eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Das provokative Essay: Diagnostische Kompetenz - ein Auslaufmodell?

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2015
Arno Koch
Christiane Hofmann
Diagnostische Kompetenz gilt innerhalb der Lehreraus- und -weiterbildung als Schlüsselkompetenz, die für die Umsetzung differenzierender Lernformen, wie sie mit dem Anspruch der Inklusion betont werden, unverzichtbar ist. Andererseits wird die mit diagnostischen Prozeduren verbundene Kategorisierung von Schülerleistungen und -verhalten von einigen Inklusionsvertretern als inklusionsverhindernd angesehen, und es wird für eine sog. Dekategorisierung plädiert, die inzwischen zahlreiche Kritiker gefunden hat. In unserer eigenen vergleichenden Längsschnittstudie (Finnland, Deutschland, Südtirol; Koch u. a. 2012) zu den möglichen Auswirkungen unterschiedlicher Schulformen zum Schuleingang auf den Schriftspracherwerb konnte in einem Nebeneffekt die dramatisch niedrige Qualität diagnostischer Beobachtungen in den beiden ersten Schulstufen beobachtet werden. Durch den aus unserer Sicht fahrlässigen Ruf nach Dekategorisierung innerhalb der Inklusionsdebatte besteht die Gefahr einer Deprofessionalisierung. Diagnostische Kompetenz in der Schulpraxis ist jedoch wichtiger denn je.
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1 VHN, 84. Jg., S. 1 -8 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art01d © Ernst Reinhardt Verlag Diagnostische Kompetenz - ein Auslaufmodell? Oder: Was Grundschullehrer und Grundschullehrerinnen 1 wissen sollten Arno Koch, Christiane Hofmann Justus-Liebig-Universität Gießen Zusammenfassung: Diagnostische Kompetenz gilt innerhalb der Lehreraus- und -weiterbildung als Schlüsselkompetenz, die für die Umsetzung differenzierender Lernformen, wie sie mit dem Anspruch der Inklusion betont werden, unverzichtbar ist. Andererseits wird die mit diagnostischen Prozeduren verbundene Kategorisierung von Schülerleistungen und -verhalten von einigen Inklusionsvertretern als inklusionsverhindernd angesehen, und es wird für eine sog. Dekategorisierung plädiert, die inzwischen zahlreiche Kritiker gefunden hat. In unserer eigenen vergleichenden Längsschnittstudie (Finnland, Deutschland, Südtirol; Koch u. a. 2012) zu den möglichen Auswirkungen unterschiedlicher Schulformen zum Schuleingang auf den Schriftspracherwerb konnte in einem Nebeneffekt die dramatisch niedrige Qualität diagnostischer Beobachtungen in den beiden ersten Schulstufen beobachtet werden. Durch den aus unserer Sicht fahrlässigen Ruf nach Dekategorisierung innerhalb der Inklusionsdebatte besteht die Gefahr einer Deprofessionalisierung. Diagnostische Kompetenz in der Schulpraxis ist jedoch wichtiger denn je. Schlüsselbegriffe: Diagnostische Kompetenz, Kategorisierung, Dekategorisierung, Inklusion Diagnostic Competence - A Phase-out Model? What Primary Teachers Should Know Summary: Diagnostic competence is a key competence in teacher training. It is indispensable for the implementation of differentiating forms of learning, which are an essential part of inclusion. On the other hand, the categorisation of pupils’ performances and behaviour related to the diagnostic procedures is considered, by some representatives of inclusion, as hindering the inclusion. They plead for a decategorisation, but this approach is criticised by a growing number of researchers. In our own study (Koch et al. 2012), we noticed a very low quality of diagnostic observations in the first two school years. The call for