Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Die ausführliche Rezension: Bober, Allmuth (2012): Wie wirkt die körperliche Stütze während der Gestützten Kommunikation? Analyse des Forschungsstands und Ableitung weiterführender Forschungsfragen
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2015
Paul Probst
Gegenstand der von Allmuth Bober verfassten Dissertation ist ein narrativer Literaturüberblick zum Prozess sowie zur Validität und Effektivität der Gestützten Kommunikation 1. Dieses Verfahren lässt sich nach aktuellem Wissensstand wie folgt charakterisieren: Im Mittelpunkt der Gestützten Kommunikation (Facilitated Communication/FC) steht die Interaktion zwischen einer behinderten Person, deren gesamte Kommunikation, insbesondere auch deren Lautsprache stark beeinträchtigt ist, und einer „stützenden“ Person.
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VHN 1 | 2015 83 REZE NSION Die ausführliche Rezension Bober, Allmuth (2012): Wie wirkt die körperliche Stütze während der Gestützten Kommunikation? Analyse des Forschungsstands und Ableitung weiterführender Forschungsfragen Saarbrücken: Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften. 284 S., € 98,- Definition der Gestützten Kommunikation Gegenstand der von Allmuth Bober verfassten Dissertation ist ein narrativer Literaturüberblick zum Prozess sowie zur Validität und Effektivität der Gestützten Kommunikation 1 . Dieses Verfahren lässt sich nach aktuellem Wissensstand wie folgt charakterisieren: Im Mittelpunkt der Gestützten Kommunikation (Facilitated Communication/ FC) steht die Interaktion zwischen einer behinderten Person, deren gesamte Kommunikation, insbesondere auch deren Lautsprache stark beeinträchtigt ist, und einer „stützenden“ Person. Dabei erstellt vorgeblich die behinderte Person durch Auswählen von Buchstaben auf einer Computer-Tastatur (oder Buchstabentafel) einen schriftlichen Text oder macht durch Zeigen auf Bilder, Symbole oder materielle Gegenstände eine Mitteilung. Häufig erweist sich die Qualität dieser kommunikativen Äußerung als unerwartet hoch, gemessen an den kognitiven und sprachlichen Leistungen, die in Situationen ohne FC erbracht werden. Während der Gestützten Kommunikation erhält die behinderte Person von der zweiten Person angeblich nur körperliche Unterstützung (und keine Steuerung durch Führung oder motorische Hinweisreize) an Hand, Handgelenk, Ellbogen oder Schulter, sowie emotionale Unterstützung, etwa durch Ermunterung und Ansporn. Die Adverbien „vorgeblich“ und „angeblich“ sollen die erheblichen Zweifel an Validität und Effektivität des Verfahrens markieren, die von weiten Kreisen aus Forschung und Praxis geteilt werden. Sie gründen auf der Kumulation von Belegen dafür, dass nicht die beeinträchtigte Person Autor der kommunikativen Äußerung ist, sondern vielmehr die stützende Person, d. h. dass das Verfahren nicht erfasst, was es zu erfassen vorgibt und damit einen eklatanten Mangel an Validität aufweist. Ferner gibt es unter der Bedingung, dass der Einfluss der stützenden Person kontrolliert wird, hinreichend viele Belege dafür, dass die kommunikative Leistung unter FC nicht höher ist als in Situationen ohne FC und somit die Gestützte Kommunikation als Intervention ineffektiv ist (s. Schlosser u. a. in Druck). Wie zu zeigen sein wird, leistet die von Allmuth Bober verfasste Dissertation einen substanziellen Beitrag zur weiteren Untermauerung der bisherigen kritischen Bewertung der Gestützten Kommunikation. Biografische Anmerkungen Allmuth Bober (Diplom-Psychologin, Master of Science in Educational Sciences/ Univ. Groningen, NL) arbeitet seit etwa 35 Jahren mit Menschen mit schweren Kommunikationsbeeinträchtigungen, gegenwärtig in der Stiftung