eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2014.art30d
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2014
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Trend: „Wie aus der Hirnforschung bekannt ist“

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Roland Reichenbach
Pädagogik und Sonderpädagogik sind auf Theorieimport angewiesen. Momentan steht in diesem Zusammenhang die Hirnforschung hoch im Kurs. Das Hirn hat einen guten Ruf. Wie das Kind. Kinderhirne verstehen daher auch. Komisch, dass nun einzelne Hirnforscher schon jetzt alles über das Lernen, die Pädagogik und die Verbesserung des Schul- und Bildungssystems wissen. Nur manche, zum Beispiel Manfred Spitzer. Noch komischer, wie die pädagogische Gemeinde bereit ist, jeden Sein-Sollen-Fehlschluss zu akzeptieren, wenn er nur irgendwie passt. Da können einschlägige Lernforscherinnen noch lange dagegen reden. So schreibt Elsbeth Stern: „Die Hirnforschung ist (…) nicht die Grundlagenwissenschaft der Lernforschung, weil wir bisher keine auch nur im Ansatz zufriedenstellende Vorstellung davon haben, wie sich geistige Zustände, also Gedanken, Emotionen, Empfindungen und dergleichen im Gehirn abbilden.“ (Stern 2010, 1)
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331 VHN, 83. Jg., S. 331 -334 (2014) DOI 10.2378/ vhn2014.art30d © Ernst Reinhardt Verlag „Wie aus der Hirnforschung bekannt ist…“ Zur pädagogischen Metaphysik eines Organs, ohne das es einfach auch nicht geht Roland Reichenbach Universität Zürich TRE ND Pädagogik und Sonderpädagogik sind auf Theorieimport angewiesen. Momentan steht in diesem Zusammenhang die Hirnforschung hoch im Kurs. Das Hirn hat einen guten Ruf. Wie das Kind. Kinderhirne verstehen daher auch. Komisch, dass nun einzelne Hirnforscher schon jetzt alles über das Lernen, die Pädagogik und die Verbesserung des Schul- und Bildungssystems wissen. Nur manche, zum Beispiel Manfred Spitzer. Noch komischer, wie die pädagogische Gemeinde bereit ist, jeden Sein-Sollen-Fehlschluss zu akzeptieren, wenn er nur irgendwie passt. Da können einschlägige Lernforscherinnen noch lange dagegen reden. So schreibt Elsbeth Stern: „Die Hirnforschung ist (…) nicht die Grundlagenwissenschaft der Lernforschung, weil wir bisher keine auch nur im Ansatz zufriedenstellende Vorstellung davon haben, wie sich geistige Zustände, also Gedanken, Emotionen, Empfindungen und dergleichen im Gehirn abbilden.“ (Stern 2010, 1) Aber man muss ja buchstäblich nichts über Hirnforschung wissen, um behaupten zu können, dass dieses oder jenes aus der Hirnforschung „bekannt“ sei und dieses und jenes daraus für die pädagogische Praxis folge. Solche rhetorischen Strategien haben freilich eine lange Tradition. Ein schönes Beispiel, heute zum Glück nicht mehr aktuell, ist die sogenannte „Chaostheorie“ gewesen. Man mag sich erinnern. Selbst kritische Geister sind - aus Gründen, über die man nur spekulieren kann - von diesem „Forschungszweig“ plötzlich so angetan gewesen und glaubten darin ein ganz neues Paradigma zu erkennen. Aus dem Dunstkreis dieses Theoriezweiges ist vor allem der sogenannte Schmetterlings-Effekt getreten. Die Quintessenz bzw. zentrale Behauptung dieses „Effektes“ ist schnell erzählt: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Afrika kann auf einem anderen Kontinent einen Wirbelsturm auslösen. Mit anderen Worten: kleine Auslöser - große, unvorhergesehene Auswirkungen. Eine dumme Meinungsverschiedenheit in der Vorstandssitzung und zwei Jahre später steht der Konzern vor dem Ruin; ein paar Programmierungsfehler und die Columbia stürzt ab; ein