decategorisation in the inclusion debate runs the danger, in our view, of a “deprofessionalisation”. However, diagnostic competence is more important than ever in school practice. Keywords: Diagnostic competence, categorisation, decategorisation, inclusion DAS PROVOK ATIVE ESSAY Zur Güte diagnostischer Kompetenz - Stand der Forschung In der nationalen Zusatzbefragung von PISA 2000 wurden deutsche Hauptschullehrer gebeten, jene Schüler zu benennen, deren Lesefähigkeit deutlich unterhalb der Lesefähigkeit gleichaltriger Hauptschüler lag (Artelt u. a. 2001, 119). Der Vergleich der erreichten Leistungen im PISA-Test mit den Einschätzungen der Lehrer machte deutlich, dass ca. 90 % der Risikoschüler von den Lehrern als unauffällig eingeschätzt wurden (ebd.). Diese ganz erheblichen Defizite in der Leistungsbeurteilung waren im Jahre 2001 Anlass für die Kultusministerkonferenz (KMK 2001), „Maßnahmen VHN 1 | 2015 2 ARNO KOCH, CHRISTIANE HOFMANN Diagnostische Kompetenz - ein Auslaufmodell? DAS PROVOK ATIVE ESSAY zur Verbesserung der Professionalität der Lehrertätigkeit, insbesondere im Hinblick auf diagnostische und methodische Kompetenz als Bestandteil systematischer Schulentwicklung“ (KMK 2002) zu fordern. War bis zu diesem Zeitpunkt das Erteilen von Berechtigungen das Aufgabenfeld, das „alle anderen diagnostischen Aufgaben überwuchert“ und „eine Weiterentwicklung didaktisch orientierter Diagnostik stark behindert“ hat (Ingenkamp/ Lissmann 2008, 27), rückt nun die Diagnostik auf der Mikroebene (Schrader 2010) zunehmend in den Vordergrund, die „im Dienste aktueller pädagogischer Entscheidungen“ (Klauer 1978, 5) steht und das Ziel verfolgt, in eine pädagogische Intervention zu münden (Helmke 2010). Basierend auf spezifischen Theorien zielt die lernprozessbegleitende Diagnostik darauf ab, lern- und leistungsrelevante Merkmale (Fähigkeiten und Fertigkeiten), Eigenschaften, Bedingungen sowie Sachverhalte explizit und reflektiert festzustellen (Schrader 2010). Es geht „um die fortlaufende Registrierung der Lern- und Leistungsfortschritte, aber auch der Lernschwierigkeiten und Leistungsmängel der einzelnen Schüler innerhalb einer Klasse“ (Weinert 2000, 14). Dabei sind „gerade spezifische Diagnosen des ‚Noch-nicht-Gekonnten‘ […] oft besonders interessant“ (Helmke u. a. 2004, 125). Dieses Vorgehen setzt „Lernergebnisse in Beziehung zu den Lernvoraussetzungen, [und] schätzt die Angemessenheit von Lernzielen oder lernorganisatorischen Maßnahmen auf der Basis von festgestellten Lernbedingungen ab“ (Mauermann 1977, 47). Da der Lehrer in der Unterrichtspraxis fortlaufend adaptiv auf die „Leistungsprobleme der einzelnen Schüler sowie die Schwierigkeiten verschiedener Lernaufgaben“ (Helsper 2006, 20) eingehen muss, entfaltet lernprozessbegleitende Diagnostik ihr Potenzial nicht direkt, sondern erst über den Weg der adaptiven Unterrichtsgestaltung (Abs 2007; Helmke u. a. 2004; Schrader/ Helmke 2002; Südkamp u. a. 2012; Praetorius u. a. 2012) und ist als Basisvoraussetzung für die Bewältigung von Heterogenität zu sehen (Abs 2007, 66; Baumert/ Kunter 2006, 489; Ophuysen 2010). „The success of education depends on adapting teaching to individual differences among learners.