Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2014.art31d
101
2014
834
Dialog: Das Verhältnis von Theorie und Empirie in der Heil- und Sonderpädagogik
101
2014
Franziska Felder
Markus Dederich
Lieber Herr Dederich, als Forscherin besucht man ja immer wieder wissenschaftliche Vorträge, sei es an der eigenen Universität oder an Kongressen und Tagungen anderer Universitäten. In letzter Zeit konnte ich mich bei solchen Veranstaltungen des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Grossteil der aufgeworfenen Forschungsfragen nicht mehr pädagogischer, sondern letztlich psychologischer Natur ist und mit psychologischen Methoden bearbeitet wird.
5_083_2014_4_0008
335 VHN, 83. Jg., S. 335 -337 (2014) DOI 10.2378/ vhn2014.art31d © Ernst Reinhardt Verlag Das Verhältnis von Theorie und Empirie in der Heil- und Sonderpädagogik Franziska Felder Universität Zürich Markus Dederich Universität zu Köln DIALOG Franziska Felder an Markus Dederich Lieber Herr Dederich, als Forscherin besucht man ja immer wieder wissenschaftliche Vorträge, sei es an der eigenen Universität oder an Kongressen und Tagungen anderer Universitäten. In letzter Zeit konnte ich mich bei solchen Veranstaltungen des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Grossteil der aufgeworfenen Forschungsfragen nicht mehr pädagogischer, sondern letztlich psychologischer Natur ist und mit psychologischen Methoden bearbeitet wird. Die pädagogische Relevanz dieser empirischen Forschung wird meiner Wahrnehmung nach häufig vernachlässigt. In vielen Fällen sind weder die Fragestellungen pädagogisch noch wird die Bedeutung für die Pädagogik - auf Disziplin-, Professions- oder Praxisebene - beachtet. Selten werden beispielsweise die Ergebnisse empirischer Studien auf ihre tiefere Relevanz für die Pädagogik hin befragt. Meist bleibt die Bedeutung lose, wird ad hoc geliefert. Sie ist dann zwar einem Alltagsverständnis nach unbestritten, ist aber problematisch, wenn man den Anspruch hat, auch in theoretischer Hinsicht wissenschaftlich zu arbeiten und sich vor allem auf die eigene Disziplin zu beziehen. In der Heil- und Sonderpädagogik soll man Theorien, Methoden und Befunde aus anderen Disziplinen in der eigenen Disziplin prüfen und gegebenenfalls anpassen, statt sie mehr oder minder unbedacht zu importieren. Aber natürlich kann man sich darüber streiten, ob das eine Gefahr für die Wissenschaftlichkeit der Sonderpädagogik ist. Sehen Sie die Entwicklung auch so wie ich? Und falls ja, wie beurteilen Sie das Ganze? Es grüsst herzlich aus Zürich Franziska Felder Markus Dederich an Franziska Felder Liebe Frau Felder, ich sehe eine ähnliche Entwicklung wie Sie und beobachte sie mit einer nicht unerheblichen Skepsis. Ich möchte dazu einige Thesen formulieren: In den vergangenen Jahren ist aufgrund von Veränderungen der Universitäten insgesamt ein zunehmender Profilierungsdruck entstan- VHN 4 | 2014 336 FRANZISKA FELDER, MARKUS DEDERICH Das Verhältnis von Theorie und Empirie DIALOG den (Stichworte: Erhöhung der ‚Visibilität‘, Internationalisierung, Bewertung der Forschungsleistung einzelner Wissenschaftler v. a. anhand der Höhe der eingeworbenen Drittmittel und messbarer Effekte von Publikationen), der das Fach zwingt, mehr zu forschen und anders zu publizieren. Wegen der Nähe der beiden Fächer und weil zahlreiche Psychologen sonderpädagogische Professuren innehaben, wird die Entwicklung in der Heil- und Sonderpädagogik stark durch bereits etablierte Standards der Psychologie beeinflusst. Auch aufgrund dieses Einflusses setzt sich bei uns im Fach die Vorstellung fest, nur im weiteren Sinn verstandene empirische Forschung, die mit quantitativen und qualitativen Methoden arbeitet, sei Forschung im eigentlichen Sinn. Daran scheint gelegentlich auch die Auffassung gekoppelt zu sein, dass Theoriebildung in der Forschung eine eher marginale Funktion hat. Aus dieser Entwicklung