ab, in der sie pädagogische Beziehung wahrnehmen, erleben und gestalten. Unter einer förderlichen Haltung verstehe ich keineswegs jenes unter „Inklusionsbewegten“ weitverbreitete emphatisch-pathetische, pseudo-religiöse Bekenntnis zur Inklusion, das eine besonnene Auseinandersetzung mit kritischen Aspekten oft verunmöglicht. Etwa erinnere ich mich mit Unbehagen daran, als ich kürzlich am Rande einer Tagung versucht habe, mit einem namhaften Vertreter der Inklusionspädagogik über Bernd Ahrbecks interessantes Buch „Der Umgang mit Behinderung“ zu diskutieren und mir im Gestus der Entrüstung zu verstehen gegeben wurde, dass man als „Vorkämpfer der Inklusion derartig reaktionärem Unsinn keinerlei Aufmerksamkeit schenken“ dürfe. (Über die psychodynamische Bedeutung des Zusammenhangs von Pathos und Aggression im Feld der Inklusionspädagogik würde ich gerne mal an anderer Stelle mit Ihnen diskutieren.) Mit Haltung meine ich vielmehr eine besondere Art, sich selbst, andere und seine (pädagogischen) Beziehungen wahrzunehmen und zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Eine Haltung, die in einer besonderen Achtsamkeit bzw. Sensibilität gegenüber der Individualität und Subjektivität des menschlichen Seins Ausdruck findet. Uns beide, Herr Zimmermann, verbindet die Überzeugung, dass vor allem auch Psychoanalyse und Psychoanalytische Pädagogik in dieser Hinsicht viel beizutragen vermögen, weil sie den Blick auf die Individualität und die Komplexität menschlicher Entwicklungsprozesse und Bedürfnislagen lenken. Vor diesem Hintergrund beschäftigt uns deshalb seit Längerem die Frage, worin sich eine förderliche Haltung in pädagogischen Arbeitsfeldern konkret ausdrückt und wie der Erwerb von damit in Verbindung stehenden Kompetenzen im Rahmen von Aus- und Weiterbildung unterstützt werden kann. Es freut mich zu hören, dass auch Sie die fallbezogene Reflexionsfähigkeit mit ins Zentrum Ihrer universitären Lehrtätigkeit rücken und über positive Resonanz seitens Ihrer Studierenden berichten können. Ich würde sehr gerne mehr darüber erfahren, wie Sie in Ihren einschlägigen Seminarangeboten didaktisch vorgehen, und vor allem wäre ich auch sehr daran interessiert, wie Sie das Konzept der „Reflexionskompetenz“ zu diesem Zweck fassen. Wie ich meine, zeigt sich im neueren Fachdiskurs nämlich ein eigentümliches Bild: So wird die Reflexionskompetenz im Bereich der pädagogischen Professionalisierungsdebatte in jüngerer Zeit fast gebetsmühlenartig eingemahnt, während aber oft sehr unspezifisch bleibt, was konkret darunter zu verstehen ist. Man könnte zugespitzt sagen, dass Reflexionsfähigkeit zu einer Art „heiliger Kuh“ geworden ist, die zugleich „overblamed and understudied“ ist. Vor allem ist bislang weitgehend unerforscht, ob bzw. in welcher Weise Aus- und Weiterbildungsangebote in psychosozialen Arbeitsfeldern tatsächlich zu einem ausmachbaren Anstieg der Reflexionsfähigkeit beitragen. Dies hängt wohl nicht zuletzt auch damit zusammen, dass sich unscharfe Konzepte von Reflexionsfähigkeit nur schwer für Evaluationsstudien operationalisieren lassen und bisherige forschungsmethodische Ansätze dazu unbefriedigend geblieben sind. Vielversprechend finde ich in dieser Hinsicht die Auseinandersetzung mit den mittlerweile umfangreichen Erträgen der Mentalisierungsforschung, die bislang noch kaum im Bereich des pädagogischen Professionalisierungsdiskurses rezipiert wurden. Über die Beschäftigung mit dem Mentalisierungskonzept könnte es m. E. möglich werden, der Schimäre „Reflexionsfähigkeit“ deutlich mehr Kontur zu verleihen und wichtige Aufschlüsse zu deren Förderung zu generieren. Zudem liegen im Bereich der Mentalisierungsforschung Ansätze zur Operationalisierung von Reflexionsfähig- VHN 3 | 2014 253 DAVID ZIMMERMANN, MICHAEL WININGER Kann man Reflexionsfähigkeit und Beziehungsgestaltung lernen? DIALOG keit vor, die sich für pädagogische Felder adaptieren lassen. Wie Sie wissen, beschäftige ich mich derzeit intensiv mit diesen Fragen und wäre daher sehr daran interessiert, mehr von Ihren Erfahrungen und hochschuldidaktischen Ansätzen zu erfahren. In Vorfreude darauf verbleibt mit den besten Grüßen Michael Wininger David Zimmermann an Michael Wininger 3. März 2014 