“ (Corno/ Snow 1986, 605) Deshalb werden die Unterrichtsmaßnahmen umso wirkungsvoller sein, je besser der Lehrer in der Lage ist, den Leistungsstand seiner Schüler und den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben einzuschätzen (Langfeldt 2006, 199f). Didaktisches Anschlusshandeln: ‚Was-Wissen‘ und ‚Wie-Wissen‘ „Da Diagnostik in der Unterrichtspraxis nur dann funktional wird, wenn der Lehrer auch über geeignete Mittel verfügt, um seine Diagnosen erfolgreich in pädagogisches Handeln umzusetzen“ (Schrader/ Helmke 1987, 46), wird von einer Reihe von Fachvertretern aus dem Bereich der pädagogischen Diagnostik vorgeschlagen, das didaktische Anschlusshandeln explizit dem diagnostischen Prozess zuzuordnen (Abs 2007; Bruder u. a. 2010; Ophuysen 2010). Hier trifft die pädagogische Diagnostik auf die seit 50 Jahren etablierte sonderpädagogische Sicht, die mit dem Begriff Förderdiagnostik Diagnose und Förderung in eine unauflösbare Verbindung bringt. Der Erfolg des didaktischen Anschlusshandelns - handlicher ausgedrückt: die diagnosegeleitete Förderung hängt von der getroffenen didaktischen Entscheidung ab, welche wiederum entscheidend durch die Qualität der diagnostischen Feststellung determiniert wird. Die Güte des didaktischen Anschlusshandelns kann somit als Indiz herangezogen werden, um die diagnostische Kompetenz von Lehrkräften praxisrelevant einzuschätzen (Ophuysen 2010). VHN 1 | 2015 3 ARNO KOCH, CHRISTIANE HOFMANN Diagnostische Kompetenz - ein Auslaufmodell? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Diese erweiterte bzw. förderdiagnostische Sicht lenkt den Blick auch auf Kriterien, die der Diagnose vorgeordnet sind (Helmke u. a. 2004). Lehrkräfte müssen über eine bestimmte Wissensgrundlage (‚Was-Wissen‘) verfügen, um auf dieser Basis didaktisch relevante und pädagogisch sinnvolle Diagnosen stellen zu können (Hascher 2008; Lorenz 2011; Schrader 2009; Voss/ Kunter 2011; Praetorius u. a. 2012). Hinreichendes ‚Was-Wissen‘ in einem spezifischen Lerngebiet ermöglicht die Einschätzung von Aufgabenschwierigkeiten, typischen Lösungsprozeduren und typischen Fehlern und ist damit Grundlage für das methodische Vorgehen im Unterrichtsfach. Eine Lehrkraft wird sich jedoch erst dann durch hohe professionelle diagnostische Kompetenz auszeichnen, wenn sie gleichzeitig über fundiertes Methodenwissen verfügt, wie bestimmte Merkmale adäquat erfasst werden können (,Wie-Wissen‘, Ophuysen 2010). Auf der Grundlage dieses Wissens können geeignete Methoden (Beobachtung, standardisierte Testverfahren, selbst konzipierte Tests …) adäquat ausgewählt bzw. gestaltet werden (Hesse/ Latzko 2009). Da im komplexen unterrichtlichen Geschehen psychometrisch genaue Diagnosen für Lehrkräfte oft nicht machbar sind (Helmke u. a. 2004), plädieren nicht wenige Fachvertreter für systematisch durchgeführte standardisierte Leistungseinschätzungen (Weinert/ Schrader 1986; Helmke 2010; Schrader 2010; Praetorius u. a. 2012). Standardisierte Verfahren können zudem den Nebeneffekt haben, dass die eigenen diagnostischen Einschätzungen bewusst gemacht werden, der klasseninterne Bezugsrahmen durchbrochen und durch den Vergleich ein Reflexionssowie Sensibilisierungsprozess in Gang gesetzt wird, was letztlich dazu führt, dass das ‚Was-‘ und das ‚Wie-Wissen‘ verbessert, präzisiert und professionalisiert werden. Weil die schulische Leistungsentwicklung durch weitere Faktoren determiniert wird (vgl. das „Makro-Modell der Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen“ von Helmke 2010), verlangt die adaptive Unterrichtsgestaltung deren Berücksichtigung. Von zentraler Bedeutung für die Erklärung von Leistungsdifferenzen bleibt die Persönlichkeit des Kindes. „Die individuellen Eingangsvoraussetzungen umfassen kognitive und metakognitive Kompetenzen, das heißt das Vorwissen in dem betreffenden Fach, die kognitive Grundfähigkeit (Intelligenz) und die Lernstrategien sowie motivationale, soziale, konstitutionelle und affektive Merkmale (Selbstvertrauen, Lernfreude, Leistungsangst).