Scheuern, einer Komplexeinrichtung der Behindertenhilfe (Nassau, Deutschland) als Koordinatorin für Unterstützte Kommunikation (UK - nicht zu verwechseln mit Gestützter Kommunikation! Zur Terminologie vgl. Nußbeck 2007). Bober engagiert sich berufspolitisch seit Jahren als Kritikerin der FC. Im webbasierten sozialen Netzwerk für berufliche Kontaktpflege XING äußert sie: „Aus dem an sich für mein Berufsbild obligatorischen Verein ISAAC (Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation) bin ich nach langjähriger intensiver Mitarbeit (Vorstand, Geschäftsführung […] ausgetreten, weil ISAAC sich für die Gestützte Kommunikation (FC) stark macht und dadurch m. E. viel Leid erzeugt: denn FC ist eine Mogelpackung.“ (Bober 2009) In wissenschaftlichen Abhandlungen warnt Bober wiederholt vor dem Gebrauch der FC: „Gestützte Kommunikation […] sollte nicht angewendet werden.“ (Bober/ Bördlein 2009) Die Form ihrer Arbeiten zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass Stilmittel des Sarkasmus und der Ironie eingesetzt werden, um besonders gravierende methodische Defizite in Studien von FC-Befürwortern zu identifizieren (vgl. z. B. Adam/ Bober 2003; s. auch vorliegende Dissertation, z. B. S. 7 oder S. 22f 2 ). VHN 1 | 2015 84 REZE NSION Erwähnenswert ist ferner, dass Bober Mitglied der „Gesellschaft für Anomalistik e.V.“ ist, deren Ziel die Untersuchung parapsychologischer Phänomene wie z. B. Wünschelrutengängerei mithilfe empirisch-experimenteller Methoden ist. Der Fairness-Codex dieser Institution besagt, dass auch Vertreter nichtwissenschaftlicher Richtungen als ebenbürtige Kommunikationspartner anzusehen und deren Überzeugungen formell als gleichwertig zu behandeln sind (Gesellschaft für Anomalistik e.V., www.anomalistik.de). Diese Grundhaltung mag auch in die Konzeption der Dissertation eingeflossen sein (s. u.). Bobers Dissertation wurde von Susanne Nußbek, Professorin für „Psychologie in der Heilpädagogik“ an der Universität zu Köln betreut. Beide gehören zu den Initiatoren einer viel beachteten kritischen Resolution zur Gestützten Kommunikation (Biermann u. a. 2002). Angaben zum Inhalt Bobers Dissertation gliedert sich in Einleitung und sechs Hauptkapitel und wird durch eine kurze Zusammenfassung abgeschlossen. In der Einleitung ihrer Dissertation umreißt Bober als Ziel der Untersuchung die Analyse des Forschungsstands zur Frage, „ob die Vorgänge bei der FC eher der Sichtweise der FC-Vertreter oder der ihrer Kritiker entsprechen mit dem Ziel der Findung offener Forschungsfragen“ (2). Aus der Gegenüberstellung der beiden Sichtweisen ergibt sich: (a) Die Perspektive der FC-Vertreter beinhalte im Kern die Überzeugung, dass die behinderte Person (hier als „Schreiber“ bezeichnet) eine motorische und emotionale Beeinträchtigung aufweise, die sie daran hindere, sich ungestützt schriftsprachlich mitzuteilen. Durch die physische Hilfestellung (hier als „Stütze“ bezeichnet) seitens des „Stützers“ 3 werde diese Beeinträchtigung so weit kompensiert, dass es zu einer authentischen Kommunikation des Schreibers in Form von Texten komme. (b) Im Mittelpunkt der Perspektive der FC-Kritiker hingegen stehe, dass der Stützer der Autor der Texte sei, indem er unabsichtlich die Bewegungen des Schreibers beeinflusse und ihn dadurch zum „Schreibinstrument“ mache. FC beruhe unter dieser Prämisse auf einer „Selbsttäuschung des Stützers“ und „Fremdsteuerung sei das einzige Wirkprinzip“ dieses Ansatzes (2). In Kapitel 1 wird die in der Einleitung skizzierte Fragestellung der Dissertation näher expliziert. Es wird ersichtlich, dass ihr ein Konzeptrahmen zugrunde liegt, innerhalb dessen sich folgende fünf Teilkomponenten abheben lassen: (1) Am Gegenstand der FC seien drei Aspekte zu