Lieber Herr Wininger, herzlichen Dank für Ihre Antwort und die vielfältigen Anregungen zum Thema. Von den zahlreichen möglichen Anknüpfungspunkten kann ich an dieser Stelle nur einige wenige auswählen. Zunächst: Auch ich halte wenig von der didaktischen Überfrachtung der (Sonder-)Pädagogik. Zwar bin ich ein Verfechter einer auch zeitlich nicht zu knapp gefassten Ausbildung. Diese muss jedoch primär der menschlichen Reifung von angehenden Lehrerinnen und Lehrern, der intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen des Fachs und nicht zuletzt der von Ihnen thematisierten vertieften Reflexionsfähigkeit dienen. Möglicherweise theoretisch verkürzt verstehe ich Letztere als die Kompetenz, die aktuelle Interaktion kognitiv wie emotional in ihrer lebensgeschichtlichen Bedingtheit zu erfassen, mit dem Ziel, sie in einen Fördernden Dialog zu überführen. Pädagogische Reflexionsprozesse beschreibe ich in meinen Lehrveranstaltungen deshalb oft in einem Vier-Ebenen-Modell: Wissen um lebensgeschichtliche Belastungen der Lernenden - Rekonstruktion subjektiver Sinnzusammenhänge, oft mithilfe der Perspektivübernahme durch die Fachpersonen - Introspektion, demnach Wahrnehmung und Symbolisierung von Gegenübertragungsgefühlen. Die Ableitung von individuell angepassten Interaktionsangeboten bildet die vierte Ebene und baut auf der Analyse aller drei vorhergehenden Informationssätze auf. Die damit verbundene und von Ihnen bereits skizzierte Haltung sehe ich primär in einer Verinnerlichung der Leitidee des „Guten Grunds“. Dieser folgend ist jedes Verhalten, auch das scheinbar behinderte, im Sinne der inneren Welt des Gegenübers zunächst einmal sinnvoll. Das damit skizzierte Reflexions- und Verstehensmodell ließe sich nun an vielen Stellen erweitern, etwa um das Nachdenken über eigene lebensgeschichtliche Belastungen sowie über institutionelle Aspekte der aktuellen Interaktion. Der von mir favorisierte Ansatz erlaubt es aber pädagogisch-praktisch, komplexe, damit auch emotional fordernde Fallverstehensprozesse in einem vierteiligen Fenster festzuhalten und somit als Grundlage von Förderprozessen zu etablieren. Eine solche Simplifizierung psychoanalytisch-pädagogischen Verstehens, die ganz sicher auf Kritik treffen wird, erleichtert nach meiner Erfahrung die Etablierung von derartigen Konzepten in der Schule und der Jugendhilfe. In einem aktuellen Forschungsprojekt unter meiner Leitung werden wir die Effekte trauma- und damit fallorientierter Fortbildung auf die subjektive Handlungsfähigkeit von Lehrkräften erheben. Vielleicht können wir so zumindest partiell der Forschung zum Thema Reflexionsfähigkeit Schwung geben. Abschließend einige Worte zur Forschungs- und Studiensituation in Hannover: Im kollegialen Miteinander treffe ich hier, speziell mit meiner Kollegin Birgit Herz, auf ein der psychoanalytischen Pädagogik durchaus zugewandtes Umfeld. Im Lehrangebot verankern wir psychoanalytisch-pädagogisches Denken vor allem im Mastermodul „Diagnostik“. Wir werden dieses künftig so ausgestalten, dass alle zum Modul gehörenden Lehrveranstaltungen auf theoretisches Wissen und fallbezogene Reflexion von Beziehungsprozessen fokussieren. Im Rahmen einer Einführungssowie VHN 3 | 2014 254 DAVID ZIMMERMANN, MICHAEL WININGER Kann man Reflexionsfähigkeit und Beziehungsgestaltung lernen? DIALOG einer Vertiefungsveranstaltung setzen sich die Teilnehmenden intensiv mit psychodynamischem Fallverstehen als diagnostischem Instrument auseinander. Die gewonnenen Kenntnisse wenden die Studierenden im Kontext ihres Förderdiagnostischen Praktikums an. Den Abschluss des Moduls bildet eine Lehrveranstaltung, in der sich die Studierenden sowohl mit ihrer Beziehungserfahrung im Praktikum als auch mit der Anwendbarkeit der spezifischen diagnostischen Möglichkeiten auseinandersetzen. Die gewonnene Reflexionsfähigkeit belegen sie entsprechend in ihrem Praktikumsbericht. Im Hinblick auf das Interesse der Studierenden bin ich, wie eingangs erwähnt, sehr positiv gestimmt. Allerdings beschäftigt mich die Schwierigkeit des Transfers beziehungsorientierten Verstehens ins Referendariat. Hier scheint mir eine wesentliche Herausforderung für die Entwicklung einer am Menschen orientierten