erwachsen tatsächlich erhebliche Probleme: Eine Zurückdrängung oder Vernachlässigung der pädagogischen Perspektive; eine Reduzierung auf Fragestellungen, die methodisch kontrolliert werden können (statt zu fragen: was ist eigentlich pädagogisch bedeutsam - was allerdings wieder eine gute Theorie voraussetzt); die Produktion großer Datenmengen, deren Relevanz für die Klärung pädagogisch dringlicher Probleme fraglich ist. Parallel dazu ist eine weitgehende grundlagentheoretische Abstinenz des Fachs zu konstatieren, die sich auf Dauer negativ auswirken wird - der Verzicht auf theoriegeleitete und theoriegenerierende Reflexion wird auf die Dauer zu einer Aushöhlung und Entkernung des Fachs führen. Viele Grüße aus Köln Markus Dederich Franziska Felder an Markus Dederich Lieber Herr Dederich, ich sehe ähnliche Probleme wie Sie und möchte insbesondere den letztgenannten Punkten nachgehen. Als ausgesprochen beunruhigend erachte ich nicht nur das sorglose Importieren von Theorien und Modellen anderer Disziplinen, sondern - und schlimmer - die zunehmende Theorielosigkeit in der wissenschaftlichen (Heil- und Sonder-)Pädagogik. Aber worum geht es bei Theorie? Es geht ja nicht um Begriffsklauberei um der Begriffsklauberei willen. Im Gegenteil: Theoretische Forschung in der Heil- und Sonderpädagogik sollte ihre Gegenstände letztlich immer an einer existierenden sozialen Praxis aufzeigen können. Der (Forschungs-)Drang, etwas wissen zu wollen, ergibt sich ja gerade aus den Schwierigkeiten, Paradoxien, Problemen der sozialen Praxis. Insofern verweist die Praxis auf die Disziplin (und die Profession, aber darum geht es hier nicht) und umgekehrt. Das von Ihnen geschilderte Problem ist nun ja nicht dergestalt, dass in der sonderpädagogischen Forschung kein Bezug zu einer sozialen Praxis sichtbar wäre. Aber es ist oftmals nur eine Anschlussfähigkeit an unser Alltagswissen und unsere Intuitionen. Und das genügt nicht für Forschung. An der ganzen Problematik finde ich insbesondere zwei Punkte bedenkenswert. Erstens ist bei solch weitgehend theorieloser Forschung die Schlüssigkeit von Argumentationen und Interpretationen fragwürdig. Gegenstände können weder sinnvoll beschrieben, verstanden noch zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zweitens ist auch die Frage zu stellen, ob mit solcher Forschung, abgesehen von einer gewissen Alltagsplausibilität, etwas über die soziale VHN 4 | 2014 337 FRANZISKA FELDER, MARKUS DEDERICH Das Verhältnis von Theorie und Empirie DIALOG Praxis ausgesagt werden kann. Letztlich macht sich eine solche Disziplin auch für die Praxis überflüssig, weil sie keine der dringend benötigten Antworten auf eine hochkomplexe soziale Lebenswelt liefern kann. Herzliche Grüsse aus Zürich Franziska Felder Markus Dederich an Franziska Felder Liebe Frau Felder, ich kann Ihnen nur beipflichten und nochmal unterstreichen, dass Theorie nicht nur die Funktion hat, die Daten der Empirie in einen Sinnkontext einzurücken und verstehbar zu machen. Vielmehr ist Theorie auch ein unverzichtbares Fundament der Disziplin, sofern es ihr auch um stete Kritik und Weiterentwicklung ihrer eigenen Wissensbasis und eine historische und gesellschaftliche Kritik der Praxis geht. Ohne einen lebendigen Theoriediskurs wird die Disziplin auf Dauer vertrocknen und ihre Relevanz verlieren. Umso mehr freue ich mich darüber, dass eine junge Kollegin wie Sie dieses Problem sieht und bemüht ist, mit ihrer eigenen Arbeit einen Beitrag zur Korrektur dieser Schieflage zu leisten. Viele Grüße Markus Dederich Anschriften der Autoren Dr. phil. Franziska Felder Universität Zürich Institut für Erziehungswissenschaft Sonderpädagogik: Bildung und Integration Freiestrasse 36 CH-8001 Zürich ffelder@ife.uzh.ch Prof. Dr. Markus Dederich Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Allgemeine Heilpädagogik Frangenheimstr. 4 D-50931 Köln markus.dederich@uni-koeln.de