unterscheiden, nämlich das theoretische Konstrukt (Kernaussage), das Verfahren (inklusive der technologischen Regeln) und das Phänomen (das von außen beim Ablauf der FC sinnlich Wahrnehmbare, etwa die Bewegungen von Schreiber und Stützer). Die Kernaussage des theoretischen Konstrukts laute: Die Gestützte Kommunikation verbessere die Kommunikation mindestens einer Untergruppe kommunikativ schwer beeinträchtigter Menschen. Die Wahrheit dieser Kernaussage müsse durch empirisch erfassbare Indikatoren überprüft werden. (2) Zur Einordnung des Konstrukts der Gestützten Kommunikation sei der wissenschaftstheoretische Ansatz von Imre Lakatos (1970) nützlich. FC sei danach als „wissenschaftliches Forschungsprogramm“ zu verstehen, das erstens aus einem „harten Kern“ („hard core“) bestehe (mit dem Inhalt: „FC verbessert die Kommunikation mindestens einer Untergruppe […]“) und zweitens aus einem Schutzgürtel („protective belt“) von Hilfshypothesen („auxiliary hypotheses“, ebd., 133), wie etwa der Behauptung, dass experimentell-kontrollierte Studien zur Untersuchung der Validität/ Effektivität von FC ungeeignet seien, da sie z. B. zur emotionalen Blockade der Probanden führen oder den Einfluss von Wortfindungsstörungen nicht berücksichtigen würden. Im Unterschied zum harten Kern seien die Hilfshypothesen empirisch überprüfbar und auch modifizierbar. Solange sich das Forschungsprogramm der Gestützten Kommunikation in seiner revolutionären Phase befinde, dürfe sein „harter Kern“ nicht durch empirische Falsifikationen angetastet werden. (3) Die „programmexterne Perspektive“ der FC- Kritiker sei der „programminternen Perspektive“ der FC-Befürworter als gleichrangig gegenüber- VHN 1 | 2015 85 REZE NSION zustellen. Die Erstere stütze sich auf den interdisziplinären Fundus des „konservativen“ Forschungsprogramms („normal science“), das sich etwa mit dem Komplex „Kommunikationsstörungen/ Autismus/ Intellektuelle Behinderung“ befasst (repräsentiert z. B. durch Nußbeck 2000; 2007), sowie auf die kontrollierten Evaluationsstudien zur FC (vgl. Nußbeck 2000; Probst 2005; Schlosser u. a., in Druck). Die letztere Perspektive stütze sich außer auf den (oben beschriebenen) „harten Kern“ vor allem auf Beobachtungsstudien, in denen die „strukturelle“ Validität der Gestützten Kommunikation durch die Analyse sprachinhaltlicher und sprachformaler Merkmale überprüft werde. Aus dieser programminternen Perspektive würden experimentelle Studien als unfruchtbar abgelehnt. Um dieser Sichtweise gerecht zu werden, werde der Fokus der vorliegenden Dissertation auf der Analyse von Arbeiten zur strukturellen Validität (Kap. 3 und 4) liegen, experimentelle Studien seien „nur der Vollständigkeit halber“ aufgenommen worden (39). Zu den Indikatoren der strukturellen Validität zählen nach Bober vor allem inhaltliche und formale Merkmale der unter FC produzierten Texte. Darüber hinaus sollen Indikatoren der programmintern postulierten Kompetenzen der Schreiber den programmextern postulierten gegenübergestellt (Kap. 5 und 6) sowie Indikatoren der Quelle der Bewegungssteuerung in Bezug auf Stützer und Schreiber analysiert werden (Kap. 4). (4) Die Stützerkommunikation, sofern sie nachweisbar sei, erfolge unabsichtlich, unwillentlich und automatisch. Es handle sich um ideomotorische Vorgänge. Vermutlich steuere der Stützer den Schreiber mit unwillkürlichen Bewegungen, sodass dieser Muskelbewegungen des Stützers lesen und entsprechende Tasten ansteuern könne. Die durch FC entstandenen Inhalte entstünden aus unbewussten Zuschreibungen an die Personen mit Behinderung. FC gehöre somit zu den Phänomenen, bei denen man selbsterzeugte Bewegungen für fremderzeugte hält, wie es etwa bei Wünschelrutengängern beim Auffinden von