kleiner Wartungsfehler und die Challenger explodiert; ein falsches Wort und drei Monate später wird die Ehe geschieden. Einige Jahre lang konnte man beinahe zu jedem Thema - betreffe es die Schulpädagogik, die Betriebswirtschaftslehre, die Laienseelsorge - eine chaostheoretische „Erklärung“ oder wenigstens einen chaostheoretischen Hinweis bekommen: „Wie Sie wissen, kann ein Flügelschlag eines Schmetterlings auf einem anderen Kontinent einen Tornado auslösen, so ist es auch in unserem Feld…“ Wie wir wissen? Tatsächlich handelte es sich beim Schmetterlingseffekt um eine Computersimulation zur Wettervorhersage (des Meteorologen Edward N. Lorenz im Jahre 1963), bei welcher eine minimale Abweichung eines Wertes (Abrundung der vierten Dezimalstelle hinter dem VHN 4 | 2014 332 ROLAND REICHENBACH Zur pädagogischen Metaphysik des Gehirns TRE ND Komma: vergleichbar mit dem „Windhauch des Flügelschlags eines Schmetterlings“) zu einem ganz anderen, einem „chaotischen“ (Simulations-)Ergebnis (nämlich zu Wirbelstürmen) geführt hat. Dass kleine Veränderungen oder Ereignisse in manchen Systemen große Auswirkungen haben können, möchte man kaum bestreiten. Interessant ist nun vielmehr die in der Alltagsbzw. Laienrezeption der Chaostheorie und dem Schmetterlingseffekt, der ja mit der Wirklichkeit des Wetters so gut wie nichts zu tun hat (vgl. Lorenz 1963), zum Vorschein tretende metaphysische Wendung. Nach all den Jahren der Fragmentiertheit, Zerstückelung und Atomisierung konnte endlich wieder - Gott sei Dank! - gezeigt werden, dass „alles mit allem irgendwie zusammenhängt“. Die Welt ist gar nicht zerstückelt, sondern hat eine innere Ordnung, und was chaotisch erscheint, ist in Wirklichkeit Ausdruck dieser Ordnung - scheinbar sehnen wir uns immer noch nach der platonischen Metaphysik eines geordneten Kosmos. Und so gibt es denn auch kaum schönere und harmonischere Abbildungen und Bilder als just in den Büchern zur Chaostheorie (vgl. z. B. Gleick 1988). Von ähnlichen Hoffnungen scheint die pädagogische Metaphysik des Hirns getragen zu sein: auch hier gibt es viele schöne Bilder. Das Hirn leuchtet offenbar, wenn es lernt. Und es will ja nur eines: Lernen! Und das sollten wir Pädagogen endlich zur Kenntnis nehmen. Ja, das Gehirn hat nämlich von Natur aus nur eines im Kopf: Lernen! Dass das Gehirn etwas „im Kopf “ habe, diese Rede muss erlaubt sein, denn bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass das Gehirn denkt, nicht etwa der Mensch oder die Person; zwar möchte man zunächst meinen, der Mensch denke mithilfe seines Gehirns, doch nein, es ist anders, das Gehirn denkt anstelle der Person! Aus der kleinen Gruppe der Hirnleute, die alles über Pädagogik wissen, stammen kuriose Formulierungen. So schreibt Spitzer in einem Artikel mit dem Titel „Neurobiologische Erkenntnisse für die pädagogische Praxis“ (2010): „Lernen findet immer statt, wenn im Gehirn Prozesse des Erlebens, Fühlens, Denkens, Entscheidens und Handelns ablaufen. Daraus folgt, dass das Gehirn nicht zwischen Erziehung und Bildung unterscheidet - genauso wenig wie die Engländer…“ (Spitzer 2010, 65). Interessant sind schon die impliziten Vorstellungen von Lernen, welches „immer stattfindet“, wenn „im Gehirn Prozesse (…) ablaufen“. Wir haben hier ein Beispiel für die heutzutage weitverbreitete Transformation des „Tuns“ in ein „Geschehen“ vor uns, das akteurlose Lernen im Gehirn (etwa des Schülers). Hier wird der Täter „eliminiert“ (Koch 2002), das Tun zur Wirkung des Gehirns „verdinglicht“ (ebd.). Dass schulisches Lernen, pädagogisch betrachtet, aber wesentlich mit