“ (Helmke 2010, 31) Individuelle Lernvoraussetzungen Wenn den individuellen Schülermerkmalen zentrale Bedeutung zugesprochen wird, dann darf auch der Blick auf die Beeinträchtigungen eines Schülers - hier ist spezifisches Wissen gefragt - nicht unberücksichtigt bleiben oder gar mit der wohlmeinenden Überzeugung, hier werde unweigerlich der „Verbesonderung“ Tür und Tor geöffnet, als anstößig betrachtet werden. Die unterlassene Beachtung möglicher individueller Faktoren, die das Lernen beeinflussen, birgt die Gefahr, dass Lernfortschritte verhindert werden. Wird das Setting des üblichen Klassengeschehens nicht modifiziert, kann der Klassenraum für ein Kind mit z. B. Autismus-Spektrum-Störungen zum Horrorkabinett werden. Auf der anderen Seite darf eine Diagnose nicht dazu führen, eine Beeinträchtigung festzustellen und die Diagnose - z. B. AD(H)S, Dyskalkulie, Legasthenie - zu nutzen, um die Verantwortung für die weitere Förderung an sog. Experten zu delegieren oder die Diagnose als Legitimation der eigenen Überforderung zu missbrauchen (Ampft u. a. 2002; Hofmann 2007). VHN 1 | 2015 4 ARNO KOCH, CHRISTIANE HOFMANN Diagnostische Kompetenz - ein Auslaufmodell? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Auch im Prozess der Erfassung individueller Schülermerkmale hat die lernprozessbegleitende Diagnostik ausschließlich dienende Funktion, indem sie dazu beiträgt, die individuelle Förderung zu verbessern (Koch/ Euker 2010). Dies lässt sich am Personenkreis der Menschen mit Down-Syndrom verdeutlichen. Da die Leistungsvarianz innerhalb dieser Gruppe sehr groß ist, kann die kognitive Leistungsfähigkeit eines Schülers vom durchschnittlichen Bereich bis hin in den Bereich umfänglicher geistiger Behinderung streuen (Wendeler 1976). Es geht dabei nicht um die Kategorisierung ‚Down- Syndrom‘, sondern es sind ausschließlich die individuellen, entwicklungsbezogenen Eingangsvoraussetzungen des einzelnen Schülers, die für die adaptive Unterrichtsgestaltung von Bedeutung sind. Die Vorläufigkeit (förder)diagnostischer Urteile und Unterrichtsqualität Haben Lehrer ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass diagnostische Urteile stets als vorläufige und somit als weiter zu überarbeitende Hypothesen anzusehen sind, kann die professionelle Haltung entstehen, die Lernentwicklung der Schüler und deren Wechselwirkung mit dem eigenen pädagogischen Handeln kontinuierlich zu beobachten (Weinert/ Schrader 1986; Schrader 2009; Helmke u. a. 2004). Dass diagnostische Kompetenz eine wesentliche Komponente zur Sicherung der Unterrichtsqualität und essenziell für den Lernerfolg der Schüler ist, konnten Schrader und Helmke (1987, 27) vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Münchener LOGIK-Studie belegen. Hier zeigte sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der diagnostischen Kompetenz des Lehrers und dem Lernerfolg der Schüler, der jedoch nur dann auftrat, wenn der Lehrer Hilfen anzubieten vermochte, die auf den Lernstand des Schülers abgestimmt waren (vgl. Helmke 2010). Insgesamt wird die Forschungslage zur Qualität der diagnostischen Kompetenz als „verstreut und unsystematisch“ (Schrader 2009, 243), wenig umfangreich und eher unbefriedigend beschrieben, da diese Komponente der Lehrexpertise bisher nur selten systematisch erforscht wurde (Schrader 2009; Helmke u. a. 2004). Südkamp u. a. (2012) konnten in einer Metaanalyse