Wasseradern der Fall sei. Die Interpretation der Vorgänge als bewusste, „absichtliche“ Steuerung sei zu verwerfen, da „die bewusste Handführung“ bei FC strikt verboten sei (268). Es würde sich folglich in diesem Falle nicht mehr um FC handeln. (5) Sowohl aus anwendungsals auch aus grundwissenschaftlicher Perspektive gebe es dringenden Forschungsbedarf zur Frage, ob FC eine Kommunikationsmethode oder lediglich eine Methode zur Vortäuschung von Kommunikation sei (26). Bis zur Klärung dieser Frage stelle für den Praktiker sowohl die Anwendung als auch die Nichtanwendung von FC ein Risiko dar. Um der internen Perspektive der FC-Befürworter gerecht zu werden, konzentriere sich der vorliegende Forschungsüberblick auf Indikatoren der Konstruktvalidität, die von dieser sozialen Gruppe selbst akzeptiert werden. In Kapitel 2 geht es um die Frage, ob es „abseits von den [experimentellen] Validationsstudien“ (39) in „Beobachtungsstudien“ Belege für die Validität der Textinhalte des Schreibers auf der Grundlage sprachinhaltlicher Kriterien gebe. Bober kommt zu dem Schluss, dass in diesen Studien „durch den Verzicht auf die Kontrolle von Beobachtungs- und Beurteilungsfehlern so umfassend Vorsorge gegen das Auftreten erwartungswidriger Befunde getragen wurde, dass die Ergebnisse wenig aussagen“ (267). Die Behauptung, dass sich in den Textinhalten die Gedanken der Schreiber widerspiegelten, lasse sich aus diesen Arbeiten jedenfalls nicht ableiten. Kapitel 3 widmet sich der komplementären Fragestellung, ob formalsprachliche Indikatoren die Konstruktvalidität der FC untermauern könnten, d. h., ob man an der Form des Textes erkennen könne, ob der Schreiber sein Autor ist, z. B. an der Häufung von semantischen und grammatikalischen Besonderheiten. Unter Einbeziehung von Konzepten aus der forensischen Linguistik zieht Bober den Schluss, dass in diesen Studien meist „Mindeststandards der linguistischen Autorschaftsbestimmung unbeachtet“ geblieben seien (267) und man deshalb aus ihnen keinen positiven Beitrag zu Konstruktvalidität ableiten könne. Die Häufung von Neologismen etwa in Texten von Schreibern mit Autismus-Spektrum-Störungen lasse sich nicht nur als Beleg für die Schreiber- Autorschaft interpretieren, sondern alternativ auch damit erklären, dass solche Wortneuschöpfungen von den Stützern, ihrem theoretischen und praktischen Wissen über Autismus entsprechend, unbewusst produziert und auf die Schreiber attribuiert werden. VHN 1 | 2015 86 REZE NSION Die in Kapitel 5 untersuchte Frage zu den aus interner Perspektive postulierten Kompetenzen der Schreiber führte im Ergebnis ebenfalls zu keiner Bestätigung der Validität des FC-Konstrukts. Die in diametralem Widerspruch zum Wissensfundus der Referenzwissenschaften (Pädagogik, Medizin, Psychologie) stehenden Annahmen zum Lautsprachverständnis, Leseverständnis und kognitiven Niveau der FC-Schreiber konnten laut Bober in keiner Studie bisher nachgewiesen werden. Auch die von FC-Proponenten vertretene These der Performanzstörung (Sammelbegriff für neuromotorische Störungen und diverse exekutive Handlungsstörungen) der Schreiber habe nicht bestätigt werden können, zumal dieser Störungsbegriff so allgemein und unscharf formuliert sei, dass er einer empirischen Überprüfung nicht standhalte (s. 205 -213; 269). Die postulierten Kompetenzen unter Annahme der Fremdsteuerung durch den Stützer (Kapitel 6) beinhalten laut Bober die Fähigkeit des Stützers, dem Schreiber den Text durch unwillkürliche ideomotorische Bewegungen zu diktieren (269). Zur Prüfung dieser These liege jedoch bisher nur eine einzige empirische Untersuchung vor; sie sei von der Japanerin Emiko Kezuka im Jahr 1997 durchgeführt worden und weise ein bestätigendes Ergebnis auf. Zur