Anstrengung und Bemühung, mit Ringen um Aufmerksamkeit und Verständnis, mit Denken, Nachdenken und Überdenken, mit Üben und Wiederholen, Nachfragen und Suchen zu tun hat (vgl. Koch 2002, 85), entgeht der naturalistischen Hirnperspektive naturgemäß. Darüber hinaus entzieht sich dieser Perspektive auch die „Logik des Lernens“, wonach es beim schulischen Lehren und Lernen um Kriterien der Wahrheit, der Deutlichkeit und der Anschlussfähigkeit geht, um seinen kommunikativen Charakter (vgl. Koch 1991; 2002), in welchem Rede, Frage und Antwort, ebenso das Gespräch die zentrale Stellung einnehmen. Der Spitzersche Befund, wonach das Gehirn „nicht zwischen Erziehung und Bildung unterscheidet - genauso wenig wie die Engländer“, führt zu interessanten Nachfragen 1 . Offenbar besteht eine gewisse Affinität zwischen dem Gehirn und den Engländern, die anderen Nationen verwehrt bleibt. Das deutsche Gehirn unterscheidet - man weiß mit Spitzer jetzt: fälschlicherweise - immer noch zwischen Erziehung und Bildung. Warum es das macht? Wir wissen es nicht. Doch Spitzer ist ja gar kein Engländer, sondern selber Deutscher, und trotzdem ist er darauf gekommen, dass diese Unterscheidung nicht sinnvoll sei! Genauer: nicht Spitzer, sondern sein Gehirn ist darauf gekommen. VHN 4 | 2014 333 ROLAND REICHENBACH Zur pädagogischen Metaphysik des Gehirns TRE ND Natürlich darf jeder daherreden, wie er will - it’s a free society. Aber wer Pädagogik und Sonderpädagogik nicht nur als Praxis versteht, sondern sich auch auf relevante wissenschaftliche Erkenntnisse und Fragestellungen bezieht, der dürfte ein wenig vorsichtiger sein. Einschlägig besser Vertraute wissen von der Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit, die pädagogisch-praktischen Dimensionen und die (sozial-)wissenschaftlich-empirischen zu überzeugenden Modellen oder Theorien zu integrieren. Es bleibt strittig, wie und ob Natur und Kultur zusammenhängen, wie Erziehung zu definieren ist, welches das Ziel der Bildung sein soll und kann und ob dem Begriff der Person noch eine zentrale Rolle zukommt oder nicht. Insbesondere liegen heute radikale Formen des Naturalismus und des Kulturalismus im Widerstreit, weil entweder von einem deterministischen Verständnis menschlichen Verhaltens (welches im strikten Sinn ja gar kein Handeln ist) ausgegangen wird oder aber ein Verständnis von Person und Handlungssubjekt präferiert wird, von welchen nicht klar ist, welches ihre bzw. seine Ermöglichungsbedingungen und Genesis sind. Mit der zeitgenössischen Hirnfixierung („Die Hirnforschung hat gezeigt, dass …“) hat sich in gewisser Weise eine radikale Form des Naturalismus durchgesetzt, derzufolge das intentionale Subjekt, der freie Wille (vernünftige Selbstbestimmung) und die Möglichkeit der Transzendenz bloßer Natur (Bedürftigkeit) reine Chimären sind. Nun ist das all den Menschen, die sich mit guten Intentionen als Hirnforschungsunkundige oder -laien auf die scheinbar allseits bekannten Erkenntnisse dieses Forschungszweiges beziehen, fast ganz sicher nicht bewusst. Nur, wer so redet, muss letztlich auch bereit sein, nicht auf Personen, sondern auf Hirne zu setzen (die ironischerweise allerdings denken und entscheiden, als ob sie Personen wären…). In diesem Diskurs sind Menschen weniger ein „Jemand“ als vielmehr nur noch ein „Etwas“ (v. a. Neuronen und Synapsen). Doch als „self-interpreting animals“ (Taylor 1985) bzw. „selbstdeutende Wesen“ (Fink 1970) sind bestimmte Arten des Denkens und Deutens für Menschen mitunter bedeutsamer als (scheinbare) wissenschaftliche Erkenntnisse. So kann z. B. die