zeigen, dass die Lehrerurteile mit den korrespondierenden Schülerleistungen im Mittel moderat (r = .66) korrelierten. Zwar bewerten sie das Gesamtergebnis als positiv und angemessen hoch, fügen jedoch einschränkend hinzu, „that teacher judgments are far from perfect and that there is plenty room for improvement“ (ebd., 755). Diagnostische Kompetenz in unserer Längsschnittstudie: Finnland - Deutschland - Südtirol Ziel einer eigenen Studie, die den Entwicklungsverlauf schriftsprachlicher Kompetenz - vom Beginn des 1. bis zum Ende des 2. Schuljahres - in Deutschland, Finnland und Südtirol untersuchte (Koch u. a. 2012), war u. a. die Beantwortung der Frage, wie gut Grundschullehrer die schriftsprachlichen Leistungen ihrer Schüler einschätzen können und ob sie über geeignete Mittel verfügen, um ihre Diagnosen erfolgreich in didaktisches Anschlusshandeln umzusetzen. Beteiligt waren 679 Schüler und 44 Klassenlehrer. „Wer fällt auf ? Was fällt auf ? Was wird getan? “ waren die Fragen an die Lehrer, die am Ende der 2. Klasse Aufschluss über die dia- VHN 1 | 2015 5 ARNO KOCH, CHRISTIANE HOFMANN Diagnostische Kompetenz - ein Auslaufmodell? DAS PROVOK ATIVE ESSAY gnostische Kompetenz bzw. die Qualität des didaktischen Anschlusshandelns bringen sollten. Entsprechend der gängigen Unterteilung (vgl. Marx 2007, 81) wurden Schüler, die in den standardisierten Lese-Rechtschreibtests einen Prozentrang von PR ≤ 10 erreichten, als weit unterdurchschnittlich klassifiziert. Schüler im Prozentrangbereich zwischen 11 ≤ PR ≤ 25 wurden dem Risikobereich zugeordnet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Lehrer (aller drei Länder! ) weit davon entfernt waren, ihre Schüler akkurat zu diagnostizieren. Hauptgrund ist der sehr hohe Anteil an falschnegativ diagnostizierten schwachen Schülern (PR ≤ 25). Die überwiegende Mehrzahl dieser schwachen Leser wurde nicht als ‚schwache Leser‘ eingeschätzt. In Deutschland waren es 71,6 % und in Finnland 88,0 % der Schüler, die schwach waren, aber nicht entsprechend benannt wurden. Damit zeigten sich die deutschen Grundschullehrer in ihrer Zuschreibung zwar besser als die in der PISA-Studie 2000 untersuchten Hauptschullehrer, die ca. 90 % der schwachen Schüler nicht als solche erkannten. Vor dem Hintergrund, dass „intervention, hinges on an accurate determination of which children are at risk for future difficulty“ (Compton u. a. 2010, 327), bleibt dieses Ergebnis jedoch völlig inakzeptabel. Im Hinblick auf das didaktische Anschlusshandeln zeigt sich, dass finnische und Südtiroler Lehrkräfte für einen deutlich höheren Anteil von schwachen Schülern spezifische Lernarrangements bereitstellten als ihre deutschen Kollegen. Fazit Dass deutsche Grundschullehrkräfte bisher noch nicht die notwendigen Differenzierungen im Unterricht vornehmen, ist ein deutliches Indiz dafür, dass „unser Schulsystem trotz Leistungsdifferenzierung nicht gut mit Heterogenität und Differenz umgehen kann. Viele Lehrkräfte sind der Überzeugung, sie hätten die falschen Schülerinnen und Schüler.