weiteren Analyse der Hypothese zur ideomotorischen Bewegungssteuerung stützt sich Bober in diesem Kapitel auf ein breites interdisziplinäres Spektrum, welches von psychologiehistorischen Studien zu Spiritismus, Okkultismus, Wünschelrutengängerei, Bühnenmagie und Tierdressur/ Tierpsychologie („Der kluge Hans“) bis zu neueren experimentellen Arbeiten aus der Kognitiven Psychologie und Sozialpsychologie reicht. Die dort untersuchten ideomotorischen Phänomene weisen zwar Bezüge zu Vorgängen bei der Gestützten Kommunikation auf, besitzen aber Bober zufolge als Analogstudien nur eingeschränkte externe Validität. Weitere Forschung sei deshalb erforderlich, um die bis jetzt noch schwache Evidenzlage zur ideomotorischen Bewegungssteuerungshypothese zu verbessern. Hierzu könnten auch die in Kapitel 4 unter dem Thema „Indikatoren der Quelle der Bewegungssteuerung“ vorgestellten Konzepte und Ergebnisse zu motorischen Verhaltensweisen und Bewegungsmustern bei Stützer und Schreiber einen Beitrag leisten. Anmerkungen zu formalen Aspekten Terminologie: „Validation“ anstelle des üblichen Terminus technicus „Validierung“ ist missverständlich, weil man im deutschsprachigen Bereich darunter ein Verfahren aus der Gerontopsychologie versteht. Aufbau und Stil der Arbeit: Die oft rasche Abfolge von referierenden Abschnitten, Fremdkommentaren, Eigenkommentaren und längeren Exkursen erschwert die Lektüre. Mehr „Wegweiser“ und Resümees zu längeren Unterabschnitten wären hilfreich gewesen. An mehreren Stellen, in denen indirekte Zitate und Paraphrasierungen wiedergegeben werden, vermisste ich den Einsatz des Konjunktivs. So konnte ich oft erst auf der Grundlage des Gesamtkontextes oder meiner Vorkenntnisse vermuten, dass die Autorin eine gewisse innere Distanz oder auch Ambivalenz zu den zitierten Äußerungen aufweist. Der sprachliche Stil wiederum, der inneres Engagement und immer wieder auch Emotionen der Autorin widerspiegelt, erleichterte mir das Lesen. Insbesondere fand ich das Kapitel 6 spannend, das für mich ein Highlight der Arbeit darstellt, weil Kernüberzeugung und Fokus der Forscherin besonders deutlich werden. Anmerkungen zu inhaltlichen Aspekten Fiktion der Gleichrangigkeit: Die Parallelisierung von interner FC-Perspektive und externer Sichtweise der mit behinderten Menschen befassten Referenzwissenschaften mag einerseits der Herstellung einer pragmatisch ausgerichteten Strukturierung der vorliegenden Literaturübersicht dienen und auf rhetorischer Ebene neutrale Fairness der Autorin gegenüber Proponenten und Opponenten signalisieren, kann jedoch andererseits auch dem naiven Rezipienten den Eindruck inhaltlicher Gleichwertigkeit vermitteln und allgemein zu einer Aufwertung der FC-Position führen. Es wird in der Arbeit nicht immer deutlich, dass es sich lediglich um eine Fiktion der Gleichrangigkeit handeln kann. FC als theoretisches Konstrukt: Nach Bober besteht das theoretische Konstrukt der FC im Kern aus der Behauptung, dass FC sich wenigstens für VHN 1 | 2015 87 REZE NSION eine Teilpopulation als valide (i. S. des Nachweises authentischer Schreiberkommunikation) und effektiv erweise. Ein gutes theoretisches Konstrukt in den Sozialwissenschaften besteht aber aus mehr, nämlich aus einem logisch konsistenten Netzwerk von gehaltvollen und bewährten Hypothesen sowie anerkannten Gesetzmäßigkeiten (häufig in Form von Wenn-Dann-Sätzen), mit denen Sachverhalte beschrieben, erklärt und vorhergesagt werden können (vgl. Bortz/ Döring 2006, 15). Solche theoretischen Konstrukte bestehen in den Referenzwissenschaften, etwa für Autismus- Spektrum-Störungen oder intellektuelle Behinderungen, seit Jahrzehnten (Nußbeck 2000; 2007). Vonseiten der FC-Befürworter konnte bis dato diesen