Liebe als romantisches Gefühl, als hormonelle Störung, als List der Natur (zur Aufrechterhaltung der Gattung) bzw. als soziobiologisch analysierbare Funktion zur Sicherung egoistischer Gene u. a. interpretiert werden. Im Leben der Einzelnen ist es aber von Bedeutung, welche Interpretationen z. B. der Partnerschaft zugrunde liegen. Wäre ich mit einer Soziobiologin liiert, so möchte ich doch lieber, dass sie die Grundlage unserer Beziehung in dem affektiven Band zwischen uns als einzigartige Personen sieht und nicht in den Genen, die mir in diesem Zusammenhang doch suspekt vorkommen - auch wenn sie altruistisch wären -, wiewohl ihre Erklärungskraft durchschlagend sein könnte. Die romantische Liebe mag eine Illusion und gravierende Wahrnehmungsstörung sein, aber konstitutiv für eine sinnvolle Beziehung bleibt sie bis heute. Nun gibt es in demokratischen Lebensformen keine Deutungshoheit, kein letztes Argument, keinen letzten Konsens, sondern eine relative Autonomie der Deutungs- und Rationalitätsformen. Bisher konnte Hirnforschung allenfalls bestätigen, was pädagogisch schon lange bekannt ist, mehr nicht. Das ist der Stand. Das mag sich ändern. Noch ist es nicht so weit. Vielleicht wird sie pädagogisch das gleiche Schicksal erleiden wie die Chaostheorie. Das wäre nicht schlimm. Historisch betrachtet spielten sich als „Grundlagenwissenschaft“ der Pädagogik bisher u. a. die Philosophie, die Theologie, die Psychologie, die Soziologie und nun die Neurowissenschaften auf. Doch der Diskurs über Lernen, Erziehung und Bildung ist gut 2500 Jahre älter als die Hirnforschung. Sie muss also noch einiges bewerkstelligen, um sich in diesem Diskurs dauerhaft zu beweisen. VHN 4 | 2014 334 ROLAND REICHENBACH Zur pädagogischen Metaphysik des Gehirns TRE ND Anmerkung 1 Dieser Abschnitt ist Reichenbach (2014) entnommen. Literatur Fink, E. (1970): Erziehungswissenschaft und Lebenslehre. Freiburg i. Br.: Rombach Gleick, J. (1988): Chaos: die Ordnung des Universums. Vorstoß in Grenzbereiche der modernen Physik. München: Knaur Lorenz, E. N. (1963): Deterministic nonperiodic flow. In: Journal of the Atmospheric Sciences 20, 130 -141. http: / / dx.doi.org/ 10.1175/ 1520-0 469(1963)020%3C0130: DNF%3E2.0.CO; 2 Koch, L. (1991): Logik des Lernens. Weinheim: Deutscher Studien Verlag Koch, L. (2002): Schule ist zum Lernen da. In: Heitger, M. (Hrsg.): Wozu Schule? Innsbruck: Tyrolia, 9 -21 Reichenbach, R. (2014): Schulkritik. Eine „metaphorologische“ Betrachtung. In: Fatke, R.; Oelkers, J. (Hrsg.): Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft: Geschichte und Gegenwart. Weinheim: Beltz. Zeitschrift für Pädagogik, 60. Beiheft, 226 -240. Online unter: http: / / www.pedocs.de/ volltexte/ 2014/ 9096/ pdf/ Rei chenbach_2014_Schulkritik.pdf, 16. 6. 2014 Spitzer, M. (2010): Neurobiologische Erkenntnisse für die pädagogische Praxis. In: Jugendhilfe 48(2), 65 -71 Stern, E. (2010): „Das bringt der Schule nichts.“ Interview in: Forum Schule. Das Magazin für Lehrerinnen und Lehrer in Nordrhein-Westfalen. 10. September 2010. Online unter: http: / / part ner-fuer-schule.nrw.de/ forum-schule/ titel/ detail/ das-bringt-der-schule-nichts/ 54748ae6 366bcdd550af350355a62eaa.html, 16. 6. 2014 Taylor, C. (1985): Self-interpreting animals. In: Taylor, C.: Philosophical papers, Vol. I: Human agency and language. Cambridge: Cambridge University Press, 45 -76 Anschrift des Verfassers Prof. Dr. Roland Reichenbach Universität Zürich Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft Freiestrasse 36 CH-8032 Zürich roland.reichenbach@ife.uzh.ch Tel.: +41 (0) 44 6 34 25 92