Lehrerausbildung zu liegen. Ganz herzliche Grüße David Zimmermann Michael Wininger an David Zimmermann 19. März 2014 Lieber Herr Zimmermann, vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort und die aufschlussreichen Einblicke in Ihre didaktischen Überlegungen! Das von Ihnen erwähnte Konzept des „Guten Grundes“ werde ich gerne aufgreifen und noch stärker in meine eigene Lehrtätigkeit einbeziehen. Es ist ermutigend zu hören, dass Sie Reflexionsfähigkeit ähnlich fassen und auf ähnlichen Ebenen zu fördern versuchen. Zugleich machen Ihre Ausführungen deutlich, wie komplex diese Aufgabe ist. Sie setzt eine enge Verschränkung voraus zwischen (1.) der Vermittlung von Theorie, (2.) der Förderung der Fähigkeit, konkrete Fallprobleme differenziert wahrzunehmen, zu beschreiben und - mit Bezug zu wissenschaftlichen Theorien und Ergebnissen - zu analysieren; und davon ausgehend (3.) konkrete Überlegungen für das eigene pädagogische Handeln abzuleiten. Auch wenn diese Aufgabenstellung lustvoll ist, erweist sie sich in der Lehre doch immer wieder als schwierig und hoch anspruchsvoll. Sie benötigt vor allem viel Zeit und setzt die Möglichkeit voraus, dass Studierende eigene pädagogische Arbeit in Kleingruppensettings mit Expert/ innen methodengeleitet reflektieren und sich dazu flankierend für eigene Persönlichkeitsanteile in Einzel- und Gruppensettings sensibilisieren können. Zuletzt haben wir dies in dem neu eingerichteten Universitätslehrgang „Integration von Kindern und Jugendlichen mit emotionalen und sozialen Problemen im Kontext von Schule“ zu realisieren versucht. Dieser 6-semestrige Lehrgang wurde in Kooperation zwischen der Universität Wien, der PH Wien und der KPH Wien konzipiert und zwischen 2010 und 2013 erstmals mit Erfolg durchgeführt. Im Herbst 2014 soll ein nächster Durchlauf starten. Die Erfahrungen aus diesem Lehrgang unterstreichen aufs Neue, dass qualitativ hochwertige Ausbildungen mit zeitlichem und personellem Aufwand verbunden sind und damit Kosten verursachen. Wiederholt mussten wir aber die Erfahrung machen, dass es in Zeiten, wo Milliarden für Bankrettungen aufgewendet werden, kaum möglich ist, öffentliche Gelder im Gegenwert eines Kleinwagens für einschlägige Lehrgänge zu lukrieren. Oft drängt sich sogar der Eindruck auf, dass politische Verantwortungsträger die Inklusionsbestrebungen in perfider Weise zu nutzen versuchen, um unter dem Deckmantel der Inklusion teure sonderpädagogische Ausbildungen und Einrichtungen einzusparen und durch kostengünstige „Light-Ausbildungen“ zu ersetzen. Auch im Rahmen der Neustrukturierung der österrei- VHN 3 | 2014 255 DAVID ZIMMERMANN, MICHAEL WININGER Kann man Reflexionsfähigkeit und Beziehungsgestaltung lernen? DIALOG chischen Lehrer/ innenbildung wird immer wieder die Erwartung laut, dass angehende Lehrer/ innen das nötige „inklusionspädagogische Handwerkszeug“ - inklusive der nötigen Reflexionskompetenz - in einer oder höchstens zwei Großvorlesungen vermittelt bekommen sollten. Dass dies aller Erfahrung widerspricht und einem deutlichen Rückfall hinter das derzeitige System gleichkommen würde, scheint nicht zu interessieren - Hauptsache, die Neugestaltung der Curricula bleibt „kostenneutral“. Es fällt manchmal schwer, unter diesen Voraussetzungen nicht mutlos zu werden. Dennoch oder gerade deshalb scheint mir der Austausch über Forschungsergebnisse und bestärkende Praxiserfahrungen aus dem Bereich der Aus- und Weiterbildung von großer Bedeutung zu sein. Für den bisherigen Austausch dankend und auf weiteren hoffend verbleibt insofern mit den besten Grüßen Ihr - heute etwas pessimistisch gestimmter - Michael Wininger Literatur Hofmann, C.; Haeberlin, U. (2013): Lehrerausbildung und Inklusion. Zwischen Hoffnung und AngstvorEnttäuschung.In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82, 246 -250 Anschriften der Autoren Jun.-Prof. Dr. David Zimmermann Institut für Sonderpädagogik Leibniz Universität Hannover Schloßwender Str. 1 D-30159 Hannover Tel.: +49 (0)5 11 7 621 73 78 E-Mail: david.zimmermann@ ifs.phil.uni-hannover.de Dr. Michael Wininger Institut für Bildungswissenschaft Universität Wien Sensengasse 3 a A-1090 Wien Tel.: +43 (0)1 42 77 4 68 16 E-Mail: michael.wininger@univie.ac.at