nomologischen Netzwerken nichts entgegengesetzt werden, außer sozusagen einem lapidaren „Stimmt alles nicht! “ und dem schlichten Gegenentwurf von Verheißungen, die „wie vom Himmel“ fielen. So betrachtet muss die Existenz eines theoretischen Konstrukts „FC“ verneint werden. FC als Wissenschaftsprogramm im Sinne von Lakatos: Gegenstand des Ansatzes des ungarischen Wissenschaftstheoretikers und Historikers Lakatos (1970) ist die rationale Rekonstruktion von naturwissenschaftlichen Theorieentwicklungen mit dem Fokus auf Chemie, Astronomie und Atomphysik. Die Übertragbarkeit seines Ansatzes auf den Fall der Gestützten Kommunikation erscheint mir zweifelhaft. So mag es für die genannten Wissenschaftsbereiche angemessen sein, einen Kern der Theorie über eine Zeitspanne zu immunisieren; für die FC erscheint mir dieses Vorgehen jedoch als irrelevant, da, anknüpfend an den vorangegangenen Punkt, die Voraussetzungen nicht gegeben sind. Ferner sind - im Unterschied zu den von Lakatos bearbeiteten Fällen - für den Gegenstand der FC, der ja naturgemäß in den Geltungsbereich der genannten Referenzwissenschaften fällt, durchaus Schlussfolgerungen per Induktion möglich und sogar nötig. Wenn sich nämlich auf der breiten empirischen Basis von mehr als 300 Probanden herausstellt, dass FC invalide und ineffektiv ist und zusätzlich noch gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt (Probst 2005; 2012 a und b; Schlosser u. a. in Druck), muss daraus der induktive Schluss gezogen werden, dass dies auch für alle anderen möglichen Probanden gilt und der Ansatz deshalb insgesamt zu verwerfen ist, nicht zuletzt um der Verletzung von Persönlichkeitsrechten behinderter Menschen und ihrer Familien vorzubeugen, oder in den Worten Bobers, um zu verhindern, dass „viel Leid erzeugt“ wird (Bober 2009). FC als ideomotorischer und unwillentlicher Vorgang: Soweit für mich ersichtlich, interpretiert Bober den Vorgang der Stützersteuerung ausschließlich als ideomotorischen, automatisch ablaufenden, dem Bewusstsein nicht zugänglichen Prozess (s. hierzu den Kommentar von Zöller 2012). Es ist aber vor dem Hintergrund handlungspsychologischer Theorien (s. z. B. Kaminski 1970) kaum vorstellbar, dass Stützer komplexe, sich über längere Zeiträume erstreckende missbrauchsbezogene Beschuldigungen (s. Probst 2012 a) unwissentlich auf den Schreiber attribuieren oder dass ein Stützer, der als Schulbegleiter seinen Schreiber über mehrere Jahre zum Abitur führt (s. Probst, 2012 c) und für ihn dabei in sämtlichen Klausuren und Abiturprüfungen die Lösungen erarbeitet sowie diese anschließend verschriftlicht, seine eigenen komplexen Denk- und Handlungsabläufe als fremde Leistung missdeutet. Alternativ zu ideomotorischen Erklärungen bieten sich „soziokognitive Modelle“ an, die z. B. in die sozialpsychologische Hypnoseforschung Eingang gefunden haben (zur Skizzierung dieses Ansatzes s. Probst 2005, 118f). Im Zentrum steht dabei die Rollentheorie des amerikanischen Sozialpsychologen Theodore Sarbin, die zu klären versucht, unter welchen Umständen Personen sozial konstruierte Rollen übernehmen („role taking“) und sich dabei dessen auch mehr oder weniger bewusst sind. In Bezug auf FC wäre z. B. denkbar, dass akademische Protagonisten der Gestützten Kommunikation (z. B. der Soziologe Douglas Biklen, USA) oder von ihnen geschulte Stützer von den beiden Prämissen ausgehen, erstens, dass die Inklusion behinderter Menschen als gesellschaftliches Ziel am allerhöchsten zu bewerten sei, und zweitens, dass die Zuschreibung von Intelligenz und Sprachfähigkeit notwendige Voraussetzung für erfolgreiche soziale Inklusion (z. B. schulische Inklusion) darstelle. Die Kombination dieser beiden Prämissen mag dann als „strategische Wahrheit“ gewertet werden, die mit VHN 1 | 2015 88 REZE NSION einem „Bodyguard“ an kontrafaktischen Aussagen zu verteidigen sei (durch Behauptungen wie: „Der Schreiber hat die mathematische Textaufgabe gelöst, und nicht ich, der Stützer.