“ (Baumert 2002, 3) Eine wesentliche Voraussetzung für die Wandlung der deutschen Unterrichtskultur ist die Verknüpfung von Diagnostik und Förderung, die im Sinne lernprozessbegleitender Diagnostik weit stärker ausgebaut werden muss (Brömer 2004). Aus diesem Grund wird der (förder)diagnostischen Kompetenz in der gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion zu Recht „die Rolle einer wichtigen Stellschraube der Qualitätsentwicklung“ (Artelt/ Gräsel 2009, 157) zugeschrieben. Lernprozessbegleitende Diagnostik stellt eine zentrale und anspruchsvolle Aufgabe dar, die das Kernstück für gelingenden inklusiven Unterricht ausmacht (Karing 2009). Im Besonderen im Anfangsunterricht sind Grundschullehrer aufgefordert, regelmäßige Überprüfungen von Lernausgangslagen ihrer Schüler vorzunehmen, um Risikokinder - aber auch Überflieger - aufzuspüren und Fördermaßnahmen, orientiert am nächsten Entwicklungsschritt des jeweiligen Kindes, einzuleiten (vgl. Lorenz/ Artelt 2009). Je heterogener die Leistungen der Klasse, umso notwendiger wird es, die Lernfortschritte, aber auch die Lernschwierigkeiten einzelner Schüler engschrittig zu erfassen (s. auch Weinert 2000), um individuelle Förderung zielgerichtet einsetzen zu können. Die diagnostische Kompetenz nimmt in diesem Prozess eine „Art Katalysatorvariable“ ein (Helmke u. a. 2004, 128). „Dass sich Grundschulen vor einigen Jahren noch geweigert haben, an Leistungsfeststellungen teilzunehmen - wie dies in Berlin geschah - ist im Grunde ein unerhörter Vorgang.“ (Baumert 2002, 3) Eine zentrale Herausforderung, die sich auch im Grundschulbereich in diesem Zusammenhang stellt, ist die Rekrutierung von exzellent ausgebildetem Lehrpersonal, denn das, was auf der Ebene der Grundschule nicht gelingt, lässt sich auf der Ebene der Sekundarstufe I offenbar VHN 1 | 2015 6 ARNO KOCH, CHRISTIANE HOFMANN Diagnostische Kompetenz - ein Auslaufmodell? DAS PROVOK ATIVE ESSAY nicht mehr kompensieren (Bos u. a. 2003). Vor diesem Hintergrund muss lernprozessbegleitende Diagnostik ohne Verzug zu einem zentralen Bestandteil der Grundschullehreraus- und Fortbildung werden. Da die schulische Leistungsentwicklung durch weitere individuelle Faktoren determiniert sein kann (die visuelle Informationsverarbeitung ist z. B. die „starke Seite“ von vielen Menschen mit Down-Syndrom), verlangt die adaptive Unterrichtsgestaltung auch deren Berücksichtigung. Hier ist spezifisches Wissen (des Förderschullehrers) gefragt. Dieses mit dem wohlmeinenden Hinweis: „It is everywhere a short road from getting named to getting explained, blamed and gamed.“ (McDermott u. a. 2011, 225) als Türöffner der Besonderung zu sehen und damit in seiner Bedeutung herabzusetzen, kann dem Anspruch des Einzelnen nicht gerecht werden. Das Leugnen der Verschiedenheit schafft keine Gleichheit. Wer einem Menschen mit geistiger Behinderung ein Mäntelchen der Kompetenz (cloak of competence, Edgerton 1993) umhängt, weil er z. B. mit bester Absicht (aber ohne Wissen! ) davon ausgeht, für alle Schüler im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung sei der Schriftspracherwerb ein erreichbares Ziel, wird damit Lerninhalte, die sich für diese Person als funktional erweisen, zurückstellen und dadurch seine Möglichkeiten zur Teilhabe am Leben in der sozialen Gemeinschaft einschränken. Erst die Wahrnehmung der individuellen Lernbedürfnisse ermöglicht die notwendige Unterstützung, die den Lernprozess erleichtert bzw. in nicht wenigen Fällen erst ermöglicht. Das Erkennen spezifischer Förderbedürfnisse in seinem Stellenwert herabzusetzen und damit die Begründung zu liefern, dass das spezifische Wissen in der Förderschullehrerausbildung minimiert werden kann, wäre eine verhängnisvolle Entwicklung. Anmerkung 1 Im Folgenden wird der Einfachheit halber nur die männliche Form verwendet. Literatur Abs, H. (2007): Überlegungen zur Modellierung diagnostischer Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern. In: Lüders, M.; Wissinger, J. 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