“ Zum Begriff „strategische Wahrheit“ vgl. Assheuer 2014). Dass es schwierig sein dürfte, Hypothesen dieser Art empirisch zu untermauern, steht auf einem anderen Blatt. Ableitung von Forschungsfragen: Ergänzend zu Bobers Vorschlägen zu weiterführenden Forschungsfragen möchte ich anregen, sozialpsychologisch ausgerichtete Forschungskonzepte zur FC-bezogenen Informationsvermittlung und Einstellungsbildung für Fachverbände der Behindertenhilfe, Selbsthilfeverbände sowie politisch einflussreiche Instanzen des Gesundheits- und Erziehungswesens zu entwickeln. Als derzeitige Verhaltensmodelle können hervorgehoben werden: Der Selbsthilfe- und Fachverband „Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen“, der in Deutschland knapp 30’000 Personen mit Körperbehinderung und Mehrfachbehinderung und deren Angehörige vertritt, und die International Society for Augmentative and Alternative Communication (ISAAC), die etwa 4000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene ohne zufriedenstellende Lautsprache in 65 Ländern sowie deren Familien repräsentiert. Beide Organisationen haben sich in veröffentlichten Stellungnahmen zur FC eindeutig kritisch positioniert (vgl. Probst 2012 a; ISAAC, in Druck). Erträgnisse der Studie: Als zentrale Erträgnisse der Dissertation möchte ich hervorheben: (a) die Rezeption einer besonders großen Breite an Studien aus unterschiedlichen historischen Zeitabschnitten, soziokulturellen Kontexten, akademischen Disziplinen und Wissenschaftlergemeinschaften („scientific communities“) (vgl. Mall 2013); (b) die methodische Einbeziehung von Konzepten aus den Sprachwissenschaften und der Kognitiven Psychologie bei der Evaluation der Studien; (c) die Erkenntnis, dass sich nicht nur aus dem Gesamt der experimentell kontrollierten FC-kritischen Arbeiten, sondern auch aus dem Gesamt der FC-affinen Studien mit dem Schwerpunkt auf „Beobachtungsstudien“ keinerlei Bestätigung für substanzielle Validität und Effektivität der Gestützten Kommunikation ableiten lässt. Gesamtresümee Die vorliegende narrative Überblicksarbeit zur Wirkungsweise der Gestützten Kommunikation führt auf der Grundlage einer originell angelegten und interdisziplinär ausgerichteten Methodik zu wesentlichen neuen Erkenntnissen, die pädagogisch und psychologisch bedeutsam sind. Auch unter Berücksichtigung der angeführten Einschränkungen handelt es sich insgesamt um eine ertragreiche wissenschaftliche Leistung. Ich empfehle die Lektüre allen Praktizierenden und Forschenden, die ihre Kenntnisse über Gestützte Kommunikation erweitern wollen, sowie allen wissenschaftshistorisch Interessierten quer über die humanwissenschaftlichen Disziplinen. Anmerkungen 1 Mit dem Ziel der besseren Lesbarkeit verzichte ich auf die sprachliche Kennzeichnung des natürlichen Geschlechts und gebrauche Adjektive wie „behindert“ neben der präpositionalen Fügung „mit Behinderung“. 2 Die Seitenangaben beziehen sich jeweils auf die ursprüngliche Fassung (Bober 2010) 3 Im Folgenden benutze ich die von Bober eingeführten, mehr oder weniger FC-affinen Begriffe „Schreiber“, „Stützer“ und „Stütze“. Literatur Adam, H.; Bober, A. (2003): Zwei Studien zur Validität der Gestützten Kommunikation (FC). In: ISAAC (Hrsg.): Handbuch der Unterstützten Kommunikation. Karlsruhe: Von Loeper Assheuer, T. (2014): Krieg ist immer. In: DIE ZEIT Nr. 28 (3. Juli 2014), 42 Biermann A.; Bober, A.; Nußbeck, S. (2002): Resolution zur Gestützten Kommunikation (engl.: Facilitated Communication/ FC). In: Heilpädagogische Forschung 28, 173 -175 Bober, A. (2009): Allmuth Bober. Online unter: https: / / www.xing.com/ profile/ Allmuth_Bober, 30. 9. 2014 Bober, A. (2010): Zur Wirkungsweise der körperlichen Stütze während der Gestützten Kommunikation (FC). Analyse des Forschungsstands und Ableitung weiterführender Forschungsfragen. Dissertation, Universität zu Köln. Online unter: http: / / kups.ub.uni-koeln.de/ 3336/ , 20. 9. 2014 VHN 1 | 2015 89 REZE NSION Bober, A.; Bördlein, C. (2009): Wer schreibt bei der Gestützten Kommunikation? In: Website: GWUP - Die Skeptiker: Gesellschaft für die wissenschaftliche Untersuchung der Parawissenschaften. Online unter: http: / / www.gwup.org/ infos/ 933-wer-schreibt-bei-der-gestueztenkommunikation, 30. 9. 2014 Bortz, J.; Döring, N. (2006): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaften. Berlin: Springer. http: / / dx.doi.org/ 10. 1007/ 978-3-540-33306-7 ISAAC/ International Society for Augmentative and Alternative Communication (in Druck): ISAAC Position Statement on Facilitated Communication. In: Augmentative and Alternative Communication 30 Kaminski, G. (1970): Verhaltenstheorie und Verhaltensmodifikation. Entwurf einer integrativen Theorie psychologischer Praxis am Individuum. Stuttgart: Klett Lakatos, I. (1970): Falsification and the methodology of scientific research programmes. In: Lakatos, I; Musgrave, A. (Eds.): Criticism and the Growth of Knowledge. London: Cambridge University Press, 91 -196. http: / / dx.doi.org/ 10.10 17/ CBO9781139171434.009 Mall, W. (2013): Rezension zu: Bober, Allmuth (2012). Wie wirkt die körperliche Stütze während der Gestützten Kommunikation? Analyse des Forschungsstands und Ableitung weiterführender Forschungsfragen. Saarbrücken: Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften. In: Heilpädagogische Forschung, 39 (3). Online unter: http: / / www.heilpaedagogischeforschung. de/ rezensionen-2013-3.htm, 15. 9. 2014 Nußbeck, S. (2000): Gestützte Kommunikation. Ein Ausdrucksmittel für Menschen mit geistiger Behinderung? Göttingen: Hogrefe Nußbeck, S. (2007): Sprache - Entwicklung, Störungen und Interventionen. Stuttgart: Kohlhammer Probst, P. (2005): „Communication unbound - or unfound? “ - Ein integratives Literatur-Review zur Wirksamkeit der „Gestützten Kommunikation“ („Facilitated Communication“) bei nichtsprechenden autistischen und intelligenzgeminderten Personen. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie 53, 93 -128. Online unter: http: / / www1.unihamburg.de/ Paul.Probst/ / probst-2005-com munication-unbound-E001303072.pdf., 15. 9. 2014 Probst, P. (2012 a): Bericht über die Einstellungen von Fachverbänden und Selbsthilfevereinigungen zur Gestützten Kommunikation: Ergebnisse einer schriftlichen Befragung. In: Heilpädagogische Forschung 38, 138 -144 Probst, P. (2012 b): Evaluative Studie zur Gestützten Kommunikation auf der Grundlage dreier Einzelfallanalysen an Personen mit Intelligenzminderung und Autismus-Spektrum-Störung. In: Heilpädagogische Forschung 38, 110 -128 Probst, P. (2012 c): Rezension zu: Sautter, H.; Schwarz, K.; Trost, R. (Hrsg.) (2012): Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störung. Neue Wege durch die Schule. Stuttgart: Kohlhammer. In: Heilpädagogische Forschung 38, 156 -159 Schlosser, R. W.; Balandin, S.; Hemsley, B.; Iacono, T.; Probst, P.; von Tetzchner, S. (in Druck): Facilitated Communication and authorship: A systematic review. In: Augmentative and Alternative Communication 30 Zöller, D. (2012): Gedanken zur Dissertation von Allmuth Bober. Homepage Dietmar Zöller. Online unter: http: / / dietmarzoeller.de.tl/ Gest.ue. tzte-Kommunikation-k1-FC-k2-.htm, 15. 9. 2014 Prof. em Dr. Paul Probst Universität Hamburg DOI 10.2378/ vhn2015.art09d
